Language of document : ECLI:EU:C:2023:678

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 14. September 2023(1)

Rechtssache C359/22

AHY

gegen

Minister for Justice

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court [Hohes Gericht, Irland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Asylpolitik – Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Art. 17 Abs. 1 – Souveränitätsklauseln – Art. 27 – Wirksamer Rechtsbehelf – Aufschiebende Wirkung“






1.        Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen ersucht der High Court (Hohes Gericht, Irland) um Auslegung der Art. 17 Abs. 1 und Art. 27 Abs. 1 und 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung)(2) sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2.        Hintergrund der Fragen ist die gegenwärtig in Irland geltende spezifische Regelung der Umsetzung der Dublin‑III-Verordnung. Danach entscheidet eine andere Verwaltungsbehörde als jene, die dafür zuständig ist, die von dieser Verordnung festgelegten Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats anzuwenden und die Entscheidung über die Überstellung zu erlassen, darüber, ob der Mitgliedstaat von der Souveränitätsklausel in Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung Gebrauch macht oder davon absieht. Ebenso fallen die gegen die erstgenannte und die zweitgenannte Entscheidung vorgesehenen Rechtsbehelfe in den Zuständigkeitsbereich zweier verschiedener nationaler Gerichte.

3.        Dass diese beiden Verfahren nebeneinander und zudem unkoordiniert durchgeführt werden, wirft im Kontext der Dublin‑III-Verordnung komplexe rechtliche Fragen auf. In seinem anstehenden Urteil hat der Gerichtshof somit die Gelegenheit, Klarstellungen zur Tragweite eines wirksamen Rechtsmittels im Sinne von Art. 27 dieser Verordnung zu treffen, insbesondere zur Frage, ob eine der genannten zwei Vorschriften die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Möglichkeit vorzusehen, dass mit einem anderen Rechtsbehelf als jenem, der gegen die Überstellungsentscheidung vorgesehen ist, die sich aus der Souveränitätsklausel ergebende Ermessensentscheidung gerichtlich angefochten werden kann. Ferner wird der Gerichtshof um Stellungnahme zu der Frage ersucht, ob die Einlegung eines solchen Rechtsbehelfs zwingend zur Aussetzung der Überstellungsentscheidung führt.

I.      Rechtsrahmen

A.      Unionsrecht

4.        Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.“

5.        Art. 17 („Ermessensklauseln“) Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung sieht vor:

„(1)      Abweichend von Artikel 3 Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.

Der Mitgliedstaat, der gemäß diesem Absatz beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Er unterrichtet gegebenenfalls über das elektronische Kommunikationsnetz DubliNet, das gemäß Artikel 18 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 [der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 222, S. 3)] eingerichtet worden ist, den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durchführt, oder den Mitgliedstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch gerichtet wurde.

Der Mitgliedstaat, der nach Maßgabe dieses Absatzes zuständig wird, teilt diese Tatsache unverzüglich über Eurodac nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Anträge der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT‑Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (ABl. 2013, L 180, S. 1)] mit, indem er den Zeitpunkt über die erfolgte Entscheidung zur Prüfung des Antrags anfügt.“

6.        Art. 27 („Rechtsmittel“) dieser Verordnung hat folgenden Wortlaut:

„(1)      Der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d hat das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.

(2)      Die Mitgliedstaaten sehen eine angemessene Frist vor, in der die betreffende Person ihr Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Absatz 1 wahrnehmen kann.

(3)      Zum Zwecke eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung sehen die Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht Folgendes vor:

a)      dass die betroffene Person aufgrund des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung berechtigt ist, bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben; oder

b)      dass die Überstellung automatisch ausgesetzt wird und diese Aussetzung innerhalb einer angemessenen Frist endet, innerhalb der ein Gericht, nach eingehender und gründlicher Prüfung, darüber entschieden hat, ob eine aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung gewährt wird; oder

c)      die betreffende Person hat die Möglichkeit, bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung zu beantragen. Die Mitgliedstaaten sorgen für einen wirksamen Rechtsbehelf in der Form, dass die Überstellung ausgesetzt wird, bis die Entscheidung über den ersten Antrag auf Aussetzung ergangen ist. Die Entscheidung, ob die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt wird, wird innerhalb einer angemessenen Frist getroffen, welche gleichwohl eine eingehende und gründliche Prüfung des Antrags auf Aussetzung ermöglicht. Die Entscheidung, die Durchführung der Überstellungsentscheidung nicht auszusetzen, ist zu begründen.

