Language of document : ECLI:EU:C:2022:431

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 2. Juni 2022(1)

Rechtssache C72/22 PPU

MA,

Beteiligter:

Valstybės sienos apsaugos tarnyba

(Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas [Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Recht eines unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereisten Drittstaatsangehörigen, in diesem Staat internationalen Schutz zu beantragen – Voraussetzungen für den Zugang zu den Verfahren für die Gewährung dieses Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 – Möglichkeit, einen solchen Antragsteller in Haft zu nehmen, nur weil er die Staatsgrenze unrechtmäßig überschritten hat – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 8 Abs. 3 – Unvereinbarkeit – Art. 72 AEUV – Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit – Möglichkeit für einen Mitgliedstaat, bei einem massiven Zustrom von Migranten an seiner Grenze von den Richtlinien 2013/32 und 2013/33 abzuweichen“






I.      Einleitung

1.        Seit jeher besteht im Völkerrecht ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen dem Recht der Staaten, die Einreise von Ausländern in ihr Hoheitsgebiet und deren Aufenthalt dort souverän zu kontrollieren, und dem Recht jener Ausländer(2), die in ihrem Heimatland Verfolgung fürchten, Asyl zu beantragen(3). Das erstere erlaubt es den Staaten, das Überschreiten ihrer Grenzen streng zu kontrollieren – und bei illegaler Einreise rigorose Maßnahmen zu ergreifen –, während das letztere verlangt, insoweit Toleranz walten zu lassen.

2.        Dieses Spannungsverhältnis tritt besonders dann zutage, wenn an den Grenzen etwas geschieht, was gemeinhin als „massiver Zustrom“ von Drittstaatsangehörigen bezeichnet wird. Ein solches Phänomen, das in den letzten 20 Jahren in Europa im Gefolge von Kriegen und anderen Spannungen in verschiedenen Teilen der Welt immer häufiger zu beobachten ist, erschwert die Kontrolle der betreffenden Grenzen. In der Tat gibt es viele Drittstaatsangehörige, die versuchen, die Grenzen illegal zu überschreiten, und denen dies sogar gelingt. Diese unkontrollierten Grenzübertritte werden von den betroffenen Staaten häufig per se als Bedrohung für ihre innere Sicherheit wahrgenommen. Gleichzeitig müssen diese Drittstaatsangehörigen, wenn sie Asylbewerber sind, grundsätzlich in das Hoheitsgebiet dieser Staaten aufgenommen werden und dort bleiben dürfen, solange ihr Antrag geprüft wird.

3.        Lettland, Litauen und Polen sind seit Sommer 2021 an ihren jeweiligen gemeinsamen Grenzen mit Belarus – einem der Zugänge zum Schengen-Raum – einem solchen „massiven Zustrom“ ausgesetzt, und die Zahl illegaler Grenzübertritte hat drastisch zugenommen. Dieser „Zustrom“ findet zudem in einem besonderen geopolitischen Kontext statt. Er wurde nämlich, wie die politischen Institutionen der Europäischen Union festgestellt haben, von den belarussischen Behörden organisiert.

4.        Als Reaktion auf diese Umstände haben die betreffenden Mitgliedstaaten in dem Bestreben, ihre Grenzen zu sichern und damit die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit in ihrem Hoheitsgebiet zu gewährleisten, den Notstand ausgerufen. In diesem Rahmen haben sie Rechtsvorschriften eingeführt, die vom allgemeinen Recht, u. a. im Asylbereich, abweichen. Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen möchte das Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen) vom Gerichtshof wissen, ob einige dieser von der Republik Litauen angewandten Vorschriften mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

5.        Bei den Fragen dieses Gerichts geht es konkret darum, wie die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes(4) (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie) und der Richtlinie 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen(5) (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie), Drittstaatsangehörige behandeln können, die unrechtmäßig in ihr Hoheitsgebiet eingereist sind und dort internationalen Schutz suchen. Es soll im Wesentlichen geklärt werden, ob diese Richtlinien nationalen Vorschriften entgegenstehen, die im Kontext eines massiven Zustroms für Drittstaatsangehörige die Möglichkeit, Zugang zu den Verfahren für die Gewährung eines solchen Schutzes zu erhalten, erheblich einschränken und die Inhaftierung von Asylbewerbern allein deshalb erlauben, weil sie die nationale Grenze illegal überschritten haben.

6.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich darlegen, dass derartige Vorschriften tatsächlich weder mit der Verfahrens- noch mit der Aufnahmerichtlinie vereinbar sind. Ich werde es jedoch nicht dabei belassen, sondern erörtern, ob ein Mitgliedstaat in einer Situation, wie Litauen sie an seiner Grenze vorfindet, nach dem primären Unionsrecht unter Berufung auf die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit von diesen Richtlinien abweichen darf. Dazu werde ich ausführen, dass gewisse Ausnahmen zwar theoretisch möglich sind, die betreffenden nationalen Vorschriften jedoch das insoweit zulässige Maß überschreiten.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Genfer Konvention

7.        In Art. 31 („Flüchtlinge, die sich nicht rechtmäßig im Aufnahmeland aufhalten“) Abs. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge(6) (im Folgenden: Genfer Konvention) heißt es:

„Die vertragschließenden Staaten werden wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts keine Strafen gegen Flüchtlinge verhängen, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht waren und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der vertragschließenden Staaten einreisen oder sich dort aufhalten, vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen.“

B.      Unionsrecht

1.      Verfahrensrichtlinie

8.        Art. 6 („Zugang zum Verfahren“) der Verfahrensrichtlinie lautet:

„(1)      Stellt eine Person einen Antrag auf internationalen Schutz bei einer Behörde, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist, so erfolgt die Registrierung spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung.

Wird der Antrag auf internationalen Schutz bei anderen Behörden gestellt, bei denen derartige Anträge wahrscheinlich gestellt werden, die aber nach nationalem Recht nicht für die Registrierung zuständig sind, so gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Registrierung spätestens sechs Arbeitstage nach Antragstellung erfolgt.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass diese anderen Behörden, bei denen wahrscheinlich Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden, wie Polizei, Grenzschutz, Einwanderungsbehörden und Personal von Gewahrsamseinrichtungen, über die einschlägigen Informationen verfügen und ihr Personal das erforderliche, seinen Aufgaben und Zuständigkeiten entsprechende Schulungsniveau und Anweisungen erhält, um die Antragsteller darüber zu informieren, wo und wie Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden können.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, tatsächlich die Möglichkeit hat, diesen so bald wie möglich förmlich zu stellen. Stellt der Antragsteller keinen förmlichen Antrag, so können die Mitgliedstaaten Artikel 28 entsprechend anwenden.

(3)      Unbeschadet des Absatzes 2 können die Mitgliedstaaten verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und/oder an einem bestimmten Ort gestellt werden.

(4)      Ungeachtet des Absatzes 3 gilt ein Antrag auf internationalen Schutz als förmlich gestellt, sobald den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller vorgelegtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll, sofern nach nationalem Recht vorgesehen, zugegangen ist.

(5)      Beantragt eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, die Frist nach Absatz 1 einzuhalten, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass diese Frist auf 10 Arbeitstage verlängert wird.“

9.        Nach Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie stellen „[d]ie Mitgliedstaaten … sicher, dass jeder geschäftsfähige Erwachsene das Recht hat, im eigenen Namen einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen“.

10.      Art. 31 („Prüfungsverfahren“) Abs. 8 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können festlegen, dass das Prüfungsverfahren im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien nach Kapitel II beschleunigt und/oder an der Grenze oder in Transitzonen nach Maßgabe von Artikel 43 durchgeführt wird, wenn

h)      der Antragsteller unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats eingereist ist oder seinen Aufenthalt unrechtmäßig verlängert hat und es ohne stichhaltigen Grund versäumt hat, zum angesichts der Umstände seiner Einreise frühestmöglichen Zeitpunkt bei den Behörden vorstellig zu werden oder einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, oder

…“

11.      Art. 43 („Verfahren an der Grenze“) der Richtlinie lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können nach Maßgabe der Grundsätze und Garantien nach Kapitel II Verfahren festlegen, um an der Grenze oder in Transitzonen des Mitgliedstaats über Folgendes zu entscheiden:

a)      die Zulässigkeit eines an derartigen Orten gestellten Antrags gemäß Artikel 33 und/oder

b)      die Begründetheit eines Antrags in einem Verfahren nach Artikel 31 Absatz 8.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Entscheidung im Rahmen der Verfahren nach Absatz 1 innerhalb einer angemessenen Frist ergeht. Ist innerhalb von vier Wochen keine Entscheidung ergangen, so wird dem Antragsteller die Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats gestattet, damit sein Antrag nach Maßgabe der anderen Bestimmungen dieser Richtlinie bearbeitet werden kann.

(3)      Wenn es aufgrund der Ankunft einer erheblichen Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen an der Grenze oder in Transitzonen, die förmlich Anträge auf internationalen Schutz stellen, in der Praxis nicht möglich ist, die Bestimmungen des Absatzes 1 anzuwenden, können die genannten Verfahren auch in diesen Fällen und für die Zeit angewandt werden, in der die Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen normalerweise in der Nähe der Grenze oder Transitzone untergebracht werden.“

2.      Aufnahmerichtlinie

12.      In Art. 8 („Haft“) Abs. 2 und 3 der Aufnahmerichtlinie heißt es:

„(2)      In Fällen, in denen es erforderlich ist, dürfen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

(3)      Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,

c)      um im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet zu entscheiden;

e)      wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist;

…“

C.      Litauisches Recht

1.      Ausländergesetz

13.      Nach Art. 2 Abs. 20 des Lietuvos Respublikos įstatymas „Dėl užsieniečių teisinės padėties“ (Gesetz der Republik Litauen über den rechtlichen Status von Ausländern) (TAR, 2021, Nr. 2021-27706) in der Fassung des Gesetzes Nr. XIV-816 vom 23. Dezember 2021 (im Folgenden: Ausländergesetz) gilt als Asylbewerber ein Ausländer, der nach dem in diesem Gesetz vorgesehenen Verfahren einen Asylantrag gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden worden ist.

14.      In Kapitel X2 des Ausländergesetzes ist die Anwendung dieses Gesetzes bei Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands sowie bei Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern geregelt.

15.      Im Rahmen dieses Kapitels sieht Art. 14012 Abs. 1 des Ausländergesetzes vor, dass „[d]er Ausländer … einen Asylantrag 1. an Grenzkontrollstellen oder in Transitzonen beim [Valstybės sienos apsaugos tarnyba prie Lietuvos Respublikos vidaus reikalų ministerijos (Staatlicher Grenzschutzdienst beim Innenministerium der Republik Litauen) (im Folgenden: SGD)], 2. im litauischen Hoheitsgebiet im Fall seiner rechtmäßigen Einreise in die Republik Litauen bei der [Abteilung für Migration] sowie 3. in einem anderen Staat bei vom Außenminister bestimmten diplomatischen oder konsularischen Dienststellen der Republik Litauen stellen [kann]“. Gemäß Abs. 2 dieses Artikels ist „[e]in Asylantrag eines Ausländers, der nicht in Einklang mit dem in Abs. 1 des genannten Artikels vorgesehenen Verfahren gestellt wird, … unzulässig, wobei [dem Antragsteller] das Verfahren zur Beantragung von Asyl erläutert wird“. Diese Bestimmung sieht auch vor, dass der SGD den Asylantrag eines Ausländers, der die Staatsgrenze der Republik Litauen illegal überschritten hat, entgegennehmen kann, um dessen Schutzbedürftigkeit oder um anderen Umständen Rechnung zu tragen(7).

16.      Art. 14017 des Ausländergesetzes, der die Gründe für die Inhaftierung eines Asylbewerbers bei Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands sowie bei Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern regelt, sieht einleitend und in Abs. 2 vor, dass der Asylbewerber in Haft genommen werden darf, wenn er in das Hoheitsgebiet der Republik Litauen gelangt ist, indem er die litauische Staatsgrenze illegal überschritten hat.

2.      Beschreibung des Verfahrens

17.      Die Beschreibung des Verfahrens für die Gewährung und den Entzug von Asyl in der Republik Litauen, die mit Beschluss Nr. 1V-131 des Innenministers der Republik Litauen vom 24. Februar 2016 (in der Fassung des Beschlusses Nr. 1V-626 des Innenministers der Republik Litauen vom 27. Juli 2021) (im Folgenden: Beschreibung des Verfahrens) verabschiedet wurde, bestimmt in Abs. 22: „Ein Asylantrag gilt als gestellt, wenn der Ausländer ihn bei einer in Art. 67 Abs. 1 des Ausländergesetzes benannten Behörde oder Einrichtung … nach Maßgabe von Abs. 2 dieses Artikels eingereicht hat. Wird die Grenze der Republik Litauen illegal überschritten, muss der Asylantrag unverzüglich gestellt werden. Von der Einreichung des Asylantrags an genießt die Person, die den Antrag gestellt hat, die für Asylbewerber vorgesehenen Rechte und Garantien.“

18.      Gemäß Abs. 23 der Beschreibung des Verfahrens wird der Asylantrag, wenn er bei einer in Art. 67 Abs. 1 des Ausländergesetzes nicht benannten Behörde oder unter Missachtung der Vorgaben in Abs. 2 dieses Artikels oder in Abs. 22 der Beschreibung des Verfahrens gestellt wird, spätestens binnen zwei Werktagen ab dem Zeitpunkt der Feststellung, dass der bei der Behörde eingereichte Antrag ein Asylantrag ist, an den Ausländer zurückgeschickt, wobei dieser über das Verfahren zur Beantragung von Asyl informiert wird.

III. Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

19.      Aus dem Vorlagebeschluss und den Akten geht hervor, dass am 2. Juli 2021 in der Republik Litauen eine „landesweite Notlage im gesamten Staatsgebiet wegen eines massiven Zustroms von Ausländern“ ausgerufen wurde. Darauf folgte am 10. November 2021 die Verhängung eines „Ausnahmezustands“ in einem Teil des litauischen Staatsgebiets(8). Mit diesen Maßnahmen sollte auf einen plötzlichen und massiven Zustrom von Migranten an der Grenze zwischen Litauen und Belarus reagiert werden.

