Language of document : ECLI:EU:T:1999:297

BESCHLUSS DES GERICHTS (Fünfte Kammer)

24. November 1999 (1)

„Beamte - Klagefristen - Auswirkung eines Antrags auf Prozeßkostenhilfe - Unzulässigkeit“

In der Rechtssache T-109/98

A. V. M., Beamter der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, wohnhaft in Brüssel, Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Olivier Eben, Brüssel, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Jean Tonnar, 29, rue du Fossé, Esch/Alzette,

Kläger,

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater Julian Currall, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigten, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,

Beklagte,

wegen eines Antrags auf Aufhebung der Entscheidung der Kommission vom 10. Oktober 1997, mit der gegen den Kläger wegen Verletzung seiner Pflichten aus dem Statut die Disziplinarstrafe der Rückstufung von der Besoldungsgruppe D 1, Dienstaltersstufe 8, in die Besoldungsgruppe D 2, Dienstaltersstufe 8, verhängt wurde,

erläßt

DAS GERICHT ERSTER INSTANZ

DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten R. García-Valdecasas sowie der Richterin P. Lindh und des Richters J. D. Cooke,

Kanzler: H. Jung

folgenden

Beschluß

Sachverhalt

1.
    Am 1. Juni 1971 wurde der Kläger von der Kommission als Beamter der Laufbahngruppe D eingestellt.

2.
    Am 27. und 28. Mai 1994 entwendete der Kläger, wie sich aus den durchgeführten Ermittlungen ergab, zwei Computer der Kommission.

3.
    Der Generaldirektor für Personal und Verwaltung leitete als Anstellungsbehörde gegen den Kläger, nachdem er diesen gehört hatte, ein Disziplinarverfahren gemäß Artikel 87 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (im folgenden: Statut) ein. Zu diesem Zweck befaßte er den Disziplinarrat mit Schreiben vom 29. September 1994, dem der Bericht gemäß Artikel 1 Absatz 1 des Anhangs IX des Statuts beigefügt war, in dem die zur Last gelegten Handlungen und die Tatumstände angegeben waren.

4.
    Nachdem der Disziplinarrat den Kläger, vertreten durch seinen Rechtsanwalt und den Gewerkschaftsvertreter, sowie den Zeugen des Klägers, Dr. Mancini, gehörthatte, gab er am 31. Januar 1995 eine mit Gründen versehene Stellungnahme im Sinne des Artikels 7 des Anhangs IX des Statuts ab, in der er der Anstellungsbehörde einstimmig empfahl, gegen den Kläger die Disziplinarstrafe gemäß Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe e des Statuts, nämlich die Rückstufung von der Besoldungsgruppe D 1, Dienstaltersstufe 8, in die Besoldungsgruppe D 2, Dienstaltersstufe 8, zu verhängen.

5.
    Die Anstellungsbehörde hörte den Kläger am 8. März 1995 gemäß Artikel 7 Absatz 3 des Anhangs IX des Statuts. Dabei beantragte der Anwalt des Klägers, Rechtsanwalt Vogel, beim Generaldirektor für Personal und Verwaltung, das Disziplinarverfahren auszusetzen und nach einer Zeit der Überwachung sowohl auf administrativer als auch auf medizinischer Ebene eine Überprüfung der Situation vorzusehen.

6.
    In dieser Sitzung warnte der Generaldirektor für Personal und Verwaltung den Kläger vor jedem zukünftigen unkorrekten Verhalten und machte deutlich, daß er geneigt sei, ihm ein gewisses Vertrauen entgegenzubringen, da er sich bessern und die erforderliche ärztliche Untersuchung vornehmen lassen wolle. Er zeigte ihm daher seine Bereitschaft, das Disziplinarverfahren auszusetzen und die Situation nach einem Jahr zu überprüfen; dabei behielt er sich jedoch ausdrücklich die Möglichkeit vor, nach diesem Zeitraum gegen den Kläger trotz Ablaufs der Frist gemäß Artikel 7 Absatz 3 des Anhangs IX des Statuts eine Disziplinarstrafe zu verhängen, falls sein Verhalten in der Zwischenzeit als unzureichend betrachtet werde. In der Erkenntnis, daß dieses Vorgehen in seinem Interesse lag, erklärte sich der Kläger, unterstützt durch Rechtsanwalt Vogel, damit einverstanden.