(4)      Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen.“

7.        Art. 29 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

Wenn Überstellungen in den zuständigen Mitgliedstaat in Form einer kontrollierten Ausreise oder in Begleitung erfolgen, stellt der Mitgliedstaat sicher, dass sie in humaner Weise und unter uneingeschränkter Wahrung der Grundrechte und der Menschenwürde durchgeführt werden.

Erforderlichenfalls stellt der ersuchende Mitgliedstaat dem Antragsteller ein Laissez-passer aus. Die Kommission gestaltet im Wege von Durchführungsrechtsakten das Muster des Laissez-passer. Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem in Artikel 44 Absatz 2 genannten Prüfverfahren erlassen.

Der zuständige Mitgliedstaat teilt dem ersuchenden Mitgliedstaat gegebenenfalls mit, dass die betreffende Person eingetroffen ist oder dass sie nicht innerhalb der vorgegebenen Frist erschienen ist.

(2)      Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.“

B.      Irisches Recht

1.      European Union (Dublin System) Regulations 2018

8.        Art. 3 („Ausübung der Aufgaben gemäß der Verordnung der [Union]“) der European Union (Dublin System) Regulations 2018 (S. I. No. 62 of 2018) (Regulations von 2018 über die Europäische Union [Dublin-System] [S. I. Nr. 62 von 2018], im Folgenden: Regulations von 2018) überträgt den für den internationalen Schutz zuständigen Beamten (des International Protection Office [Amt für internationalen Schutz, Irland], im Folgenden: IPO) die Aufgaben, gemäß den Kriterien nach Kapitel III der Dublin‑III-Verordnung den für einen Antrag auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen und Überstellungsentscheidungen zu erlassen. Nach Art. 6 („Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung“) der Regulations von 2018 ist das International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes, Irland, im Folgenden: IPAT) für die Prüfung eines gegen eine Überstellungsentscheidung eingelegten Rechtsbehelfs zuständig.

9.        Art. 8 („Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf“) der Regulations von 2018 regelt die aufschiebende Wirkung im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. a der Dublin‑III-Verordnung und sieht im Wesentlichen vor, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt und die einen Rechtsbehelf nach Art. 6 der Regulations von 2018 einlegt, berechtigt ist, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im Mitgliedstaat zu bleiben.

10.      Die Ausübung des Ermessens im Sinne von Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung fällt in die Zuständigkeit des Minister for Justice (im Folgenden: Ministerin). Im Verfahren, das zum Erlass einer Überstellungsentscheidung durch das IPO nach den Regulations von 2018 führt, ist Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung nicht zu berücksichtigen. Ferner beschränkt sich die Zuständigkeit des IPAT nach Art. 6 dieser Regulations auf gegen solche Überstellungsentscheidungen eingelegte Rechtsbehelfe. Dieses Gericht ist nicht dafür zuständig, über einen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung der Ministerin in Bezug auf die Ausübung des Ermessens im Sinne von Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung zu befinden: Der einzig mögliche Rechtsbehelf gegen eine solche Entscheidung ist eine Anfechtung im Wege der gerichtlichen Überprüfung („judicial review“).

2.      Order 84, Superior Courts Rules

11.      Order 84, Rules of the Superior Courts (Verfahrensordnung für die Obergerichte, deren Artikel als „Rules“ bezeichnet werden) enthält insbesondere in Titel V die bei einem „judicial review“ anwendbaren Rechtsvorschriften. Der High Court (Hohes Gericht) ist das für die Entscheidung über diese Rechtsbehelfe im ersten Rechtszug zuständige Gericht. Deshalb bezieht sich jeder Verweis in der Order 84 auf das Gericht auf den High Court (Hohes Gericht) als Gericht des ersten Rechtszugs.

12.      Order 84 Rule 20 sieht im Wesentlichen vor, dass das Gericht, bevor ein Antrag auf „judicial review“ geprüft wird, diesen vorab im Wege einer „application for leave“ zulassen muss. Dabei muss der Antragsteller ein für die Zulassung ausreichendes Interesse haben. Order 84 Rule 21 sieht eine Frist von drei Monaten für die Anrufung des Gerichts vor, die jedoch verlängert werden kann, insbesondere, wenn triftige und hinreichende Gründe vorliegen.