20.      In der Folgezeit gelangte MA, ein Drittstaatsangehöriger, von Belarus aus illegal nach Litauen. Am 17. November 2021 wurde er bei einer Kontrolle im polnischen Hoheitsgebiet zusammen mit 21 weiteren Drittstaatsangehörigen festgenommen, nachdem er das litauische Hoheitsgebiet in einem Kleinbus verlassen hatte. MA konnte den polnischen Grenzschutzbeamten nicht die für den Aufenthalt in Litauen oder ganz allgemein in der Europäischen Union erforderlichen Reisedokumente, Visa oder Bewilligungen vorweisen. Daraufhin wurde er inhaftiert.

21.      Am 19. November 2021 wurde MA Beamten des SGD übergeben. Diese Dienststelle nahm ihn für einen Zeitraum von längstens 48 Stunden in Haft und beantragte außerdem beim Alytaus apylinkės teismas (Bezirksgericht Alytus, Litauen), Alytus-Abteilung (im Folgenden: erstinstanzliches Gericht), seine Inhaftierung für mehr als 48 Stunden bis zur Klärung seiner Rechtsstellung, jedenfalls aber für einen Zeitraum von nicht mehr als sechs Monaten.

22.      Der SGD begründete diesen Antrag u. a. damit, dass ihm keine Informationen über die verschiedenen Grenzübertritte von MA vorlägen. MA sei illegal nach Litauen eingereist, halte sich dort unrechtmäßig und ohne Wohnsitz auf, weise keine familiären, sozialen, wirtschaftlichen oder sonstigen Verbindungen zu diesem Staat auf und verfüge dort auch über keine Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts. Deshalb bestehe Grund zu der Annahme, dass MA, wenn er nicht in Haft genommen würde, die Flucht ergreifen könnte, um sich einer möglichen Abschiebung zu entziehen.

23.      In der mündlichen Verhandlung vor dem erstinstanzlichen Gericht bekundete MA seinen Willen, internationalen Schutz in Anspruch zu nehmen. Daher betrachtete ihn dieses Gericht gemäß Art. 2 Abs. 184 und 20 des Ausländergesetzes und im Licht des Urteils Ministerio Fiscal (Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird)(9) als Asylbewerber. Gleichwohl hielt das Gericht es aus dem in Art. 113 Abs. 4 Nr. 2 des Ausländergesetzes genannten Grund(10) für geboten, ihn in Haft zu nehmen. Da MA insbesondere illegal nach Litauen eingereist sei und nach eigenem Bekunden beabsichtige, sich nach Deutschland zu begeben, bestehe Grund zu der Annahme, dass er, wenn er nicht in Haft genommen würde, die Flucht ergreifen würde, um sich der Rückführung in ein Drittland oder der Abschiebung aus Litauen zu entziehen.

24.      Daher verfügte das erstinstanzliche Gericht mit Beschluss vom 20. November 2021 die Inhaftierung von MA in einer SGD-Einrichtung bis zu einer Entscheidung über seine Rechtsstellung in Litauen, jedenfalls aber für maximal drei Monate, d. h. spätestens bis zum 18. Februar 2022.

25.      Hiergegen legte MA Rechtsmittel beim Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen) ein. Er war der Ansicht, das erstinstanzliche Gericht habe ihm gegenüber zu Unrecht die härteste Zwangsmaßnahme ergriffen, die über das Erforderliche hinausgehe. MA beantragte, stattdessen eine Alternative zur Haft anzuwenden, nämlich ihn zu verpflichten, sich regelmäßig beim SGD zu melden.

26.      Der SGD entgegnete, dass sich MA nach seiner Einreise von Belarus nach Litauen nicht an die nationalen Behörden gewandt, sondern seine Reise fortgesetzt und die polnische Grenze illegal überschritten habe. Hierzu habe MA erklärt, er habe eine andere Person dafür bezahlt, ihn durch Polen nach Deutschland zu bringen. MA habe bei seiner Anhörung durch den SGD die ihm gestellten Fragen von Anfang an nicht direkt, sondern nur ausweichend beantwortet. Ein solches Verhalten sei keine zweckdienliche Zusammenarbeit. MA werde, falls die von ihm beantragte alternative Maßnahme zur Haft ergriffen werden sollte, höchstwahrscheinlich flüchten, bevor über seine Rechtsstellung entschieden werden könne.

27.      In einer ersten mündlichen Verhandlung vor dem vorlegenden Gericht stellte MA erneut seinen Antrag auf internationalen Schutz und gab an, er habe bereits am 20. November 2021 einen solchen Antrag schriftlich bei einem nicht namentlich bekannten SGD-Beamten gestellt, wisse aber nicht, was mit diesem Antrag geschehen sei. Der SGD erklärte daraufhin, es gebe keine Daten über die Registrierung eines MA betreffenden Asylantrags, da ein solcher den litauischen Rechtsvorschriften entsprechender Antrag nicht gestellt worden sei. Im Übrigen beantragte der SGD, die zuständige Behörde, d. h. die Abteilung für Migration, anzuweisen, den Antrag von MA zur Prüfung anzunehmen.

28.      Am 24. Januar 2022 reichte MA beim SGD schriftlich einen Antrag auf internationalen Schutz ein, den der SGD an die Abteilung für Migration weiterleitete. Am 27. Januar 2022 schickte Letztere diesen Antrag mit der Begründung zurück, dass er unter Missachtung des Art. 14012 Abs. 1 des Ausländergesetzes und der Abs. 22 und 23 der Beschreibung des Verfahrens sowie verspätet eingereicht worden sei.

29.      Am 1. Februar 2022 beantragten der SGD und MA in einer weiteren mündlichen Verhandlung vor dem vorlegenden Gericht übereinstimmend, das Gericht möge der Abteilung für Migration aufgeben, den Antrag von MA auf internationalen Schutz zu prüfen.

30.      Unter diesen Umständen beschloss das Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen) zunächst, die Lage von MA vorübergehend zu verbessern und ihm gegenüber eine „andere Maßnahme als Haft“ zu ergreifen, nämlich die „Unterbringung in einer SGD-Einrichtung oder an einem anderen geeigneten Ort mit Beschränkung seiner Bewegungsfreiheit auf den Bereich des Unterbringungsortes“, die bis zum 18. Februar 2022 gelten sollte. In Anbetracht dessen, dass MA „offensichtlich internationalen Schutz beantragt“ habe, wies das Gericht sodann die Abteilung für Migration an, MA bis zum Erlass einer endgültigen Entscheidung im Ausgangsverfahren weder in ein Drittland rückzuführen noch aus Litauen abzuschieben. Schließlich beschloss das Gericht, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 7 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes(11) dahin auszulegen, dass er nationalen Regelungen wie den im vorliegenden Fall anwendbaren entgegensteht, nach denen im Fall der Verhängung des Kriegsrechts, eines Ausnahmezustands oder auch der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern einem Ausländer, der illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist und sich dort illegal aufhält, grundsätzlich nicht gestattet wird, internationalen Schutz zu beantragen?

2.      Falls Frage 1 bejaht wird: Ist Art. 8 Abs. 2 und 3 der Aufnahmerichtlinie dahin auszulegen, dass er nationalen Regelungen entgegensteht, nach denen im Fall der Verhängung des Kriegsrechts, eines Ausnahmezustands oder auch der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern ein Asylbewerber in Haft genommen werden kann, nur weil er in das Hoheitsgebiet der Republik Litauen eingereist ist, indem er die litauische Staatsgrenze illegal überschritten hat?

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

31.      Das Vorabentscheidungsersuchen vom 2. Februar 2022 ist am 4. Februar 2022 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

32.      Das vorlegende Gericht hat weiter beantragt, dieses Ersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

33.      Diesen Antrag hat es damit begründet, dass MA vom 17. November 2021 bis zum 2. Februar 2022 inhaftiert gewesen sei und dass vom 2. bis zum 18. Februar 2022 eine Maßnahme der „Unterbringung in einer SGD-Einrichtung oder an einem anderen geeigneten Ort mit Beschränkung seiner Bewegungsfreiheit auf den Bereich des Unterbringungsortes“ auf ihn Anwendung gefunden habe(12).

34.      Am 21. Februar 2022 hat die Erste Kammer des Gerichtshofs beschlossen, das vorlegende Gericht um Auskunft über die Situation von MA nach dem 18. Februar 2022 zu ersuchen. In seiner Antwort hat das Gericht klargestellt, dass MA seit dem 11. Februar 2022 bis zu einer Entscheidung über seine Rechtsstellung in Litauen, jedenfalls aber für längstens drei Monate, d. h. spätestens bis zum 11. Mai 2022, erneut in einer SGD-Einrichtung untergebracht sei, die er nicht ohne Erlaubnis verlassen dürfe.

35.      In Anbetracht dieser Antwort hat die Erste Kammer des Gerichtshofs am 3. März 2022 entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

36.      MA, die litauische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht. Die litauische Regierung und die Kommission haben auch an der mündlichen Verhandlung vom 7. April 2022 teilgenommen.

V.      Rechtliche Würdigung

37.      Das vorlegende Gericht hat im Ausgangsverfahren darüber zu entscheiden, ob die Inhaftierung des MA, eines aus Belarus illegal nach Litauen eingereisten Drittstaatsangehörigen(13), rechtmäßig und begründet war.

38.      Bei der Entscheidung über die besagte Maßnahme muss dieses Gericht in einem ersten Schritt feststellen, ob der betreffende Staatsangehörige in den Anwendungsbereich der für Personen, die internationalen Schutz beantragen, geltenden Regeln fällt, einschließlich der in der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie harmonisierten Garantien, die diesen Personen zu gewähren sind, wenn sie in Haft bzw. in Gewahrsam genommen werden.

39.      In diesem Zusammenhang fragt es sich, ob eine Bestimmung des litauischen Rechts, nämlich Art. 14012 des Ausländergesetzes, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Diese Bestimmung weist, wie eingangs erwähnt, die Besonderheit auf, dass sie nur bei Verhängung des „Kriegsrechts“ oder eines „Ausnahmezustands“ oder bei Ausrufung einer „landesweiten Notlage im gesamten Staatsgebiet wegen eines massiven Zustroms von Ausländern“ Anwendung findet; in diesen Situationen wird das allgemeine Recht in unterschiedlichem Maß vorübergehend ausgesetzt oder eingeschränkt, damit der litauische Staat die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit angesichts der betreffenden „außergewöhnlichen Umstände“ schützen kann. Im vorliegenden Fall waren in Litauen während des maßgeblichen Zeitraums als Reaktion auf den „massiven Zustrom“ von Migranten an der litauisch-belarussischen Grenze sowohl der „Ausnahmezustand“ als auch die betreffende „Notlage“ verhängt bzw. ausgerufen worden.

40.      Art. 14012 des Ausländergesetzes trat daher an die Stelle der allgemeinen Vorschriften über die Voraussetzungen für den Zugang von Drittstaatsangehörigen zu den Verfahren für die Gewährung internationalen Schutzes in Litauen, wobei diese Voraussetzungen verschärft wurden. Im Gegensatz zu dem, was nach litauischem Recht in „normalen“ Zeiten möglich ist, sieht dieser Artikel nämlich im Wesentlichen vor, dass ein Drittstaatsangehöriger nach einer unbefugten Einreise grundsätzlich keinen gültigen Antrag auf internationalen Schutz im litauischen Hoheitsgebiet stellen kann – obwohl im vorliegenden Fall MA wiederholt seinen Willen bekundet hat, einen solchen Schutz zu erhalten.

41.      Das vorlegende Gericht bezweifelt, dass dies mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Mit seiner ersten Frage ersucht es den Gerichtshof deshalb um Klärung, ob die Verfahrensrichtlinie(14) einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die solche Folgen zeitigt.

42.      Sollte dies der Fall sein und ein Drittstaatsangehöriger wie MA aufgrund des von ihm geäußerten Anspruchs auf internationalen Schutz unter die für Asylbewerber geltenden Vorschriften fallen, dann muss das vorlegende Gericht in einem zweiten Schritt die gegen ihn verhängte Inhaftnahme anhand der in der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie vorgesehenen Garantien überprüfen.

43.      In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine zweite Bestimmung des Ausländergesetzes, nämlich Art. 14017 Abs. 2, mit diesen Richtlinien vereinbar ist. Diese Bestimmung kommt in Litauen ebenfalls wegen der bereits erwähnten Verhängung des „Ausnahmezustands“ und Ausrufung einer „Notlage“ zur Anwendung. Diese Bestimmung ergänzt somit die gewöhnlichen Vorschriften über die Inhaftierung von Personen, die internationalen Schutz beantragen(15), und verschärft ebenfalls die Behandlung jener Antragsteller, die illegal in das litauische Hoheitsgebiet eingereist sind.

44.      Während nämlich ein Drittstaatsangehöriger, der in Litauen Asyl beantragt hat, in „normalen“ Zeiten nicht allein deshalb in Haft genommen werden darf, weil er die Grenze dieses Staates illegal überschritten hat, ist dies in „außergewöhnlichen“ Zeiten nach Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes zulässig.

45.      Das vorlegende Gericht hat auch hier Zweifel, ob dies mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Daher ersucht es den Gerichtshof mit seiner zweiten Frage um Klärung, ob die Aufnahmerichtlinie einer solchen nationalen Bestimmung entgegensteht.

46.      Um möglichst „pädagogisch“ vorzugehen, werde ich meine Analyse in zwei Teile gliedern. Zum einen werde ich darlegen, warum Bestimmungen wie Art. 14012 und Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes mit der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie unvereinbar sind, ungeachtet dessen, dass diese Bestimmungen nur unter „außergewöhnlichen Umständen“ und als Reaktion hierauf gelten (Abschnitte B und C). Zum anderen werde ich prüfen, ob und gegebenenfalls inwieweit ein Mitgliedstaat nach dem Primärrecht der Union von diesen Richtlinien abweichen darf, um beim Auftreten solcher Umstände die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit zu gewährleisten (Abschnitt D). Zuvor werde ich mich aber mit der Zulässigkeit der Vorlagefragen befassen (Abschnitt A).

A.      Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen

47.      Die litauische Regierung hat zwar nicht formell die Unzulässigkeit der Fragen geltend gemacht, jedoch zwei Argumente in diesem Sinne vorgebracht.