7.
    Nach Beratung mit dem Vorgesetzten des Klägers und dem Ärztlichen Dienst teilte der Generaldirektor für Personal und Verwaltung dem Betroffenen mit Schreiben vom 4. Juni 1996 mit, daß er ihm eine Verlängerung der Aussetzung des Disziplinarverfahrens um neun Monate gewähre.

8.
    Auf Anregung der Anstellungsbehörde fand am 8. Juli 1997 eine erneute Anhörung des Betroffenen gemäß Artikel 7 Absatz 3 des Anhangs IX des Statuts statt.

9.
    Nachdem die Anstellungsbehörde festgestellt hatte, daß der Kläger die Voraussetzung, sich der erforderlichen medizinischen Kontrolle zu unterziehen, nicht erfüllt hatte, beschloß sie am 10. Oktober 1997, gegen ihn mit Wirkung vom 1. November 1997 die Disziplinarstrafe gemäß Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe e des Statuts, d. h. die Rückstufung von der Besoldungsgruppe D 1, Dienstaltersstufe 8, in die Besoldungsgruppe D 2, Dienstaltersstufe 8, zu verhängen.

10.
    Mit Schreiben vom 15. Oktober 1997 an die Anstellungsbehörde, das als „Beschwerde gemäß Artikel 90 des Statuts“ bezeichnet war, zog der Kläger die Entscheidung über die Verhängung der Disziplinarstrafe in mehrfacher Hinsicht in Zweifel und gab zusätzliche Erklärungen ab.

11.
    Der Anwalt des Klägers ergänzte diese Beschwerde mit Schriftsatz vom 26. November 1997 um die Gründe, aus denen er die Rechtmäßigkeit der verhängten Disziplinarstrafe in Frage stellte. Er sprach sich für die Aufhebung der Disziplinarstrafe und die Beendigung des betreffenden Disziplinarverfahrens aus und beantragte, keine andere Strafe gegen den Kläger zu verhängen. In einem zweiten Schriftsatz vom 9. Dezember 1997 an die Anstellungsbehörde machte der Anwalt des Klägers weitere Gründe in bezug auf die Fristen gemäß Anhang IX des Statuts und eine Verletzung des Arztgeheimnisses durch den Arzt des Ärztlichen Dienstes der Verwaltung geltend.

12.
    Die Anstellungsbehörde wies am 16. Februar 1998 die Beschwerde des Klägers vom 15. Oktober 1997 zurück. Diese Entscheidung wurde dem Kläger am 24. Februar 1998 mitgeteilt.

Verfahren und Anträge der Parteien

13.
    Der Kläger hat mit Schriftsatz, der am 17. April 1998 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, einen Antrag auf Prozeßkostenhilfe nach Artikel 94 der Verfahrensordnung gestellt, um gegen die Entscheidung der Kommission vom 10. Oktober 1997 klagen zu können, mit der gegen ihn die Disziplinarstrafe der Einstufung in eine niedrigere Besoldungsgruppe verhängt worden ist.

14.
    Der Präsident der Fünften Kammer des Gerichts hat diesen Antrag auf Prozeßkostenhilfe mit Beschluß vom 17. Juni 1998 zurückgewiesen, da der Kläger seine Bedürftigkeit nicht nachgewiesen habe.