13.      Order 84 sieht keine aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs vor. Nach Order 84 Rule 20 Nr. 8 Buchst. b kann aber das Gericht bei einem Antrag auf Erlass einer Verbotsverfügung oder eines Certiorari-Beschlusses (eines auf die Aufhebung einer Verwaltungsentscheidung gerichteten Beschlusses), wenn es dies als billig und angemessen erachtet, im Fall einer Zulassung des „judicial review“ einen Beschluss erlassen, mit dem eine Entscheidung, auf die sich der Antrag bezieht, so lange ausgesetzt wird, bis über den Antrag auf gerichtliche Überprüfung entschieden wird oder bis das Gericht darüber eine andere Entscheidung trifft.

II.    Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits, Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

14.      Der Kläger des Ausgangsverfahrens, AHY, ist ein am 21. Oktober 1987 geborener somalischer Staatsangehöriger.

15.      Am 21. Januar 2020 stellte er in Irland einen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen Antrag damit, dass er in Somalia Opfer eines Bombenanschlags geworden sei, bei dem sein Geschäft zerstört und einer seiner Angestellten getötet worden sei und bei dem ihm bleibende Narben an Händen und am Arm zugefügt worden seien.

16.      Eine Eurodac-Abfrage ergab, dass er bereits am 5. November 2012 und am 2. Oktober 2017 in Schweden zwei Anträge auf internationalen Schutz gestellt hatte. Diese Anträge waren zurückgewiesen worden.

17.      Die irischen Behörden richteten daraufhin an das Königreich Schweden gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin‑III-Verordnung ein Wiederaufnahmegesuch. Diesem Gesuch wurde am 19. Februar 2020 stattgegeben.

18.      Am 23. Juli 2020 wurde AHY ein Bescheid mit der Überstellungsentscheidung nach Schweden zugestellt. Diese Entscheidung focht AHY beim IPAT an, wobei er beantragte, die in Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Klausel anzuwenden, und insbesondere geltend machte, dass er an Depressionen leide.

19.      Das IPAT wies am 5. Oktober 2021 diesen Rechtsbehelf zurück und bestätigte die Überstellungsentscheidung.

20.      Am 8. November 2021 wurde AHY die Aufforderung übermittelt, am 16. Dezember desselben Jahres vor der Garda National Immigration Bureau (Nationale Einwanderungsbehörde, Irland) zu erscheinen, damit seine spätestens bis zum 6. April 2022 durchzuführende Überstellung nach Schweden vorbereitet werden könne.

21.      Am 15. November 2021 stellte AHY bei der Ministerin einen Antrag auf Ausübung des Ermessens nach Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung, insbesondere mit der Begründung, dass im Fall einer solchen Überstellung die Gefahr bestehe, dass er Selbstmord begehe. Zu diesem Zweck legte er einen rechtsmedizinischen Bericht vor, in dem darauf hingewiesen wurde, dass im Fall einer Überstellung nach Schweden ein hohes Risiko der Selbstverletzung und eines möglichen Selbstmords bestehe. Im Lauf des Verfahrens reichte er einen zweiten rechtsmedizinischen Bericht des Inhalts ein, dass die Selbstmordgefahr höher einzustufen sei, als sie im ersten Bericht beschrieben worden sei.

22.      Am 16. Februar 2022 wurde der Antrag auf Erlass einer Ermessensentscheidung durch die Ministerin im Sinne von Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung zurückgewiesen.

23.      Im Nachgang zu dem zweiten rechtsmedizinischen Bericht fügte die Ministerin der Ablehnung, dieses Ermessen auszuüben, einen Nachtrag hinzu und stellte klar, dass der zweite rechtsmedizinische Bericht nicht zu einer Änderung ihres in dieser Entscheidung zum Ausdruck gebrachten Standpunkts geführt habe.

24.      Diese Entscheidung wurde von AHY beim vorlegenden Gericht angefochten. Dabei macht er insbesondere geltend, dass nach Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung ein Rechtsbehelf, der sich gegen die Ablehnung der Ausübung eines Ermessens im Sinne von Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung richte, automatisch aufschiebende Wirkung habe.

25.      Das vorlegende Gericht bestätigte und erweiterte die im Dezember 2021 von AHY erwirkten vorläufigen Maßnahmen, die seine Überstellung nach Schweden untersagten, und beschloss, an den Gerichtshof das folgende Vorabentscheidungsersuchen zu richten.