48.      Sie hat erstens angedeutet, die zweite Frage sei für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von Anfang an irrelevant gewesen, da das erstinstanzliche Gericht die Inhaftierung von MA nicht gemäß Art. 14017 Abs. 2, sondern gemäß Art. 113 Abs. 4 Nr. 2 des Ausländergesetzes wegen der von ihm ausgehenden Fluchtgefahr angeordnet habe(16).

49.      Mir scheint hingegen die zweite Frage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits sehr wohl relevant zu sein. Das vorlegende Gericht hat nämlich erklärt, dass es sowohl über die Rechtmäßigkeit als auch über die Begründetheit der ursprünglichen Entscheidung, MA in Haft zu nehmen, zu befinden hat. Es muss also nicht nur prüfen, ob diese Entscheidung über eine Rechtsgrundlage verfügte, sondern auch, ob sie zweckmäßig war. Der Umstand, dass das erstinstanzliche Gericht auf die von MA ausgehende Fluchtgefahr abgestellt hat, dürfte das vorlegende Gericht vor diesem Hintergrund nicht daran hindern, andere rechtliche Gründe in Betracht zu ziehen, die diese Entscheidung rechtfertigen könnten. Das vorlegende Gericht hat übrigens betont, dass eine Antwort auf diese Frage es ihm ermöglichen werde, „klar und eindeutig über … den genauen Grund für die Inhaftierung [von MA] oder die Anordnung einer anderen Maßnahme als Haft zu entscheiden“.

50.      Zweitens haben sich nach Ansicht der litauischen Regierung die Vorlagefragen jedenfalls erledigt. In Bezug auf die erste Frage hat die Regierung in der mündlichen Verhandlung erklärt, die Abteilung für Migration habe am 18. März 2022 den Antrag von MA auf internationalen Schutz registriert und prüfe derzeit, ob er begründet sei. In Bezug auf die zweite Frage hat die Regierung darauf hingewiesen, dass MA derzeit nicht mehr inhaftiert sei, da die am 20. November 2021 vom erstinstanzlichen Gericht angeordnete Haft am 2. Februar 2022 durch eine – bis zum 11. Mai 2022 verlängerte – „andere Maßnahme als Haft“ ersetzt worden sei(17).

51.      Meines Erachtens bedarf es nach wie vor einer Antwort auf die Vorlagefragen.

52.      Nach meinem Verständnis des Vorlagebeschlusses wird das nationale Gericht bei der Entscheidung über die ursprünglich gegen MA verhängte Inhaftnahme u. a. auf den Zeitpunkt abstellen müssen, zu dem diese Maßnahme angeordnet wurde. Folglich hätte sich zum einen, selbst wenn der Antrag von MA auf internationalen Schutz letztlich am 18. März 2022 registriert worden sein sollte – was das vorlegende Gericht übrigens nicht bestätigt hat –, der Ausgangsrechtsstreit nicht in der Hauptsache erledigt, und die erste Frage wäre für seine Entscheidung weiterhin relevant. Es bliebe nämlich zu klären, ob man bei MA ab dem 20. November 2021, als die streitige Maßnahme angeordnet wurde und er auch erstmals seinen Anspruch auf internationalen Schutz bekundete, davon hätte ausgehen müssen, dass er unter die für Asylbewerber geltenden Vorschriften, einschließlich derjenigen über die Inhaftierung, fiel(18).

53.      Zum anderen macht aus demselben Grund der Umstand, dass die ursprünglich gegenüber MA angeordnete Haft später durch eine „andere Maßnahme als Haft“ ersetzt wurde, die zweite Frage nicht hinfällig. Die spätere Aufhebung der ersten Maßnahme hat auch nicht dazu geführt, dass die bereits eingetretenen Wirkungen dieser Maßnahme weggefallen wären. MA war zumindest vom 20. November 2021 bis zum 2. Februar 2022 seiner Freiheit beraubt. Er hat daher weiterhin ein Interesse daran, dass die etwaige Rechtswidrigkeit dieser Maßnahme gerichtlich festgestellt wird. Eine solche Feststellung könnte ihm als Grundlage für eine künftige Schadensersatzklage dienen(19).

B.      Zum Zugang zu einem Verfahren für die Gewährung internationalen Schutzes nach der Verfahrensrichtlinie (erster Teil der ersten Frage)

54.      Wie bereits ausgeführt, sieht Art. 14012 des Ausländergesetzes „außergewöhnliche“ Modalitäten für die Einreichung von Anträgen auf internationalen Schutz in Litauen vor, die als Reaktion auf den zuvor erwähnten „massiven Zustrom“ eingeführt wurden. Ich halte es in diesem Stadium meiner Prüfung für angebracht, deren Funktionsweise und Konsequenzen näher zu erläutern.

55.      Nach dieser Bestimmung kann ein Drittstaatsangehöriger einen solchen Antrag nur 1. an Grenzkontrollstellen oder in Transitzonen beim SGD oder 2. im litauischen Hoheitsgebiet im Fall seiner rechtmäßigen Einreise in dieses Gebiet bei der Abteilung für Migration oder 3. im Ausland bei diplomatischen oder konsularischen Vertretungen dieses Staates stellen.

56.      Ein derartiger Antrag gilt nach litauischem Recht nur dann als ordnungsgemäß gestellt, wenn er nach den Modalitäten dieser Bestimmung eingereicht wurde(20). In diesem Fall gilt der betreffende Drittstaatsangehörige als Asylbewerber – gemäß der Definition in Art. 2 Abs. 20 des Ausländergesetzes(21) – und kommt in den Genuss der mit diesem Status verbundenen Rechte und Garantien(22).

57.      Umgekehrt wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen, der diese Modalitäten missachtet, nach Art. 14012 Abs. 2 des Ausländergesetzes – von einem Ausnahmefall abgesehen(23) – nicht zur Prüfung angenommen und an den Betroffenen zurückgeschickt(24).

58.      Folglich können Drittstaatsangehörige, die die Voraussetzungen für die Einreise in den Schengen-Raum nicht erfüllen, nur aus dem Ausland oder an der litauischen Grenze wirksam Asyl in Litauen beantragen. Sie können dies, abgesehen von einem Ausnahmefall, nicht innerhalb des litauischen Hoheitsgebiets tun, wenn sie zuvor illegal in das Land eingereist sind. Versuchen sie es, wird ihr Antrag in der Regel von den nationalen Behörden nicht berücksichtigt, weshalb sie nicht als Asylbewerber behandelt werden.

59.      Im vorliegenden Fall hat MA nach seiner illegalen Einreise anscheinend viermal versucht, internationalen Schutz im litauischen Hoheitsgebiet zu beantragen(25). Mindestens einer seiner schriftlichen Anträge wurde an die zuständige litauische Behörde, die Abteilung für Migration, weitergeleitet, die es ablehnte, ihn zu prüfen, da er nicht im Einklang mit Art. 14012 Abs. 1 des Ausländergesetzes eingereicht worden sei(26). Dem vorlegenden Gericht zufolge dürfte MA daher gemäß Art. 2 Abs. 20 dieses Gesetzes nicht als Asylbewerber behandelt werden(27).

60.      Ich bin ebenso wie MA und die Kommission der Ansicht, dass solche Modalitäten des Zugangs zum Verfahren für die Gewährung internationalen Schutzes und die sich daraus ergebenden Konsequenzen mit der Verfahrensrichtlinie unvereinbar sind.

61.      In diesem Zusammenhang ist als Erstes zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs jeder Drittstaatsangehörige oder Staatenlose(28) gemäß Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie das Recht hat, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Hierbei handelt es sich um eine Konkretisierung des in Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantierten Asylrechts(29).

62.      Nach dieser Rechtsprechung kann ein Drittstaatsangehöriger aufgrund der genannten Bestimmungen sein Recht, Asyl zu beantragen, nicht nur an den Grenzen oder in den Transitzonen eines Mitgliedstaats, sondern auch in dessen Hoheitsgebiet ausüben, selbst wenn er sich dort illegal aufhält(30). Das Gleiche gilt entsprechend, wenn er illegal in dieses Hoheitsgebiet eingereist ist.

63.      Ein Blick auf andere Bestimmungen der Verfahrensrichtlinie bestätigt diese Auslegung. Zum einen gehört die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats unrechtmäßig eingereist ist oder seinen Aufenthalt dort unrechtmäßig verlängert hat, nicht zu den in Art. 33 Abs. 2 dieser Richtlinie abschließend aufgeführten Gründen für die Unzulässigkeit eines Asylantrags. Zum anderen erlaubt Art. 31 Abs. 8 Buchst. h der Richtlinie, wie ich später genauer ausführen werde(31), den nationalen Behörden in bestimmten Fällen(32), einen unter diesen Umständen gestellten Antrag beschleunigt und nach einem besonderen Verfahren zu prüfen – was zwangsläufig bedeutet, dass sie ihn zuvor zur Prüfung entgegennehmen müssen.

64.      Als Zweites erinnere ich daran, dass die Mitgliedstaaten, damit Drittstaatsangehörige das ihnen garantierte Recht, Asyl zu beantragen, wahrnehmen können, ihnen einen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zu einem Verfahren für die Gewährung dieses Schutzes in ihrem Hoheitsgebiet bieten müssen.

65.      Hierbei wird in Art. 6 Abs. 1 bis 4 der Verfahrensrichtlinie zwischen der „Stellung“ eines Asylantrags durch einen Drittstaatsangehörigen einerseits und der „förmlichen Stellung“ dieses Antrags andererseits unterschieden. Der Unionsgesetzgeber wollte damit zwei Stadien klar voneinander trennen, nämlich zunächst die formlose Bekundung des Willens eines Drittstaatsangehörigen, internationalen Schutz in Anspruch zu nehmen, und anschließend die förmliche Einreichung eines entsprechenden Antrags.

66.      Was das erste Stadium betrifft, so geht aus Abs. 1 dieses Artikels hervor, dass ein Drittstaatsangehöriger einen Antrag auf internationalen Schutz „stellt“, wenn er seinen dahin gehenden Anspruch bei der „Behörde, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist“, oder bei „anderen Behörden“, mit denen er auf seiner Reise in Kontakt kommen kann, wie z. B. „Polizei, Grenzschutz, Einwanderungsbehörden und Personal von Gewahrsamseinrichtungen“, in irgendeiner Weise bekundet(33).

67.      Ich betone, dass entsprechend den Erläuterungen in Nr. 62 der vorliegenden Schlussanträge ein Drittstaatsangehöriger, der wie MA illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist oder sich dort illegal aufhält, sehr wohl einen Antrag auf internationalen Schutz „stellen“ kann, auch wenn er sich – gegebenenfalls im Rahmen eines Abschiebungsverfahrens aufgrund der Rückführungsrichtlinie – in Haft bzw. Gewahrsam befindet(34). Wie bereits in der vorhergehenden Nummer erwähnt, gehört nach der einschlägigen Bestimmung gerade das „Personal von Gewahrsamseinrichtungen“ zu den „anderen Behörden“, bei denen ein Drittstaatsangehöriger seinen Willen, einen solchen Schutz zu erhalten, wirksam bekunden kann. Außerdem hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass ein Drittstaatsangehöriger einen Asylantrag bei dem mit der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit seiner Haft befassten Gericht „stellen“ kann, das ebenfalls als eine solche „andere Behörde“ anzusehen ist(35).

68.      Hat also ein Drittstaatsangehöriger wie MA seinen Anspruch auf internationalen Schutz bei „Behörden“ wie dem SGD und dem erstinstanzlichen Gericht bekundet, können diese nicht beschließen, diese Tatsache mit der Begründung zu ignorieren, dass die im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten für die Einreichung – d. h. wie erinnerlich die förmliche Stellung – eines Asylantrags nicht eingehalten worden seien. Sie müssen daraus stattdessen bestimmte Konsequenzen ziehen.

69.      Zunächst muss dieser Drittstaatsangehörige, sobald er seinen Antrag „gestellt“ hat, von den nationalen Behörden als „Antragsteller“ im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Verfahrensrichtlinie und Art. 2 Buchst. b der Aufnahmerichtlinie behandelt werden(36) und die mit diesem Status verbundenen Rechte und Garantien, wie sie in diesen Richtlinien vorgesehen sind, in Anspruch nehmen können(37). Er darf vor allem, selbst wenn er das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats unrechtmäßig betreten oder seinen Aufenthalt dort unrechtmäßig verlängert haben sollte, bis zur erstinstanzlichen Entscheidung über diesen Antrag nicht oder nicht mehr als in diesem Hoheitsgebiet illegal aufhältig betrachtet werden und somit nicht unter die für illegale Migranten geltenden Regeln, einschließlich der Rückführungsrichtlinie, fallen. Denn nach Art. 9 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie darf er während dieses Zeitraums in diesem Staat verbleiben(38). Im Übrigen muss seine Inhaft- bzw. Ingewahrsamnahme – oder gegebenenfalls die Fortdauer seiner Haft bzw. seines Gewahrsams – im Einklang mit den einschlägigen Vorschriften der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie stehen.

70.      Die betreffenden Behörden dürfen daher diesen Status nicht, wie es vorliegend Art. 2 Abs. 20 des Ausländergesetzes vorzusehen scheint, formalistisch behandeln und die damit verbundenen Rechte und Garantien auf Personen beschränken, die einen Antrag gemäß den Modalitäten des nationalen Rechts gestellt haben – andernfalls verlören diese Rechte und Garantien einen wesentlichen Teil ihrer praktischen Wirksamkeit.

71.      Sodann müssen die nationalen Behörden den betreffenden Drittstaatsangehörigen innerhalb einer kurzen Frist, wie sie in Art. 6 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie  festgelegt ist(39), als „Antragsteller“ in den einschlägigen Datenbanken registrieren(40), um sicherzustellen, dass er tatsächlich in den Genuss der in der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie vorgesehenen Garantien und Rechte kommt.

72.      Schließlich muss der Drittstaatsangehörige gemäß Art. 6 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie konkret die Möglichkeit haben, seinen Antrag, wie in Nr. 65 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, so bald wie möglich „förmlich zu stellen“.