15.
    Mit Klageschrift, die am 20. Juli 1998 in der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben.

16.
    Der Kläger beantragt,

-    die Entscheidung der Kommission aufzuheben, mit der gegen ihn die Disziplinarstrafe der Rückstufung von Besoldungsgruppe D 1, Dienstaltersstufe 8, in die Besoldungsgruppe D 2, Dienstaltersstufe 8, verhängt wurde, und ihn wieder in seine vorherige Besoldungsgruppe einzustufen;

-    anzuordnen, daß das gegen ihn eröffnete Verfahren eingestellt wird;

-    anzuordnen, daß keine weitere Disziplinarstrafe gegen ihn verhängt wird;

-    der Kommission die gesamten Verfahrenskosten aufzuerlegen.

17.
    Die Kommission beantragt,

-    die Klage als unbegründet abzuweisen,

-    über die Verfahrenskosten nach Rechtslage zu entscheiden.

Zulässigkeit

Vorbringen der Parteien

18.
    Der Kläger erklärt in seiner Klageschrift, die Klage sei dadurch, daß er die Frist für den Antrag auf Prozeßkostenhilfe beachtet habe, binnen drei Monaten nach Mitteilung der Entscheidung über die Zurückweisung der Beschwerde eingelegt worden.

19.
    Die Kommission, die angesichts der Einreichung des Antrags auf Prozeßkostenhilfe binnen drei Monaten nach der ausdrücklichen Zurückweisung der Beschwerde die Zulässigkeit der Klage nicht bestreitet, stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Rechtsprechung Lallemand-Zeller/Kommission (Beschluß des Gerichts vom 14. Januar 1993 in der Rechtssache T-92/92 AJ, Slg. 1993, II-31) habe und ob eine Aussetzung der Klagefrist nicht auf den Fall beschränkt werden müsse, daß der Kläger seinen Antrag selbst, ohne Hilfe eines Rechtsanwalts stelle, während im vorliegenden Fall der Anwalt des Klägers die Prozeßkostenhilfe beantragt habe.

Beurteilung durch das Gericht

20.
    Nach Artikel 113 der Verfahrensordnung kann das Gericht jederzeit von Amts wegen prüfen, ob unverzichtbare Prozeßvoraussetzungen fehlen, und hierüber gemäß Artikel 114 §§ 3 und 4 entscheiden. Im vorliegenden Fall hält das Gericht die in den Akten enthaltenen Angaben für ausreichend, und beschließt, daß die mündliche Verhandlung nicht eröffnet zu werden braucht.

21.
    Die in den Artikeln 90 und 91 des Statuts festgelegten Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Klage, insbesondere die hinsichtlich der Klagefrist, sind nach ständiger Rechtsprechung zwingendes Recht, und der Gemeinschaftsrichter kann sie daher von Amts wegen prüfen (Urteil des Gerichtshofes vom 23. Januar 1997 in der Rechtssache C-246/95, Coen, Slg. 1997, I-403, Randnr. 21, und Beschluß des Gerichts vom 16. Mai 1994 in der Rechtssache T-37/93, Stagakis/Parlament, Slg. ÖD 1994, II-451, Randnr. 17). Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob die dreimonatige Klagefrist nach Artikel 91 Absatz 3 des Statuts beachtet worden ist.

22.
    Diese Frist beginnt nach Artikel 91 Absatz 3 des Statuts am Tag der Mitteilung der auf die Beschwerde hin ergangenen Entscheidung, im vorliegenden Fall am 24. Februar 1998.

23.
    Nach Artikel 101 § 1 Buchstabe b der Verfahrensordnung des Gerichts endete die Klagefrist am 24. Mai 1998. Da sich der Wohnsitz des Klägers in Belgien befindet, wird die Verfahrensfrist nach Artikel 102 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichtsund Artikel 1 der Anlage II zur Verfahrensordnung des Gerichtshofes mit Rücksicht auf die Entfernung um zwei Tage verlängert.

24.
    Die Frist zur Erhebung der vorliegenden Klage lief daher am 26. Mai 1998 ab, sofern sie nicht, wie der Kläger vorträgt, durch die Einreichung des Antrags auf Prozeßkostenhilfe verlängert oder ausgesetzt worden ist.