26.      In diesem Rahmen wirft das vorlegende Gericht insbesondere die Frage auf, ob ein Rechtsbehelf, der sich gegen eine Weigerung der Ministerin richtet, von ihrem ihr nach Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen, gegenüber einer Überstellungsentscheidung insbesondere dann suspensive Wirkung zeitigen könnte, wenn diese Überstellungsentscheidung bereits mit einem Rechtsmittel im Sinne von Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung angefochten worden ist.

27.      Unter diesen Umständen hat der High Court (Hohes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und an den Gerichtshof die folgenden Vorabentscheidungsfragen zu richten:

1.      Umfasst das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung einer „Überstellungsentscheidung“ nach Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III‑Verordnung das Recht auf ein solches wirksames Rechtsmittel gegen eine Entscheidung des Mitgliedstaats nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung über die Ausübung seines Ermessens nach Art. 17 Abs. 1, ob er den von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz prüft, auch wenn diese Prüfung nach den in der Dublin‑III-Verordnung festgelegten Kriterien nicht in seine Zuständigkeit fällt?

2.      Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird:

a)      Folgt daraus, dass es einem ersuchenden Mitgliedstaat verwehrt ist, eine Überstellungsentscheidung zu vollziehen, bis über das Ersuchen eines Antragstellers um Ermessensausübung nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung entschieden ist?

b)      Umfasst Art. 27 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, in ihrem innerstaatlichen Recht eine von drei Formen der aufschiebenden Wirkung für Rechtsbehelfe gegen eine Überstellungsentscheidung oder für eine Überprüfung einer Überstellungsentscheidung vorzusehen, auch die Anfechtung einer Entscheidung nach Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung, mit der die Ausübung des Wahlrechts, die Zuständigkeit für einen Antrag auf internationalen Schutz zu übernehmen, verweigert wird?

c)      Sind die Gerichte im Fall einer Anfechtung einer Ablehnungsentscheidung nach Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung, wenn keine spezifischen nationalen Rechtsvorschriften eine der drei Formen der aufschiebenden Wirkung nach Art. 27 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung vorsehen, verpflichtet, die aufschiebende Wirkung in einer dieser drei Formen in ihrem nationalen Recht zu gewähren, und wenn ja, in welcher?

d)      Sind alle aufschiebenden Rechtsbehelfe nach Art. 27 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung so auszulegen, dass sie eine Aussetzung der Frist für die Durchführung einer Überstellungsentscheidung nach Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung bewirken?

3.      Für den Fall, dass die erste Frage verneint wird:

a)      Steht das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 der Charta dem entgegen, dass ein ersuchender Mitgliedstaat eine Überstellungsentscheidung vor Erlass der Entscheidung über einen Antrag des Antragstellers auf Ermessensausübung nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung durchführt?

b)      Steht das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 der Charta dem entgegen, dass ein ersuchender Mitgliedstaat eine Überstellungsentscheidung durchführt, bevor über eine Anfechtung einer Ablehnungsentscheidung nach Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung im Wege der gerichtlichen Überprüfung (judicial review) nach nationalem Recht entschieden ist?

c)      Hilfsweise: Hemmt die Anfechtung einer Ablehnungsentscheidung nach Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung im Wege der gerichtlichen Überprüfung (judicial review) nach nationalem Recht die Frist für die Durchführung einer Überstellungsentscheidung nach Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung. oder hat sie eine anderweitige aufschiebende Wirkung auf die Überstellungsentscheidung?

28.      Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Vorlage zur Vorabentscheidung dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilverfahren zu unterwerfen.

29.      Zur Stützung seines Antrags hat dieses Gericht auf den Gesundheitszustand von AHY verwiesen und insbesondere ausgeführt, dass es angesichts der ihm vorliegenden medizinischen Beweise besorgt sei, dass die gewöhnliche Verfahrensdauer eines Vorabentscheidungsersuchens eine reale Gefahr für die Gesundheit oder sogar für das Leben von AHY bedeuten könnte, da dieser sich nach der Entscheidung über seine Überstellung nach Schweden mit Selbstmordgedanken trage. Dabei hat das vorlegende Gericht auch darauf hingewiesen, dass die Eilbedürftigkeit noch dadurch verschärft werde, dass die in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfenen Rechtsfragen auch Gegenstand einer Reihe weiterer laufender Verfahren seien. Die rechtliche Ungewissheit in Bezug auf die Kontrolle von Ablehnungsentscheidungen, von der Klausel im Sinne von Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung Gebrauch zu machen, und in Bezug auf die aufschiebende Wirkung der Anfechtungen dieser Entscheidungen habe eine systemische Auswirkung auf das Funktionieren des von dieser Verordnung in Irland begründeten Systems und führe zu Verzögerungen.