73.      Was das zweite Stadium betrifft, das den Abschluss der Phase des Zugangs zum Verfahren für die Gewährung internationalen Schutzes und den Beginn der Phase der eigentlichen Prüfung des Antrags bedeutet(41), so geht aus Art. 6 Abs. 4 der Verfahrensrichtlinie hervor, dass der betreffende Drittstaatsangehörige grundsätzlich ein hierfür vorgesehenes Formular ausfüllen muss. Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten nach Abs. 3 dieses Artikels verlangen, dass dieses Formular persönlich und/oder an einem bestimmten Ort vorgelegt wird.

74.      Wie die litauische Regierung argumentiert, konnte die Republik Litauen also grundsätzlich in ihrem nationalen Recht eine Bestimmung wie Art. 14012 Abs. 1 des Ausländergesetzes vorsehen, wonach Drittstaatsangehörige ihre Asylanträge an bestimmten Orten und bei dafür vorgesehenen Behörden einreichen müssen.

75.      Die Mitgliedstaaten dürfen jedoch die ihnen in Art. 6 Abs. 3 der Verfahrensrichtlinie eingeräumte Möglichkeit nicht dergestalt ausüben, dass die Drittstaatsangehörigen oder auch nur einige von ihnen in der Praxis daran gehindert werden, ihren Antrag „so bald wie möglich“ förmlich zu stellen – geschweige denn, dass sie ganz davon abgehalten werden, dies zu tun. Andernfalls würde das mit dieser Richtlinie verfolgte Ziel, einen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zum Verfahren für die Gewährung dieses Schutzes zu gewährleisten, in Frage gestellt und die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Beantragung von Asyl, das jedem Drittstaatsangehörigen nach Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie zusteht, gravierend beeinträchtigt(42).

76.      Wie MA und die Kommission aber geltend machen, scheint Art. 14012 Abs. 1 des Ausländergesetzes in dieser Hinsicht problematisch zu sein. Nach der Auslegung dieser Bestimmung durch das vorlegende Gericht hat nämlich ein Drittstaatsangehöriger wie MA, der illegal in das litauische Hoheitsgebiet eingereist ist und sich dort in Haft befindet, keine konkrete Möglichkeit, seinen Antrag gemäß den Modalitäten dieser Bestimmung förmlich zu stellen: Zum einen darf er dies grundsätzlich nicht innerhalb des litauischen Hoheitsgebiets tun; zum anderen darf er sich zu diesem Zweck auch nicht an die litauische Grenze, in eine Transitzone oder zu einer Botschaft oder einem Konsulat dieses Staates im Ausland begeben.

77.      In diesem Zusammenhang weise ich zusätzlich zu dem, was ich bereits unter Nr. 75 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, darauf hin, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, durch ihre Inhaft- bzw. Ingewahrsamnahme, sofern sie im Einklang mit der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie erfolgt, gemäß Art. 6 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie nicht daran gehindert werden darf, ihren Antrag zu stellen und somit ihr Recht, Asyl zu beantragen, auszuüben(43). Die Verfahrensrichtlinie sieht vielmehr verschiedene Garantien vor, die den Zugang zum Verfahren für die Gewährung dieses Schutzes in Gewahrsamseinrichtungen erleichtern sollen(44).  Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, müssen die von den Mitgliedstaaten gemäß Abs. 3 dieses Artikels für die förmliche Einreichung von Anträgen festgelegten Modalitäten einem Antragsteller in einer solchen Situation daher die Möglichkeit geben, dies zu tun.

78.      Entgegen dem Vorbringen der litauischen Regierung reicht hierfür nicht aus, dass der SGD gemäß Art. 14012 Abs. 2 des Ausländergesetzes nach seinem Ermessen den Antrag eines illegal in das Hoheitsgebiet Litauens eingereisten Drittstaatsangehörigen auf internationalen Schutz, auch wenn dieser in einer seiner Einrichtungen inhaftiert ist, ausnahmsweise wegen dessen Schutzbedürftigkeit oder wegen anderer persönlicher Umstände entgegennehmen kann. Denn nach Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie müssen alle Drittstaatsangehörigen, die sich in einer derartigen Lage befinden – und nicht nur einige von ihnen –, die Möglichkeit haben, einen solchen Schutz zu beantragen und zu diesem Zweck ihren Antrag so bald wie möglich förmlich zu stellen(45).

79.      Zuletzt möchte ich klarstellen, dass die Verfahrensrichtlinie es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, von den gerade erläuterten Pflichten abzuweichen, wenn er es, wie die Republik Litauen, an seinen Grenzen mit einem „massiven Zustrom“ von Drittstaatsangehörigen zu tun hat.

80.      Diese Richtlinie gestattet es den nationalen Behörden zwar, unter solchen Umständen insbesondere die Fristen für die Registrierung(46) und die Prüfung von Asylanträgen zu verlängern(47); sie berechtigt diese Behörden jedoch nicht dazu, bestimmten Drittstaatsangehörigen de iure oder de facto den effektiven Zugang zum Verfahren für die Gewährung dieses Schutzes zu verwehren.

81.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf den ersten Teil der ersten Frage zu antworten, dass eine nationale Regelung, die Drittstaatsangehörigen, sofern sie unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats eingereist sind, abgesehen von Ausnahmefällen den Zugang zum Verfahren für die Gewährung internationalen Schutzes im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verwehrt, mit Art. 6 Abs. 1 und 2 sowie mit Art. 7 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie unvereinbar ist.

C.      Zu den in der Aufnahmerichtlinie vorgesehenen Gründen für die Inhaftnahme von Asylbewerbern (erster Teil der zweiten Frage)

82.      Aus der vorstehenden Analyse ergibt sich, dass ein Drittstaatsangehöriger wie MA ab dem Zeitpunkt, zu dem er einen Asylantrag bei einer Behörde wie dem SGD oder dem erstinstanzlichen Gericht „gestellt“ hat, bis zur endgültigen Entscheidung über diesen Antrag als „Antragsteller“ im Sinne der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie zu betrachten ist. Dies bedeutet u. a., dass er nur gemäß den in diesen Richtlinien festgelegten Regeln in Haft bzw. Gewahrsam genommen oder belassen werden darf.

83.      Es ist nunmehr der erste Teil der zweiten Frage zu prüfen und festzustellen, ob eine nationale Bestimmung wie Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes, wonach ein Asylbewerber allein deshalb in Haft genommen werden darf, weil er die Staatsgrenze illegal überschritten hat, mit den genannten Richtlinien vereinbar ist (Abschnitt 2). Zuvor bedarf es jedoch meines Erachtens einer Klarstellung zum Begriff der „Haft“ (Abschnitt 1).

1.      Zum Begriff der „Haft“

84.      Nach meinem Verständnis hat das vorlegende Gericht seine zweite Frage nur gestellt, um die Rechtmäßigkeit und Begründetheit der vom erstinstanzlichen Gericht mit Beschluss vom 20. November 2021 verfügten Inhaftierung von MA zu beurteilen.

85.      Dazu hat MA vor dem Gerichtshof geltend gemacht, die seit dem 2. Februar 2022 gegen ihn verhängte Ersatzmaßnahme, nämlich die „Unterbringung in einer SGD-Einrichtung … mit Beschränkung seiner Bewegungsfreiheit auf den Bereich des Unterbringungsortes“, sei, obwohl sie nach litauischem Recht als Alternative zur Haft gelte(48), in Wirklichkeit eine faktische Inhaftierung.

86.      Ist dies tatsächlich der Fall, wird diese zweite Maßnahme meines Erachtens ebenfalls anhand der Gewahrsams- bzw. Haftregeln in der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie zu prüfen sein. Der Anwendungsbereich dieser Regeln hängt nämlich nicht davon ab, wie eine bestimmte Maßnahme im nationalen Recht eingestuft wird, sondern davon, ob sie der autonomen Definition von „Haft“ in Art. 2 Buchst. h der Aufnahmerichtlinie entspricht.

87.      Im Hinblick auf diese Definition hat der Gerichtshof entschieden, dass eine solche „Haft“ jede Zwangsmaßnahme darstellt, mit der dem Antragsteller seine „Bewegungsfreiheit entzogen wird und mit der [er] vom Rest der Bevölkerung isoliert wird, indem [er] dazu gezwungen wird, sich ständig in einem eingegrenzten, geschlossenen Bereich aufzuhalten“(49). In unserem Fall wird es Sache des vorlegenden Gerichts sein, zu prüfen, ob die Maßnahme der „Unterbringung in einer SGD-Einrichtung“ diesen Kriterien entspricht.

88.      Ich halte es gleichwohl für sinnvoll, dem vorlegenden Gericht einige Hinweise zu geben, die ihm hierbei von Nutzen sein könnten. Aus seinen Angaben scheint im Wesentlichen hervorzugehen, dass der Bereich, in dem sich der Betroffene dauerhaft aufhalten muss, auf das Gelände der Einrichtung beschränkt ist, das er nicht ohne Genehmigung verlassen darf – was die litauische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof auch bestätigt hat. Dieser Bereich erscheint daher „eingegrenzt und geschlossen“. MA scheint auch „vom Rest der Bevölkerung isoliert“ zu sein und nur sehr begrenzt Kontakt zur Außenwelt aufnehmen zu können. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht dürfte die fragliche Maßnahme MA daher seine Bewegungsfreiheit nehmen und folglich ein „Gewahrsam“ bzw. eine „Haft“ im Sinne der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie darstellen(50).

2.      Zur Rechtmäßigkeit der fraglichen Inhaftierung(en)

89.      Nach dieser Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass die Verfahrens- und die Aufnahmerichtlinie die Möglichkeit der nationalen Behörden regeln, einen Asylbewerber in Gewahrsam bzw. Haft zu nehmen. Hierzu geht aus Art. 26 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie hervor, dass die Gründe für eine solche Maßnahme sich insbesondere nach Art. 8 der Aufnahmerichtlinie bestimmen.

90.      Art. 8 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie besagt, dass die Inhaftierung von Asylbewerbern nicht die Regel sein darf, sondern die Ausnahme sein muss. Denn gemäß dieser Bestimmung darf ein Antragsteller nur in Haft genommen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung erweist, dass dies notwendig ist, und sofern sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen. Außerdem sind in Art. 8 Abs. 3 die verschiedenen Gründe, aus denen eine solche Maßnahme gerechtfertigt sein kann, erschöpfend aufgezählt(51).

91.      Der in Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes vorgesehene Haftgrund, d. h. ein illegaler Grenzübertritt, ist aber als solcher in Art. 8 Abs. 3 der Aufnahmerichtlinie schlichtweg nicht aufgeführt. Entgegen dem Vorbringen der litauischen Regierung stimmt dieser Grund auch nicht inhaltlich mit einem der in dieser Bestimmung aufgezählten Gründe überein.

92.      Dazu hat die litauische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen im Kern vorgetragen, der in Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes vorgesehene Grund stimme mit dem in Art. 8 Abs. 3 Buchst. e der Aufnahmerichtlinie genannten Grund überein. Nach diesem Buchstaben darf eine Person, die internationalen Schutz beantragt, in Haft genommen werden, „wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist“. Die Möglichkeit, einen Antragsteller in Haft zu nehmen, wenn er die Staatsgrenze illegal überschritten hat, entspreche aber, so die Regierung, den Erfordernissen der nationalen Sicherheit. Dies sei nämlich eine der Maßnahmen, die die Republik Litauen ergriffen habe, um ihre Grenze zu Belarus zu schützen und insbesondere den illegalen Grenzübertritt von Migranten im Kontext des „massiven Zustroms“, dem Litauen derzeit ausgesetzt sei, einzudämmen und so die innere Sicherheit in seinem Staatsgebiet sowie im gesamten Schengen-Raum zu gewährleisten.

93.      Nach meiner Meinung kann der Umstand, dass eine Person Teil eines Migrationsstroms ist, den ein Mitgliedstaat zur Gewährleistung der inneren Sicherheit – in einem umfassenden „polizeilichen“ Sinne – seines Hoheitsgebiets(52) einzudämmen versucht, es nicht rechtfertigen, sie aus dem in Art. 8 Abs. 3 Buchst. e der Aufnahmerichtlinie genannten Grund in Haft zu nehmen.

94.      Denn nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine Beeinträchtigung der „nationalen Sicherheit“ oder der „öffentlichen Ordnung“ im Sinne dieser Bestimmung nur dann die Anordnung der Inhaftierung eines Antragstellers aus diesem Grund erforderlich machen, wenn „sein individuelles Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder die innere … Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats berührt“ – etwa weil er ein gefährlicher Straftäter ist. In einem solchen Fall vermag die Inhaftnahme des Antragstellers „die Öffentlichkeit vor der Gefahr, die [sein] Verhalten … darstellen kann, zu schützen“(53).

95.      Die Inhaftnahme nach Art. 8 Abs. 3 Buchst. e erfordert daher eine Beurteilung der Gefährlichkeit der betreffenden Person, wobei auch andere Faktoren als der mögliche illegale Grenzübertritt zu berücksichtigen sind – denn eine solche Rechtsverletzung kann für sich allein keine Gefahr, wie ich sie in der vorstehenden Nummer beschrieben habe, darstellen(54). In diesem Rahmen dürfen die nationalen Behörden nicht einmal vermuten, dass jede illegal in das Staatsgebiet eingereiste Person gefährlich sei(55). Vielmehr müssen sie, bevor sie eine solche Maßnahme gegen einen Antragsteller ergreifen, über übereinstimmende, objektive und eindeutige Indizien verfügen, die diese Gefährlichkeit belegen(56).

96.      Im Übrigen hat die litauische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof eingeräumt, dass Art. 8 Abs. 3 Buchst. e der Aufnahmerichtlinie nur den soeben beschriebenen Sonderfall erfasst und dass Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes tatsächlich das nach jener Bestimmung(57) – oder der Aufnahmerichtlinie im Allgemeinen – zulässige Maß überschreitet. Dabei hat sie aber versucht, diese Überschreitung damit zu rechtfertigen, dass eine allein auf diesen Fall beschränkte Möglichkeit der Inhaftierung nicht ausreiche, um auf den „massiven Zustrom“ wirksam zu reagieren, mit dem sie konfrontiert sei. In Abschnitt D der vorliegenden Schlussanträge werde ich auf diesen Aspekt eingehen.