25.
    Hierzu ist festzustellen, daß die Verfahrensordnung des Gerichts, insbesondere ihre Artikel 94 bis 97 über die Prozeßkostenhilfe, keine Bestimmung enthält, nach der sich die Einreichung eines Antrags auf Prozeßkostenhilfe in irgendeiner Weise auf die Berechnung oder den Ablauf einer Klagefrist auswirkt.

26.
    Da die strikte Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Verfahrensfristen dem Erfordernis der Rechtssicherheit und der Notwendigkeit entspricht, jede Diskriminierung oder willkürliche Behandlung bei der Rechtspflege zu vermeiden, kann von der Anwendung dieser Vorschriften nach Artikel 42 Absatz 2 der Satzung des Gerichtshofes nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen, bei Vorliegen eines Zufalls oder eines Falles höherer Gewalt, abgewichen werden (Urteile des Gerichtshofes vom 26. November 1985 in der Rechtssache 42/85, Cockerill-Sambre/Kommission, Slg. 1985, 3749, Randnr. 10, vom 4. Februar 1987 in der Rechtssache 276/85, Cladakis/Kommission, Slg. 1987, 495, Randnr. 11, und Beschluß des Gerichtshofes vom 7. Mai 1998 in der Rechtssache C-239/97, Irland/Kommission, Slg. 1998, I-2655, Randnr. 7).

27.
    Es kann daher nicht angehen, daß die Einreichung eines Antrags auf Prozeßkostenhilfe per se und unabhängig von den Umständen des Falles zu einer Verlängerung oder Aussetzung der Klagefrist führt.

28.
    Im vorliegenden Fall hat der Kläger nichts vorgetragen, um darzutun, daß er aufgrund außergewöhnlicher Umstände, die einen Zufall oder einen Fall höherer Gewalt darstellen können, daran gehindert war, die Klage innerhalb der statutarischen Frist zu erheben. Wie aus dem Beschluß vom 17. Juni 1998, mit dem der Antrag auf Prozeßkostenhilfe zurückgewiesen wurde, hervorgeht, hat der Kläger seine Bedürftigkeit nicht nachgewiesen und war, wie er in seinem Antrag auf Prozeßkostenhilfe selbst eingeräumt hat, tatsächlich in der Lage, während des vorprozessualen Verfahrens die Dienste eines Rechtsanwalts in Anspruch zu nehmen, der ihn auch in bezug auf den Antrag auf Prozeßkostenhilfe beraten hat. Es wäre dem Kläger möglich gewesen, eine Klage innerhalb der Klagefrist einzureichen.

29.
    Kein Argument kann insoweit aus dem Beschluß Lallemand-Zeller/Kommission hergeleitet werden, berücksichtigt man die Unterschiede zwischen dieser Rechtssache und dem vorliegenden Fall. In der Rechtssache, die zum Beschluß Lallemand-Zeller/Kommission geführt hat, ging es um einen begründeten Antrag auf Prozeßkostenhilfe, den ein bedürftiger Kläger ohne Hilfe eines Rechtsanwalts gestellt hatte.

30.
    Da die Klageschrift erst am 20. Juli 1998 bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht worden ist, obwohl die Klage spätestens am 26. Mai 1998 hätte erhoben werden müssen und können, ist die Klage verspätet.

31.
    Die Klage ist daher als unzulässig abzuweisen.

Kosten

32.
    Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Artikel 88 der Verfahrensordnung tragen jedoch in Streitsachen zwischen den Gemeinschaften und deren Bediensteten die Organe ihre Kosten selbst. Da der Kläger mit seinen Anträgen unterlegen ist, trägt jede Partei ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT (Fünfte Kammer)

beschlossen:

1.    Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.

2.    Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.

Luxemburg, den 24. November 1999

Der Kanzler

Der Präsident

H. Jung

R. García-Valdecasas


1: Verfahrenssprache: Französisch.