30.      In der Verwaltungssitzung vom 21. Juni 2022 hat die Zweite Kammer entschieden, dass diesem Antrag des vorlegenden Gerichts nicht stattzugeben ist.

31.      Im gewöhnlichen Vorabentscheidungsverfahren sind von AHY, der Ministerin, der irischen und der griechischen Regierung sowie von der Europäischen Kommission schriftliche Erklärungen abgegeben worden.

III. Würdigung

32.      Vorab ist anzumerken, dass nach Darstellung des vorlegenden Gerichts zwei Reihen von Erwägungen den im vorliegenden Verfahren in Rede stehenden Vorlagefragen zugrunde liegen, die die gerichtliche Kontrolle einer Entscheidung, die von Behörden der Mitgliedstaaten gemäß Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung erlassen wurde, und den etwaigen Suspensiveffekt betreffen, den eine gerichtliche Überprüfung der vorgenannten Entscheidung gegenüber einer Überstellungsentscheidung zeitigt.

33.      Die erste Erwägung hängt mit den Besonderheiten des irischen Systems zusammen, in dem für die Entscheidung, eine Überstellung einer Person, die einen internationalen Schutz beantragt, vorzunehmen oder davon abzusehen, und die Entscheidung, von dem sich aus Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung ergebenden Ermessen Gebrauch zu machen oder davon abzusehen, nicht dieselbe Behörde zuständig ist. Während die erstgenannte Entscheidung vom IPO getroffen wird, fällt die zweite in den Befugnisbereich der Ministerin. Im Übrigen müssen Überstellungsentscheidungen beim IPAT angefochten werden, das aber nicht über eine Anfechtung einer Entscheidung der Ministerin in Bezug auf die Ausübung dieses Ermessens entscheiden kann. Diese letztgenannte Entscheidung kann nämlich allein mit einem „judicial review“  vor dem High Court (Hohes Gericht) angefochten werden.

34.      Ferner ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass nach dem gegenwärtigen Stand des irischen Rechts diese beiden voneinander verschiedenen Verfahren zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingeleitet werden können, ohne dass namentlich hinsichtlich der Fristen eine Koordination erfolgt. Mithin ist es einer Person, die internationalen Schutz beantragt und gegen die in Irland eine Überstellungsentscheidung ergangen ist, unbenommen, einen Antrag nach Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung auch noch zu stellen, nachdem ihr gegen eine solche Überstellungsentscheidung eingelegter Rechtsbehelf vom IPAT zurückgewiesen wurde. Von einer solchen Fallgestaltung ist vorliegend und, wie sich aus den verfügbaren Quellen ergibt, auch in zahlreichen anderen Fällen auszugehen.

35.      Die zweite Erwägung betrifft Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Urteil M. A. u. a.(3) ergeben haben, in dem sich der Gerichtshof zu den Besonderheiten des irischen Systems in einem tatsächlichen Kontext geäußert hat, der sich von jenem des vorliegenden Falls unterscheidet. Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts gibt die Bestimmung der genauen Tragweite der Erwägungen und der Entscheidung des Gerichtshofs in diesem Urteil Anlass zu Schwierigkeiten.

A.      Zur ersten Vorlagefrage

36.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass er den Mitgliedstaaten aufgibt, ein wirksames Rechtsmittel gegen die Entscheidung vorzusehen, mit der der jeweilige Mitgliedstaat von seinem Ermessen Gebrauch macht, nach Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung die ihm nach den in dieser Verordnung genannten Kriterien eigentlich nicht zufallende Zuständigkeit für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zu übernehmen, oder davon absieht, von diesem Ermessen Gebrauch zu machen.

37.      Bei seiner Antwort, so das vorlegende Gericht, sollte sich der Gerichtshof dazu äußern, ob die Frage des Suspensiveffekts des im Ausgangsverfahren anhängigen und nach irischem Recht vorgesehenen „judicial review“ im Licht von Art. 27 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung (zweites Fragenkonvolut) oder Art. 47 der Charta (drittes Fragenkonvolut) zu beurteilen ist.