3.      Zwischenergebnis

97.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf den ersten Teil der zweiten Frage zu antworten, dass eine nationale Regelung, wonach eine Person, die internationalen Schutz beantragt, allein deshalb in Haft genommen werden kann, weil sie die Grenze des betreffenden Mitgliedstaats illegal überschritten hat, mit Art. 8 Abs. 3 der Aufnahmerichtlinie unvereinbar ist.

D.      Zur Möglichkeit, von der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie abzuweichen (zweiter Teil der beiden Fragen)

98.      In den vorstehenden Abschnitten habe ich dargelegt, aus welchen Gründen Bestimmungen wie Art. 14012 und Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes meines Erachtens nicht mit der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie vereinbar sind. Es bleibt somit der zweite Teil der Vorlagefragen zu prüfen, bei dem es darum geht, ob ein Mitgliedstaat berechtigt sein sollte, von diesen Richtlinien durch die Einführung derartiger Bestimmungen abzuweichen, um die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit angesichts „außergewöhnlicher Umstände“, wie sie im Ausgangsverfahren gegeben sind, zu schützen.

99.      Zunächst werde ich den Hintergrund der vorliegenden Rechtssache erläutern (Abschnitt 1), bevor ich auf die Bestimmungen des AEU-Vertrags eingehe, die einen Mitgliedstaat theoretisch dazu berechtigen können, aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit eine Ausnahme vom Unionsrecht zu machen (Abschnitt 2), und anschließend die Voraussetzungen für eine solche Ausnahmemöglichkeit aufzeige (Abschnitt 3).

1.      Zu den in Rede stehenden „außergewöhnlichen Umständen“

100. Wie ich schon in der Einleitung zu diesen Schlussanträgen erwähnt habe, steht den Staaten im Rahmen der Völkerrechtsordnung das „unveräußerliche Recht“ zu, die Einreise von Ausländern in ihr Hoheitsgebiet und deren Aufenthalt dort souverän zu kontrollieren(58). Mitgliedstaaten, deren Grenzen zum Teil mit den Außengrenzen des Schengen-Raums zusammenfallen, wie z. B. Litauen, sind nach dem Unionsrecht hierzu sogar verpflichtet. Diese Staaten haben nach dem Schengener Grenzkodex die betreffenden Grenzen zu „schützen“. Sie müssen diese kontrollieren und überwachen(59) sowie weitere Maßnahmen gegen unbefugte Grenzübertritte ergreifen(60).

101. Laut sechstem Erwägungsgrund des Schengener Grenzkodexes liegt die Kontrolle an den Außengrenzen dieses Raums im Interesse sämtlicher Mitgliedstaaten, die die Kontrolle an ihren Binnengrenzen abgeschafft haben. Sie trägt u. a. zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung sowie zur Vorbeugung jeglicher Bedrohung der inneren Sicherheit und der öffentlichen Ordnung in diesem Raum bei.

102. Daraus folgt meines Erachtens, dass der Schutz der Außengrenzen der Union durch die betroffenen Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Wahrung der inneren Sicherheit nicht nur in ihrem Hoheitsgebiet, sondern auch im Schengen-Raum insgesamt fällt.

103. Aus dieser Perspektive stellt, wie die litauische Regierung vor dem Gerichtshof geltend gemacht hat, der „massive Zustrom“ von Migranten, dem Litauen an seiner Grenze zu Belarus ausgesetzt ist, unbestreitbar eine kritische Situation dar. Dieser „Zustrom“ hat zu einem drastischen Anstieg der Fälle unbefugten Überschreitens der litauischen Grenze geführt(61). Der geopolitische Kontext dieser Situation darf ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden. Die EU-Organe, einschließlich des Europäischen Parlaments, des Europäischen Rates und der Kommission(62), haben in der Tat festgestellt, dass dieser „massive Zustrom“ von der belarussischen Regierung organisiert worden sei. Diese habe Drittstaatsangehörige aus ihren Herkunftsländern eingeflogen und sie dann bis zu den Außengrenzen der Mitgliedstaaten getrieben. Die verschiedenen EU-Organe bezeichneten dieses Vorgehen als „Instrumentalisierung von Migranten für politische Zwecke“, d. h. eine Form des „hybriden Angriffs“, der darauf abziele, die unmittelbar betroffenen Mitgliedstaaten sowie die Union insgesamt zu destabilisieren.

104. Es steht mir nicht zu, diese politischen Einschätzungen zu revidieren. Ich möchte lediglich bemerken, dass Litauen zu Recht davon ausgehen durfte, einer „außergewöhnlichen“ Bedrohung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit in seinem Hoheitsgebiet sowie im gesamten Schengen-Raum ausgesetzt zu sein.

105. Die litauischen Behörden durften es daher für notwendig erachten, den Schutz der EU-Außengrenzen durch außergewöhnliche und vorübergehende Maßnahmen zu verstärken, um diese „massiven“ Migrationsströme einzudämmen(63).

106. Die Einschätzung dieser Behörden hinsichtlich der Notwendigkeit solcher außergewöhnlichen und zeitlich begrenzten Maßnahmen scheint im Übrigen von den EU-Organen geteilt zu werden. So hat die Kommission am 1. Dezember 2021 auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates über vorläufige Sofortmaßnahmen zugunsten Lettlands, Litauens und Polens(64) vorgelegt; darin hielt sie es für „notwendig“, Maßnahmen – auf die ich später noch zurückkommen werde – zu ergreifen, um der „realen Bedrohung … für die Sicherheit der Union“ zu begegnen, die der „hybride Angriff“ insbesondere auf Litauen darstelle(65). Darüber hinaus hat die Kommission am 14. Dezember 2021 einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bewältigung von Situationen der Instrumentalisierung im Bereich Migration und Asyl(66) vorgelegt, mit dem die meisten der in dem vorhergehenden Vorschlag enthaltenen Maßnahmen institutionalisiert werden sollen(67). Diese legislativen Vorhaben wurden allerdings noch nicht realisiert.

2.      Zu den Bestimmungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit eine Ausnahme vom Unionsrecht zulassen

107. Ergreift ein Mitgliedstaat außergewöhnliche und zeitlich begrenzte Maßnahmen mit dem legitimen Ziel, die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit angesichts „außergewöhnlicher Umstände“ zu gewährleisten, sind diese Maßnahmen gleichwohl nicht jeder rechtlichen Regelung entzogen. Hindern solche Maßnahmen die reguläre Anwendung des Unionsrechts, sind sie mit dem Unionsrecht nur vereinbar, sofern dieses eine derartige Abweichung zulässt(68).

108. Insoweit sieht der AEU-Vertrag in seinen Art. 36, 45, 52, 65, 72, 346 und 347 ausdrückliche Abweichungen für Situationen vor, in denen die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit, auch unter „außergewöhnlichen Umständen“, gefährdet werden könnte.

109. Erstaunlicherweise hat sich die litauische Regierung im vorliegenden Fall auf keinen dieser Artikel berufen, um ihren Standpunkt zu begründen. Angesichts ihres inhaltlichen Vorbringens und der Erörterungen vor dem Gerichtshof sind meines Erachtens jedoch zwei Ausnahmeregelungen zu prüfen.

110. Als Erstes werde ich kurz auf Art. 347 AEUV eingehen, der Maßnahmen betrifft, die ein Mitgliedstaat insbesondere bei einer „schwerwiegenden innerstaatlichen Störung der öffentlichen Ordnung“ und im „Kriegsfall [oder] bei einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung“ ergreifen könnte.

111. Der Gerichtshof hat sich bislang noch nicht zu den Anwendungsvoraussetzungen dieser „Schutzklausel“ geäußert. Er hat nur klargestellt, dass sich diese Ausnahmeregelung auf einen „ganz besonderen Ausnahmefall“ bezieht(69). Verschiedene Generalanwälte sind aber näher auf deren Grenzen eingegangen.

112. Aus ihren Analysen geht hervor, dass Art. 347, der am Ende des AEU-Vertrags steht, theoretisch eine Abweichung von diesem Vertrag und den auf seiner Grundlage erlassenen Regelungen insgesamt erlaubt(70). Wie die litauische Regierung in der mündlichen Verhandlung – ohne jedoch, wie gesagt, ausdrücklich auf diesen Artikel zu verweisen – vorgetragen hat, könnte ein Mitgliedstaat in den dort aufgeführten Fällen also theoretisch auf dieser Basis bis zu einem gewissen Grad von der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie abweichen(71).

113. Davon abgesehen, sind in unserem Fall die in Art. 347 AEUV genannten ganz außergewöhnlichen Umstände nicht gegeben. Ohne den Ernst der Situation, mit der Litauen an seiner Grenze konfrontiert ist, herunterspielen zu wollen, führt eine solche Situation meiner Ansicht nach insbesondere nicht zu der in diesem Artikel erwähnten „schwerwiegenden innerstaatlichen Störung der öffentlichen Ordnung“. Dass dieser Mitgliedstaat in einem Teil seines Hoheitsgebiets den Notstand ausgerufen hat, ist dabei an sich nicht entscheidend – andernfalls hinge die Anwendung dieses Artikels jeweils von den im nationalen Recht der einzelnen Mitgliedstaaten für die Einführung einer solchen Regelung vorgesehenen Bedingungen ab. Da jede Ausnahme eng auszulegen ist(72) und Art. 347 AEUV eine „innerstaatliche Störung“ mit Krieg gleichsetzt, müssen die betreffenden Umstände meines Erachtens einen ähnlichen Schweregrad aufweisen, d. h. an einen Kollaps der inneren Sicherheit grenzende echte Krisensituationen betreffen, in denen der Staat sogar in seiner Existenz bedroht wäre(73).

114. Als Zweites wende ich mich Art. 72 AEUV zu, der von größerer Bedeutung zu sein scheint. Nach diesem Artikel berühren die Bestimmungen im Dritten Teil, Titel V („Der Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts“) des AEU-Vertrags „nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“. Im vorliegenden Fall werden die Verfahrens- und die Aufnahmerichtlinie vom Anwendungsbereich dieses Artikels erfasst, da sie aufgrund von Art. 78 AEUV, der sich in diesem Titel V findet, erlassen wurden.

115. Der Gerichtshof hat sich diesmal in mehreren Urteilen zu Art. 72 AEUV geäußert. Er hat den Grundsatz aufgestellt, dass dieser Artikel eine Ausnahme vorsieht, die es einem Mitgliedstaat ermöglichen kann, unter bestimmten Umständen von seinen Verpflichtungen aus diesen Richtlinien abzuweichen – wobei er die von den Mitgliedstaaten hierfür angeführten Rechtfertigungsgründe bislang regelmäßig zurückgewiesen hat, da diese Staaten die entsprechenden Voraussetzungen nicht erfüllt hatten. Mit diesen Voraussetzungen werde ich mich im nächsten Abschnitt befassen.

3.      Zu den Voraussetzungen, die die Mitgliedstaaten erfüllen müssen, damit eine solche Ausnahme mit Art. 72 AEUV vereinbar ist

116. Da Art. 72 AEUV wie jede Ausnahmeregelung eng auszulegen ist, hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass er die Mitgliedstaaten nicht ermächtigt, durch bloße Berufung auf ihre Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit von den Bestimmungen des Unionsrechts abzuweichen(74). Sie müssen vielmehr bestimmte Voraussetzungen erfüllen.

117. Zunächst obliegt dem Gerichtshof zufolge dem Mitgliedstaat, der sich auf Art. 72 AEUV beruft, der Nachweis, dass eine Inanspruchnahme der in diesem Artikel geregelten Ausnahme erforderlich ist, um die fraglichen Zuständigkeiten wahrzunehmen(75).

118. Sodann wird dieses Gebot der Erforderlichkeit aus meiner Sicht durch ein Erfordernis der Verhältnismäßigkeit stricto sensu ergänzt. Denn die streitigen nationalen Maßnahmen können meines Erachtens, selbst wenn sie notwendig sein sollten, nicht nach Art. 72 AEUV gerechtfertigt werden, wenn die durch sie bedingten Nachteile in keinem angemessenen Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen(76). Dabei sind insbesondere die Auswirkungen der genannten Maßnahmen auf die Grundrechte, wie sie namentlich in der Charta vorgesehen sind, zu berücksichtigen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat(77).

119. Schließlich werden diese materiell-rechtlichen Voraussetzungen nach meinem Dafürhalten durch eine verfahrensrechtliche Voraussetzung vervollständigt. Im Hinblick auf den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit darf ein Mitgliedstaat nicht einseitig außergewöhnliche und vorübergehende Ausnahmeregelungen ergreifen, ohne sich zuvor gebührend mit den EU-Organen und den anderen Mitgliedstaaten ins Benehmen gesetzt und nach einer gemeinsamen Lösung des Problems gesucht zu haben(78). Wenn und sobald die Union auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV selbst solche gemeinsamen Maßnahmen ergreift, schließt dies meines Erachtens jede Möglichkeit einer Ausnahmeregelung aufgrund von Art. 72 AEUV aus.

120. Im vorliegenden Fall scheint mir die Republik Litauen diese verfahrensrechtliche Voraussetzung erfüllt zu haben(79); auch sind solche gemeinsamen Maßnahmen bisher nicht ergriffen worden. Hingegen erfüllen Bestimmungen wie Art. 14012 und Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes nach meiner Ansicht keine der beiden vorerwähnten materiell-rechtlichen Voraussetzungen, wie ich in den folgenden Abschnitten erläutern werde.

a)      Zum Gebot der Erforderlichkeit

121. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Mitgliedstaat von einem Unionsrechtsakt abweichen muss, um seine Zuständigkeiten im Bereich der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit in einem bestimmten Fall wahrnehmen zu können, stellt der Gerichtshof nicht nur auf die fraglichen „außergewöhnlichen Umstände“ ab, sondern prüft auch, ob der Unionsgesetzgeber in dem betreffenden Rechtsakt Mechanismen vorgesehen hat, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, wirksam auf diese Umstände zu reagieren(80).

122. Um diesem Gebot der Erforderlichkeit zu genügen, muss der Mitgliedstaat, der sich auf Art. 72 AEUV beruft, somit nachweisen, dass der betreffende Rechtsakt es ihm in Anbetracht seines Inhalts selbst oder der konkreten Bedingungen für seine Durchführung nicht ermöglicht, im Hinblick auf die in Rede stehenden Umstände die fraglichen Zuständigkeiten auszuüben(81).

123. Im vorliegenden Fall macht die litauische Regierung im Kern geltend, angesichts eines „massiven Zustroms“, wie er Gegenstand des Ausgangsverfahrens sei, wäre es ihr bei einer strikten Beachtung der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie unmöglich gewesen, ihre Zuständigkeiten im Bereich der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit im Rahmen der Kontrolle der EU-Außengrenzen wirksam auszuüben. Im Wesentlichen lässt ihre Argumentation an das eingangs dieser Schlussanträge erwähnte Spannungsverhältnis denken: Einerseits müssen die Mitgliedstaaten, die diese Grenzen aufweisen, normalerweise den Grenzübertritt von Drittstaatsangehörigen, die die Einreisevoraussetzungen des Schengener Grenzkodexes nicht erfüllen, verhindern(82); andererseits haben diese Drittstaatsangehörigen, wenn sie internationalen Schutz beantragen, das Recht, für die Dauer der Prüfung ihres Antrags im Hoheitsgebiet dieser Staaten zu verbleiben – und müssen daher unabhängig von diesen Voraussetzungen in dieses Gebiet aufgenommen werden, wenn sie nicht bereits, gegebenenfalls illegal, eingereist sind(83).

124. Dies würde laut litauischer Regierung bei einem massiven Zustrom zu zahlreichen Missbräuchen führen, da nur wenige Migranten echte Flüchtlinge seien, viele andere aber Asylanträge stellten, deren offensichtliche Unbegründetheit ihnen bekannt sei, nur um zeitweise von den mit dem „Asylbewerber“-Status verbundenen Garantien zu profitieren oder einfach nur, um in den Schengen-Raum zu gelangen bzw., wenn sie sich dort bereits illegal aufhielten, um ihre Abschiebung hinauszuzögern.

125. Ich weise jedoch darauf hin, dass die Verfahrensrichtlinie mit ihrem Art. 43 eine Bestimmung enthält, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen soll, die Kontrolle der EU-Außengrenzen zu gewährleisten und zugleich das Recht von Drittstaatsangehörigen auf Beantragung von Asyl zu achten.

126. Nach Art. 43 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie können die Mitgliedstaaten an ihren Grenzen oder in ihren Transitzonen besondere Verfahren vorsehen, um über die Zulässigkeit dort gestellter Asylanträge gemäß Art. 33 dieser Richtlinie und sogar über die Begründetheit eines Antrags in den in Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie genannten Fällen zu entscheiden – wobei Letztere im Wesentlichen verschiedene Szenarien betreffen, bei denen das Verhalten oder die Angaben des Antragstellers darauf hindeuten, dass sein Antrag offensichtlich unbegründet ist oder missbräuchlich gestellt wurde. Nach Art. 43 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie müssen diese besonderen Verfahren allerdings innerhalb einer angemessenen Frist durchgeführt werden; ist innerhalb von vier Wochen keine Entscheidung ergangen, hat der Mitgliedstaat den betreffenden Antragstellern die Einreise in sein Hoheitsgebiet zu gestatten, wobei ihr Antrag anschließend nach dem regulären Verfahren bearbeitet werden muss.

127. Im Rahmen dieser Verfahren können die Mitgliedstaaten zunächst an der Grenze oder in einer Transitzone eine „erste Sichtung“ der Anträge auf internationalen Schutz vornehmen, bevor sie den betreffenden Drittstaatsangehörigen die Einreise in ihr Hoheitsgebiet gestatten. Dies erlaubt es ihnen, den von der litauischen Regierung erwähnten Personen, die offensichtlich unbegründete und missbräuchliche Anträge stellen, die Einreise zu verweigern.

128. Sodann sind die Mitgliedstaaten gemäß Art. 8 Abs. 3 Buchst. c der Aufnahmerichtlinie auch befugt, die betreffenden Antragsteller für die Dauer dieser besonderen Verfahren an der Grenze oder in einer Transitzone in Haft zu nehmen, wenn eine solche Maßnahme nach Abs. 2 dieses Artikels erforderlich ist. Dies ist meines Erachtens der Fall, wenn die nationalen Behörden hinreichende Gründe für die Annahme haben, dass ein Antragsteller, wenn er auf freiem Fuß bliebe, die betreffende Grenze unerlaubt überschreiten oder dies versuchen würde.

129. Was schließlich Drittstaatsangehörige betrifft, die bereits unrechtmäßig die Staatsgrenze überschritten haben und im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einen Asylantrag stellen, so erlaubt Art. 31 Abs. 8 Buchst. h der Verfahrensrichtlinie den Mitgliedstaaten in den in dieser Bestimmung genannten Fällen(84) zur Bekämpfung eines möglichen Missbrauchs, den Antrag beschleunigt und in einem Verfahren an der Grenze zu prüfen, wie es in Art. 43 der Richtlinie vorgesehen ist. In diesen Fällen können die nationalen Behörden, wie es scheint, die fraglichen Personen für die Zwecke dieses Verfahrens an die Grenze zurückbringen. Gegebenenfalls könnte die Tatsache, dass sie erstmals unrechtmäßig eingereist sind, nach meiner Ansicht als Beleg dafür dienen, dass sie für die Dauer dieses Verfahrens auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 Buchst. c der Aufnahmerichtlinie inhaftiert werden müssen.

130. Aus meiner Sicht lässt sich daher nicht sagen, dass der Inhalt der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie es den Mitgliedstaaten an sich nicht erlauben würde, an den EU-Außengrenzen ihre Zuständigkeiten in Bezug auf die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit wahrzunehmen.

131. Im Hinblick auf die konkreten Bedingungen für die Durchführung dieser Rechtsakte räume ich ein, dass es bei einem – nach Art und Umfang offenbar besonders – massiven Zustrom wie im vorliegenden Fall für die Behörden eines Mitgliedstaats schwierig ist, im Rahmen der besonderen Verfahren an der Grenze eine „erste Sichtung“ der von sehr vielen Drittstaatsangehörigen gleichzeitig gestellten Asylanträge innerhalb der in Art. 43 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie vorgesehenen Frist von vier Wochen vorzunehmen. Zwar erlaubt Abs. 3 dieses Artikels unter solchen Umständen, diese Verfahren über diese Frist hinaus fortzusetzen; dies bedeutet jedoch, dass alle betreffenden Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet eingelassen werden – ganz gleich, ob sie in guter Absicht kommen oder das System missbrauchen(85). Im Übrigen deutet sogar die Kommission in ihrem Vorschlag für einen Ratsbeschluss an, dass die Verfahrensrichtlinie für solche Umstände nicht vollständig geeignet ist.

132. Ich könnte also akzeptieren, dass ein Mitgliedstaat bis zur Annahme dieses Vorschlags gemäß Art. 72 AEUV von einigen Bestimmungen in Art. 43 der Verfahrensrichtlinie abweichen muss. Meiner Ansicht nach könnte ein Mitgliedstaat, wie in dem genannten Vorschlag angeregt, die Verfahren an der Grenze ausweiten, indem er vorsieht, dass alle Asylanträge von Drittstaatsangehörigen, die in der Nähe der fraglichen Grenze aufgegriffen oder aufgefunden wurden, nachdem sie unrechtmäßig eingereist sind oder sich an den Grenzübergangsstellen gemeldet haben, im Rahmen dieser Verfahren geprüft werden(86), und hierbei in angemessenem Umfang von der in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehenen vierwöchigen Frist abweichen, um den nationalen Behörden ausreichend Zeit für diese „erste Sichtung“ der Asylanträge zu lassen(87).

133. Dagegen halte ich es nicht für erforderlich, dass ein Mitgliedstaat durch die Anwendung nationaler Bestimmungen wie Art. 14012 und Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes von den Art. 6 und 7 der Verfahrensrichtlinie und von Art. 8 der Aufnahmerichtlinie abweicht, um seine Zuständigkeiten für die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit bei einem „massiven Zustrom“ von Migranten an seiner Grenze wirksam wahrzunehmen – und zwar unabhängig von Art und Umfang dieses Zustroms. Wie soeben dargelegt, kann mit Hilfe der in Art. 43 der Verfahrensrichtlinie vorgesehenen besonderen Verfahren zur Prüfung von Asylanträgen an der Grenze und aufgrund der Möglichkeit, bestimmte Asylbewerber in diesem Rahmen gemäß Art. 8 Abs. 3 Buchst. c der Aufnahmerichtlinie zu inhaftieren, eine solche Situation, gegebenenfalls mit einigen Anpassungen, bewältigt werden.

b)      Zur Beachtung der Grundrechte

134. Bei der Prüfung der Vereinbarkeit einer außergewöhnlichen und vorübergehenden Ausnahmeregelung mit dem Unionsrecht dürfen die Grundrechte der betroffenen Personen nicht außer Acht gelassen werden. Obwohl diese Rechte unter „außergewöhnlichen Umständen“ zum Schutz der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit theoretisch stärker eingeschränkt werden können, ist festzustellen, dass erstens immer ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Grundrechten und diesen Schutzgeboten bestehen muss, dass zweitens einige Einschränkungen so gravierend sind, dass sie in einer demokratischen Gesellschaft niemals hingenommen werden können, und dass drittens einige Rechte unter keinen Umständen irgendeine Einschränkung zulassen.

135. Hierbei ist meiner Meinung nach nicht nur die Charta, sondern auch die EMRK zu berücksichtigen, die ein Mindest-Schutzniveau festlegt, das von der Union nicht unterschritten werden darf. Gleiches gilt für die Genfer Konvention. Auch wenn die Union nicht zu den Unterzeichnern dieser Konvention gehört, erlegen ihr Art. 78 Abs. 1 AEUV und Art. 18 der Charta die Einhaltung ihrer Regeln auf. Folglich hat der Gerichtshof im Rahmen seiner Auslegung des Art. 72 AEUV und der nach dieser Bestimmung möglicherweise gerechtfertigten Ausnahmen vom Unionsrecht sicherzustellen, dass diese Auslegung das durch diese Konvention garantierte Schutzniveau wahrt(88).

1)      Zu der Regelung, wonach ein Drittstaatsangehöriger nicht zum Verfahren auf Gewährung internationalen Schutzes zugelassen wird

136. Als Erstes ist eine Bestimmung wie Art. 14012 des Ausländergesetzes, die einen Drittstaatsangehörigen, wenn er illegal in das litauische Hoheitsgebiet eingereist ist, in der Praxis von Ausnahmen abgesehen nicht zum Verfahren für die Gewährung internationalen Schutzes zulässt, meines Erachtens selbst bei einem „massiven Zustrom“ von Migranten mit den in der Charta garantierten Grundrechten unvereinbar.

137. Denn zum einen verletzt eine solche Bestimmung nach meiner Meinung das Asylrecht, das als solches in Art. 18 der Charta garantiert wird, da die Wirksamkeit dieses Rechts vom Zugang zu einem entsprechenden Verfahren abhängt(89). Zwar kann dieses Recht unter den in Art. 52 Abs. 1 der Charta festgelegten Bedingungen eingeschränkt werden(90). Wäre aber ein Drittstaatsangehöriger praktisch daran gehindert, internationalen Schutz zu beantragen, so würde dadurch aus meiner Sicht der „Wesensgehalt“ des Asylrechts beeinträchtigt(91).

138. Zum anderen verstieße die Weigerung, den Asylantrag eines im nationalen Hoheitsgebiet illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zur Prüfung anzunehmen, auch gegen den in Art. 19 Abs. 2 der Charta vorgesehenen Grundsatz der Nichtzurückweisung.

139. Dieses Grundrecht, das in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe in Art. 4 der Charta und Art. 3 EMRK steht, lässt keine Einschränkungen zu. Es verbietet den Mitgliedstaaten in jedem Fall, eine Person in einen Staat zu entfernen, auszuweisen oder auszuliefern, in dem ihr das ernsthafte Risiko einer solchen Behandlung droht(92).

140. Ein Mitgliedstaat kann diese Gefahr aber nicht ausschließen und somit seine Verpflichtungen zur Nichtzurückweisung eines in seinem Hoheitsgebiet illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nicht erfüllen, wenn er nicht vor der Abschiebung des Betreffenden einen Antrag prüft, in dem dieser gerade die Befürchtung äußert, in seinem Herkunftsland verfolgt zu werden(93).

141. Die vorstehende Auslegung wird nicht durch das Vorbringen der litauischen Regierung in Frage gestellt, die im Kern geltend macht, dass ein Drittstaatsangehöriger, der im Rahmen eines „massiven Zustroms“ illegal in das Hoheitsgebiet eines Staates einreise, ein missbräuchliches Verhalten an den Tag lege, das es rechtfertige, ihm sein Recht auf Beantragung von Asyl zu verweigern, und dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung in einer solchen Situation keine absolute Geltung haben könne.

142. Zum einen haben die Verfasser der Genfer Konvention nämlich anerkannt, dass Flüchtlinge – darunter auch Asylbewerber, solange ihr Antrag nicht negativ beschieden wurde(94) – zur Ausübung ihres Asylrechts häufig unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet der Staaten einreisen, in denen sie Schutz suchen. Statt den Staaten zu erlauben, diesen Personen deswegen ihr Recht auf Stellung eines Asylantrags zu verweigern, haben die Verfasser der Konvention in deren Art. 31 vielmehr die Befugnis der Staaten zur Verhängung von Strafen bei unrechtmäßiger Einreise oder unrechtmäßigem Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet begrenzt(95); ich werde auf diesen Aspekt zurückkommen. Zum anderen sind die Verpflichtungen, die für die Staaten mit der Achtung des in Art. 19 Abs. 2 der Charta garantierten Grundsatzes der Nichtzurückweisung verbunden sind, unabhängig vom Verhalten der betroffenen Person zu erfüllen(96).

143. Dem von der litauischen Regierung angeführten Urteil in der Sache N.D. und N.T./Spanien(97) lässt sich meines Erachtens nicht das Gegenteil entnehmen. Dieses Urteil betrifft nicht den in Art. 3 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung; außerdem liegt ihm ein ganz spezieller Sachverhalt zugrunde – die Beschwerdeführer hatten an einem gemeinsamen Angriff teilgenommen, bei dem sie versuchten, durch gewaltsames Durchbrechen des Grenzzauns in das spanische Hoheitsgebiet zu gelangen –, der sich vom hier vorliegenden Fall deutlich unterscheidet. Selbst wenn dieses Urteil so zu verstehen wäre, dass nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die im Rahmen eines massiven Zustroms von Migranten erfolgte illegale Einreise eines Asylbewerbers in das Hoheitsgebiet eines Staates Letzteren berechtigt, dessen Asylantrag nicht zu berücksichtigen – was ich stark bezweifle –, würde dies jedenfalls nur bedeuten, dass das Unionsrecht in Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 der Charta einen weiter gehenden Schutz als die EMRK böte, was Art. 52 Abs. 3 der Charta ausdrücklich zulässt.

2)      Zur Möglichkeit, einen Antragsteller allein deshalb in Haft zu nehmen, weil er die Staatsgrenze illegal überschritten hat

144. Als Zweites steht eine Bestimmung wie Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes, wonach ein Asylbewerber allein deshalb in Haft genommen werden kann, weil er die Staatsgrenze illegal überschritten hat, meines Erachtens auch im Fall eines „massiven Zustroms“ von Migranten nicht im Einklang mit den durch die Charta und andere einschlägige Rechtsinstrumente garantierten Grundrechten.

145. Zum einen stellt diese Bestimmung, indem sie eine solche Inhaftierung vorsieht, einen besonders schwerwiegenden Eingriff in das in Art. 6 der Charta verankerte Recht auf Freiheit dar. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei einem derart gravierenden Eingriff angesichts der Bedeutung dieses Grundrechts Einschränkungen seiner Ausübung nur zulässig, wenn sie auf das absolut Notwendige beschränkt bleiben(98).

146. Auf die Frage des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung, inwiefern Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes wie erforderlich zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit im litauischen Hoheitsgebiet beitrage und insbesondere welches Ziel mit einer nach dieser Bestimmung angeordneten Inhaftierung genau verfolgt werde, hat die litauische Regierung u. a. erklärt, wenn es Migranten gelinge, das Staatsgebiet illegal zu betreten, solle durch ihre eventuelle Inhaftierung eine illegale Sekundärmigration innerhalb des Schengen-Raums verhindert werden – da die Mehrheit dieser Personen wahrscheinlich nicht in Litauen bleibe, sondern in andere Mitgliedstaaten weiterreise.

147. Nach meinem Dafürhalten geht eine solche Inhaftierung aber, wenn man sie unter diesem Aspekt betrachtet, über das zum Schutz der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit erforderliche Maß hinaus.

148. Zwar kann die Tatsache, dass ein Antragsteller illegal in das Staatsgebiet eingereist ist, in bestimmten Fällen ein Indiz für die Gefahr sein, dass er – eventuell in andere Mitgliedstaaten – fliehen wird. Sofern diese Gefahr durch andere Anhaltspunkte untermauert wird, könnte sie die Inhaftierung des Betroffenen für einen bestimmten Zeitraum erforderlich machen und rechtfertigen – wie sie im Übrigen nach Art. 8 Abs. 3 Buchst. b der Aufnahmerichtlinie zulässig ist(99). Fehlt es jedoch an solchen Anhaltspunkten, grenzt eine allein mit der illegalen Einreise begründete Inhaftierung an Willkür(100).

149. Zum anderen verstößt eine Maßnahme, wie sie in Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes vorgesehen ist, nach meiner Meinung gegen Art. 31 Abs. 1 der Genfer Konvention. Nach dieser Bestimmung dürfen die Konventionsstaaten gegen „Flüchtlinge“ – wozu, wie bereits erwähnt, auch Asylbewerber zählen – wegen deren unrechtmäßiger Einreise oder unrechtmäßigen Aufenthalts unter bestimmten Voraussetzungen keine „Strafen“ verhängen.

150. Diese Bestimmung soll verhindern, dass diese Personen bestraft werden, weil sie unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Staates eingereist sind oder sich dort unrechtmäßig aufhalten(101). Im Hinblick auf dieses Ziel wird allgemein angenommen, dass der Begriff „Strafe“ im Sinne der genannten Bestimmung autonom und weit zu verstehen ist und jede Maßnahme erfasst, die nicht nur Präventions‑, sondern auch Sanktions- oder Abschreckungscharakter hat, unabhängig davon, wie sie im nationalen Recht eingestuft ist(102).

151. Auch wenn eine Inhaftierung gemäß Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes, wie die litauische Regierung in der mündlichen Verhandlung bemerkt hat, nach litauischem Recht keine Strafe darstellt, hat diese Regierung bei dieser Gelegenheit gleichwohl eingeräumt, dass eine solche Haft in gewisser Weise auch dazu dient, Asylbewerber, die die Staatsgrenze unerlaubt überschritten haben, zu sanktionieren und andere Migranten, die versucht sein könnten, sich ähnlich zu verhalten, abzuschrecken.

152. Daher stellt diese Inhaftierung meines Erachtens eine „Strafe“ im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Genfer Konvention dar. Da Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes allein Asylbewerber betrifft, könnte er nach meiner Ansicht nur dann mit dieser grundlegenden Bestimmung in Einklang gebracht werden, wenn er nur solchen Asylbewerbern drohen würde, die die Kriterien dieser Bestimmung nicht erfüllen(103) – was nicht der Fall zu sein scheint.

4.      Zwischenergebnis

153. Infolgedessen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf den zweiten Teil der beiden Fragen zu antworten, dass Art. 72 AEUV einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, bei „außergewöhnlichen Umständen“, die durch einen „massiven Zustrom“ von Migranten an seiner Grenze gekennzeichnet sind, Bestimmungen wie Art. 14012 und Art. 14017 Abs. 2 des Ausländergesetzes in Abweichung von der Verfahrens- und der Aufnahmerichtlinie anzuwenden.

VI.    Ergebnis

154. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen des Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen) wie folgt zu beantworten:

1.      Eine nationale Regelung, die Drittstaatsangehörigen, sofern sie unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats eingereist sind, abgesehen von Ausnahmefällen den Zugang zum Verfahren für die Gewährung internationalen Schutzes im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verwehrt, ist mit Art. 6 Abs. 1 und 2 sowie mit Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes unvereinbar.

2.      Eine nationale Regelung, wonach eine Person, die internationalen Schutz beantragt, allein deshalb in Haft genommen werden kann, weil sie die Grenze des betreffenden Mitgliedstaats illegal überschritten hat, ist mit Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, unvereinbar.

3.      Art. 72 AEUV erlaubt einem Mitgliedstaat nicht, bei „außergewöhnlichen Umständen“, die durch einen „massiven Zustrom“ von Migranten an seiner Grenze gekennzeichnet sind, solche nationalen Regelungen in Abweichung von den Richtlinien 2013/32 und 2013/33 anzuwenden.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Ich werde in diesen Schlussanträgen den genaueren Begriff „Drittstaatsangehöriger“ verwenden, worunter nach Art. 2 Nr. 6 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1) (im Folgenden: Schengener Grenzkodex) „jede Person, die nicht Unionsbürger im Sinne des Artikels 20 Absatz 1 AEUV ist und die [nach dem Unionsrecht keinen Anspruch auf freien Personenverkehr hat]“, zu verstehen ist.


3      Ich werde in diesen Schlussanträgen die Begriffe „internationaler Schutz“ und „Asyl“ synonym verwenden.


4      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 180, S. 60).


5      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 180, S. 96, und berichtigt in ABl. 2015, L 100, S. 81).


6      Am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnetes und am 22. April 1954 in Kraft getretenes Abkommen (United Nations Treaty Series,  Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und seinerseits am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzten Fassung.


7      Zwischen dem 10. August 2021 und dem 1. Januar 2022 enthielt Art. 67 Abs. 11 und 12 des Ausländergesetzes (in der Fassung des Gesetzes Nr. XIV-515 vom 10. August 2021) die gleichen Bestimmungen. In Anbetracht des für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitraums sind diese beiden Artikel daher zeitlich anwendbar. Gleichwohl werde ich nur auf den erwähnten Art. 14012 eingehen.


8      Aus den Erklärungen der litauischen Regierung geht hervor, dass der Ausnahmezustand vom 10. November 2021 bis zum 14. Januar 2022 einschließlich in Kraft war, während die „Notlage“ fortbesteht.


9      Urteil vom 25. Juni 2020 (C‑36/20 PPU, im Folgenden: Urteil Ministerio Fiscal, EU:C:2020:495).


10      Nach dieser Bestimmung darf ein Asylbewerber in Haft genommen werden, um die Gründe für seinen Antrag zu ermitteln (sofern diese Informationen nicht auf andere Weise beschafft werden können) und wenn nach Prüfung der im Gesetz aufgeführten Umstände Anlass zu der Annahme besteht, dass die betreffende Person flüchten könnte, um sich der Rückführung in einen Drittstaat oder der Abschiebung aus Litauen zu entziehen.


11      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. 2011, L 337, S. 9).


12      Siehe Nrn. 24 und 30 der vorliegenden Schlussanträge.


13      Mit dieser Wendung beziehe ich mich darauf, dass MA die Grenze zwischen Litauen und Belarus überschritten hat, ohne die Einreisevoraussetzungen gemäß Art. 6 Abs. 1 des Schengener Grenzkodexes zu erfüllen. Zudem scheint er die Grenze „unbefugt“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 dieses Kodexes, d. h. außerhalb der Grenzübergangsstellen oder der festgelegten Öffnungszeiten, überschritten zu haben (siehe Nrn. 20 und 22 der vorliegenden Schlussanträge).


14      Das vorlegende Gericht hat in seiner ersten Frage zwar auf Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 verwiesen; dieser Artikel behandelt jedoch die Anhaltspunkte zur Begründung eines Antrags auf internationalen Schutz und berührt daher nicht die gestellte Frage. Dagegen sind, wie ich später noch darlegen werde, verschiedene Bestimmungen der Verfahrensrichtlinie hierfür relevant.


15      Vgl. insbesondere Art. 113 Abs. 4 des Ausländergesetzes.


16      Siehe Nr. 23 der vorliegenden Schlussanträge.


17      Siehe Nrn. 30 und 34 der vorliegenden Schlussanträge.


18      Siehe Nr. 23 der vorliegenden Schlussanträge.


19      Im Übrigen macht MA geltend, die gegen ihn verhängte „andere Maßnahme als Haft“ sei eine faktische Inhaftierung. Die zweite Frage behält daher auch insoweit ihre Bedeutung (siehe Nrn. 84 bis 88 der vorliegenden Schlussanträge).


20      Vgl. auch Abs. 22 Satz 1 der Beschreibung des Verfahrens.


21      Siehe Nr. 13 der vorliegenden Schlussanträge.


22      Vgl. auch Abs. 22 Satz 3 der Beschreibung des Verfahrens.


23      Diesen Ausnahmefall werde ich in Nr. 78 der vorliegenden Schlussanträge erörtern.


24      Vgl. auch Abs. 23 der Beschreibung des Verfahrens.


25      Siehe Nrn. 23, 27 und 28 der vorliegenden Schlussanträge.


26      Diese Ablehnung wurde auch damit begründet, dass MA seinen Antrag nicht unverzüglich gestellt habe, nachdem er die Staatsgrenze illegal überschritten habe. Diesen Aspekt werde ich in Fn. 33 der vorliegenden Schlussanträge behandeln.


27      Ich vereinfache die Dinge für meine Prüfung. In Wirklichkeit bietet die Frage nach der Rechtsstellung von MA auf nationaler Ebene ein verworrenes Bild: Das erstinstanzliche und das vorlegende Gericht behandeln MA als Asylbewerber (siehe Nrn. 23 und 30 der vorliegenden Schlussanträge). Der SGD hatte es seinerseits zunächst abgelehnt, den Antrag von MA entgegenzunehmen, ersuchte aber schließlich das vorlegende Gericht, die Abteilung für Migration anzuweisen, den Antrag zu prüfen (siehe Nr. 27) – wobei er offenbar von seinem in Nr. 78 erörterten Ermessen Gebrauch machte; diese Abteilung hatte zwar den Antrag von MA zurückgeschickt (siehe Nr. 28), soll aber zuletzt beschlossen haben, ihn zu prüfen (siehe Nr. 51). Es liegt auf der Hand, dass alle diese Institutionen nicht das gleiche Verständnis des nationalen Rechts oder des Unionsrechts hatten.


28      Der Einfachheit halber werde ich im weiteren Verlauf dieser Schlussanträge nur von Drittstaatsangehörigen sprechen.


29      Vgl. u. a. Urteil vom 16. November 2021, Kommission/Ungarn (Pönalisierung der Unterstützung von Asylbewerbern) (C‑821/19, EU:C:2021:930, Rn. 132 und 136 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


30      Vgl. insbesondere Urteil vom 16. November 2021, Kommission/Ungarn (Pönalisierung der Unterstützung von Asylbewerbern) (C‑821/19, EU:C:2021:930, Rn. 136 und die dort angeführte Rechtsprechung).


31      Siehe Nr. 129 der vorliegenden Schlussanträge.


32      Nämlich, wenn die betreffende Person es ohne stichhaltigen Grund versäumt hat, zum angesichts der Umstände ihrer Einreise frühestmöglichen Zeitpunkt bei den Behörden vorstellig zu werden oder einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Solche Umstände können sich also, obwohl sie entgegen der Ansicht der Abteilung für Migration (siehe Nr. 28 der vorliegenden Schlussanträge) der betreffenden Person nicht das Recht, Asyl zu beantragen, nehmen können (vgl. zur Zulässigkeit verspäteter Anträge auch Art. 10 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie), auf die Art der Prüfung ihres Antrags durch die nationalen Behörden auswirken (vgl. auch Nr. 129 der vorliegenden Schlussanträge).


33      Vgl. 27. Erwägungsgrund der Verfahrensrichtlinie und Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung).


34      Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98, im Folgenden: Rückführungsrichtlinie). Ein Drittstaatsangehöriger, der illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist und über keinen Aufenthaltstitel verfügt, gilt dort nämlich als „illegal aufhältig“ im Sinne dieser Richtlinie. Daher ist gegen ihn grundsätzlich ein Abschiebungsverfahren nach dieser Richtlinie durchzuführen.


35      Vgl. Urteil Ministerio Fiscal (Rn. 59 bis 68). Darauf hat das erstinstanzliche Gericht im vorliegenden Fall zutreffend hingewiesen (siehe Nr. 23 der vorliegenden Schlussanträge).


36      Diese Bestimmungen definieren nämlich einen „Antragsteller“ als „einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde“.


37      Vgl. 27. Erwägungsgrund der Verfahrensrichtlinie sowie u. a. Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 100 und die dort angeführte Rechtsprechung).


38      Vgl. neunter Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie und Urteil Ministerio Fiscal (Rn. 99).


39      Nach dieser Bestimmung sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet, den Antrag spätestens drei bzw. sechs Arbeitstage nach dessen „Stellung“ zu registrieren, je nachdem, ob er bei der nach nationalem Recht für die Registrierung zuständigen Behörde oder bei einer „anderen Behörde“ eingereicht wurde.


40      Vgl. 27. Erwägungsgrund der Verfahrensrichtlinie.


41      Vgl. Art. 31 Abs. 3 der Verfahrensrichtlinie und Urteil vom 16. November 2021, Kommission/Ungarn (Pönalisierung der Unterstützung von Asylbewerbern) (C‑821/19, EU:C:2021:930, Rn. 81).


42      Wenn ein Asylbewerber seinen Antrag nicht förmlich stellt, können die Mitgliedstaaten grundsätzlich Art. 28 der Verfahrensrichtlinie entsprechend anwenden und somit davon ausgehen, dass er ihn stillschweigend zurückgenommen hat.


43      Vgl. in diesem Sinne auch Nr. 8 der Empfehlung Rec(2003) 5 des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten zu Inhaftierungen von Asylbewerbern, vom Ministerkomitee angenommen am 16. April 2003 beim 837. Treffen der Ministerdelegierten, und EGMR, 25. Juni 1996, Amuur/Frankreich (CE:ECHR:1996:0625JUD001977692, § 43).


44      Vgl. Art. 8 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie.


45      Die litauische Regierung hat zudem geltend gemacht, ein illegal in das litauische Hoheitsgebiet eingereister Drittstaatsangehöriger könne gemäß dem Urteil Ministerio Fiscal einen Asylantrag auch bei dem für seine Inhaftierung zuständigen Richter stellen. Der Antrag werde dann zur Registrierung an die zuständige Behörde weitergeleitet, woraufhin der Antragsteller konkret die Möglichkeit habe, den Antrag förmlich zu stellen, und dieser sodann geprüft werde. Dies sei im Übrigen auch im Ausgangsverfahren geschehen (siehe Nr. 50 der vorliegenden Schlussanträge). Auf Fragen des Gerichtshofs hat die Regierung erklärt, dies sei ein Weg, um Asyl zu beantragen, der zwar nicht in Art. 14012 des Ausländergesetzes vorgesehen sei, den dieser Artikel aber auch nicht verbiete. Abgesehen davon, dass das vorlegende Gericht den genannten Artikel anders verstanden hat, möchte ich dazu nur anmerken, dass ein Mitgliedstaat keinen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zum Verfahren für die Gewährung internationalen Schutzes gewährleistet, wenn bestimmte Staatsangehörige gezwungen sind, sich an einen Richter zu wenden, um diesen Schutz zu beantragen.


46      Vgl. Art. 6 Abs. 5 der Verfahrensrichtlinie, wonach diese Frist auf zehn Arbeitstage verlängert werden kann.


47      Vgl. Art. 31 Abs. 3 Buchst. b der Verfahrensrichtlinie, wonach unter diesen Umständen die normalerweise geltende Frist von sechs Monaten bis zu maximal neun Monaten verlängert werden kann.


48      Vgl. dazu Art. 8 Abs. 4 der Aufnahmerichtlinie.


49      Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 223).


50      Vgl. entsprechend Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 226 und 227). MA hat außerdem argumentiert, die Lebensbedingungen in der fraglichen SGD-Einrichtung seien derart, dass sie einer u. a. gemäß Art. 4 der Charta und Art. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verbotenen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichkämen. Auch dies wird das vorlegende Gericht im Licht der einschlägigen Rechtsprechung zu prüfen haben (vgl. insbesondere Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589).


51      Vgl. u. a. Urteil Ministerio Fiscal (Rn. 104 und die dort angeführte Rechtsprechung).


52      Siehe zu dieser Vorstellung Nrn. 100 ff. der vorliegenden Schlussanträge.


53      Urteil vom 15. Februar 2016, N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 55 und 67).


54      Vgl. entsprechend Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 49, 50, 57 und 61). Das gilt erst recht, wenn die betreffende Person den Aufnahmemitgliedstaat nur zur Durchreise in einen zweiten Staat illegal betreten hat (vgl. Rn. 63 dieses Urteils).


55      Vgl. entsprechend Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 50).


56      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 172).


57      Das wird dadurch bestätigt, dass diese Bestimmung im litauischen Recht bereits in Art. 113 Abs. 4 Nr. 5 des Ausländergesetzes enthalten ist.


58      Vgl. u. a. EGMR, 29. Januar 2008, Saadi/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2008:0129JUD001322903, § 64).


59      Vgl. insbesondere Art. 8 und 13 des Schengener Grenzkodexes.


60      Vgl. u. a. Art. 5 Abs. 3 des Schengener Grenzkodexes.


61      Die litauische Regierung hat erklärt, zwischen dem 1. Juli 2021 und dem 10. März 2022 hätten 3 695 Drittstaatsangehörige die Grenzen Litauens illegal überschritten.


62      Vgl. jeweils Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Oktober 2021 zur Lage in Belarus ein Jahr nach dem Beginn der Proteste und ihrer gewaltsamen Niederschlagung (2021/2881[RSP]), § 16; Europäischer Rat, Schlussfolgerungen der Tagung vom 21. und 22. Oktober 2021 (EUCO 17/21), § 19, und Schlussfolgerungen der Tagung vom 16. Dezember 2021 (EUCO 22/21), §§ 18 und 21; 2021 State of the Union Address by President von der Leyen, Straßburg, 15. September 2021.


63      Siehe Nr. 92 der vorliegenden Schlussanträge.


64      COM(2021) 752 final (im Folgenden: Vorschlag für einen Ratsbeschluss).


65      Vorschlag für einen Ratsbeschluss, Begründung, S. 1.


66      COM(2021) 890 final.


67      Die Kommission hat am selben Tag noch einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung des [Schengener Grenzkodexes] (COM[2021] 891 final) vorgelegt, der den Mitgliedstaaten insbesondere ermöglichen soll, im Fall der „Instrumentalisierung von Migranten“ rasch zu handeln. Dieser Vorschlag sieht im Kern vor, dass die Mitgliedstaaten in einem solchen Fall die Zahl der Grenzübergangsstellen beschränken und die Grenzüberwachung intensivieren könnten.


68      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 214 und die dort angeführte Rechtsprechung).


69      Vgl. Urteil vom 15. Mai 1986, Johnston (222/84, EU:C:1986:206, Rn. 27).


70      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Darmon in der Rechtssache Johnston (222/84, nicht veröffentlicht, EU:C:1986:44, Nr. 5), und Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache Kommission/Griechenland (C‑120/94, EU:C:1995:109, Nr. 46).


71      Doch selbst in diesen Fällen wären wegen bestimmter unantastbarer Grundrechte Grenzen einzuhalten (siehe Nrn. 138 und 139 der vorliegenden Schlussanträge).


72      Vgl. u. a. Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 215).


73      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache Kommission/Griechenland (C‑120/94, EU:C:1995:109, Nr. 47) und Schlussanträge des Generalanwalts La Pergola in der Rechtssache Sirdar (C‑273/97, EU:C:1999:246, Nr. 21).


74      Vgl. u. a. Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 215).


75      Vgl. u. a. Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 216).


76      Vgl. entsprechend Urteil vom 17. Dezember 2020, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a. (C‑336/19, EU:C:2020:1031, Rn. 64).


77      Vgl. entsprechend Urteil vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn (Nießbrauchrechte an landwirtschaftlichen Flächen) (C‑235/17, EU:C:2019:432, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).


78      Ein solches Verfahren ist in den Art. 347 und 348 AEUV ausdrücklich für den Fall der Anwendung der ersteren Bestimmung vorgesehen.


79      Ich stelle hierzu fest, dass die Republik Litauen ihre europäischen Partner konsultiert und die Kommission gebeten hat, vorläufige Maßnahmen auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV vorzuschlagen (siehe Begründung des Vorschlags für einen Ratsbeschluss).


80      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik (Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen) (C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 171).


81      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Pikamäe in der Rechtssache Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:493, Nr. 103).


82      Siehe Nr. 100 der vorliegenden Schlussanträge.


83      Siehe Nr. 69 der vorliegenden Schlussanträge und Art. 9 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie.


84      Nämlich, wenn, wie bereits erwähnt, die betreffende Person es ohne stichhaltigen Grund versäumt hat, zum angesichts der Umstände ihrer Einreise frühestmöglichen Zeitpunkt bei den Behörden vorstellig zu werden oder einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.


85      Nach Art. 7 der Aufnahmerichtlinie können die nationalen Behörden nur die Bewegungsfreiheit dieser Antragsteller auf ein Gebiet in der Nähe der Grenzen oder Transitzonen dieses Mitgliedstaats beschränken.


86      Vgl. Art. 2 Abs. 2 des Vorschlags für einen Ratsbeschluss.


87      So kann nach Art. 2 Abs. 5 des Vorschlags für einen Ratsbeschluss die Frist für die Gewährung der Einreise in das Hoheitsgebiet auf 16 Wochen verlängert werden.


88      Vgl. u. a. Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 74 und 75).


89      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 102).


90      Nach dieser Bestimmung dürfen Einschränkungen der Ausübung eines in dieser Charta anerkannten Rechts nur vorgenommen werden, wenn sie erstens „gesetzlich vorgesehen“ sind, zweitens den „Wesensgehalt“ dieses Rechts achten und drittens den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.


91      Ein solcher Rechtsentzug muss meiner Meinung nach der Möglichkeit gegenübergestellt werden, den Antrag in einem beschleunigten Verfahren oder einem besonderen Verfahren an der Grenze zu prüfen.


92      Vgl. u. a. Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 94 bis 96). Vgl. auch Art. 15 Abs. 1 EMRK, wonach die Mitgliedstaaten im Krieg oder bei einem anderen öffentlichen Notstand, der das Leben der Nation bedroht, von den Verpflichtungen aus dieser Konvention abweichen dürfen; gemäß Art. 15 Abs. 2 darf jedoch von Art. 3 EMRK in keinem Fall abgewichen werden.


93      United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), Observations on draft Amendments to the Law of the Republic of Lithuania on Legal Status of Aliens (No 21-29207), 27. September 2021, § 17.


94      Vgl. Goodwin-Gill, G. S., „L’article 31 de la convention de 1951 relative au statut des réfugiés: l’absence de sanctions pénales, la détention et la protection“, Feller, E., Türk, V., und Nicholson, F. (Hrsg.), La Protection des réfugiés en droit international, Larcier, Brüssel, 2008, S. 232 bis 234.


95      UNHCR, Observations on draft Amendments to the Law of the Republic of Lithuania on Legal Status of Aliens, a. a. O., §§ 11 und 14 mit weiteren Hinweisen. Zudem hat der Unionsgesetzgeber bereits weniger radikale Maßnahmen vorgesehen, um gegen einen möglichen Missbrauch in diesem Bereich vorzugehen (siehe Nrn. 63 und 129 der vorliegenden Schlussanträge).


96      Vgl. Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 94).


97      Urteil des EGMR vom 13. Februar 2020 (CE:ECHR:2020:0213JUD000867515). In diesem Urteil hat der EGMR entschieden, dass Spanien in Abweichung vom Verbot kollektiver Ausweisungen gemäß Art. 4 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK Migranten, die versucht hatten, seine Grenze illegal zu überqueren, ohne Prüfung ihrer individuellen Verhältnisse zurückweisen durfte, wobei der EGMR sich zum einen auf das Verhalten der Betroffenen und zum anderen auf die Tatsache stützte, dass Spanien wirksame Möglichkeiten für eine reguläre Einreise bot (§§ 201, 218, 222 und 231).


98      Vgl. Urteil vom 15. Februar 2016, N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 56).


99      Siehe zum vorliegenden Fall auch Nr. 23 und Fn. 16 dieser Schlussanträge.


100      Vgl. entsprechend UN-Menschenrechtsausschuss, A/Australien, 1997, § 9.4. Vgl. auch UNHCR, Principes directeurs relatifs aux critères et aux normes applicables à la détention des demandeurs d’asile et alternatives à la rétention [Leitlinien betreffend Kriterien und Standards für die Inhaftierung von Asylbewerbern und Alternativen zur Haft], 2012, Rn. 31 und 32.


101      So sieht Art. 5 Abs. 3 des Schengener Grenzkodexes zwar vor, dass die Mitgliedstaaten Sanktionen für das unbefugte Überschreiten der Außengrenzen einführen; diese Verpflichtung gilt für diese Staaten jedoch „unbeschadet … der internationalen Schutzverpflichtungen“, so dass solche Sanktionen grundsätzlich nicht gegen Flüchtlinge verhängt werden können.


102      Vgl. Goodwin-Gill, G. S., a. a. O., S. 232 bis 234.


103      In diesem Zusammenhang möchte ich zu dem Kriterium, dass Flüchtlinge „unmittelbar aus einem Gebiet kommen [müssen], in dem ihr Leben oder ihre Freiheit … bedroht waren“, nur bemerken, dass dieser Ausdruck nach allgemeinem Verständnis nicht wortwörtlich zu verstehen ist, sondern auch Situationen umfasst, in denen die betroffenen Personen auf ihrer Reise ein anderes Land durchqueren, in dem ihnen kein wirksamer Schutz garantiert wurde (vgl. Goodwin-Gill, G. S., a. a. O., S. 232); Belarus kann aller Wahrscheinlichkeit nach dieser Kategorie zugeordnet werden. Daher führt die bloße Tatsache, dass sich ein Asylbewerber vor seiner Einreise nach Litauen kurz in Belarus aufgehalten hat, nicht dazu, dass er den Schutz gemäß Art. 31 Abs. 1 der Genfer Konvention verlieren würde.