38.      Um meinen Standpunkt zu veranschaulichen, werde ich wie folgt vorgehen. Zuerst werde ich darstellen, wodurch sich der Inhalt der in Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Ermessensklausel im Einzelnen bestimmt (Unterabschnitt 1). Danach werde ich die Rechtsprechung zu dem in Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung verankerten Recht auf ein wirksames Rechtsmittel prüfen, um die Frage zu klären, ob dieses Recht auch das Recht umfasst, die Entscheidung, von der in Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Klausel Gebrauch zu machen oder von diesem Gebrauch abzusehen, anzufechten (Unterabschnitt 2). Schließlich wird die so gewonnene Auslegung am Maßstab der Erkenntnisse aus dem Urteil M. A. u. a. zu messen sein (Unterabschnitt 3), um auf diesem Wege zu einem Vorschlag für eine Antwort auf die vorliegende Vorlagefrage zu gelangen (Unterabschnitt 4).

1.      Die in Art. 17 Abs. 1 der DublinIII-Verordnung vorgesehene Klausel

39.      Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Dublin‑III-Verordnung die Kriterien und Verfahren der Bestimmung des Mitgliedstaats festlegen soll, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, der in einem der Mitgliedstaaten durch einen Drittstaatangehörigen oder einen Staatenlosen gestellt wurde.

40.      Das von dieser Verordnung begründete System beruht auf dem in ihrem Art. 3 Abs. 1 festgelegten Grundsatz, wonach für die Prüfung dessen, ob ein Antragsteller internationalen Schutzes bedarf, nur ein einziger Mitgliedstaat zuständig ist.

41.      Zu diesem Zweck wird in Kapitel III dieser Verordnung eine Rangfolge der objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien erstellt(4). Diese Kriterien sind in den Art. 8 bis 15 dieser Verordnung enthalten und sollen eine klare und praktikable Formel für eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats bereitstellen, um einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und um das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden(5).

42.      Kapitel IV der Dublin‑III-Verordnung enthält neben Art. 16 mit seinen Bestimmungen zu abhängigen Personen den Art. 17 („Ermessensklauseln“). Art. 17 Abs. 1 sieht vor, dass abweichend von Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung jeder Mitgliedstaat beschließen kann, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in der Dublin‑III-Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.

43.      Diese Vorschrift zeichnet sich im Wesentlichen durch drei Merkmale aus.

44.      Erstens handelt es sich um ein Flexibilitätselement der in Rede stehenden rechtlichen Regelung. Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung gibt die bereits in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (im Folgenden: Dublin‑II-Verordnung)(6) und zuvor in Art. 3 Abs. 4 des Dubliner Übereinkommens(7) enthaltene Souveränitätsklausel wieder. Diese Klausel hat deshalb alle von der Union in diesem Bereich vorgenommenen legislativen Reformen überdauert, weil sich in ihr der sich aus dem Völkerrecht und insbesondere aus der Genfer Flüchtlingskonvention(8) ergebende Grundsatz niederschlägt, wonach die Anerkennung des Rechts auf Asyl eine Prärogative des Staats ist(9). Mit anderen Worten müssen die Staaten nach diesem Grundsatz über das Recht verfügen, alle Asylanträge, die bei ihnen gestellt werden, in der Sache zu prüfen.

45.      Zweitens deutet die Verortung der Souveränitätsklausel in Kapitel IV der Dublin‑III-Verordnung darauf hin, dass sie ihrer Art nach gegenüber den in Kapitel III dieser Verordnung festgelegten Kriterien eigenständig ist.

46.      Drittens ist diese Klausel vor allem mit einer Zuweisung eines weiten Ermessens an die Mitgliedstaaten verbunden. Wie in der Rechtsprechung wiederholt anerkannt wurde, handelt es sich um eine Befugnis („jeder Mitgliedstaat [kann] beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen“)(10), die an keine besondere Voraussetzung gebunden ist. Nach der Auffassung des Gerichtshofs ist es Sache eines jeden Mitgliedstaats, die Umstände zu bestimmen, unter denen er von dieser Befugnis Gebrauch machen möchte, und zu beschließen, einen Antrag auf internationalen Schutz, für den er nach den in der Dublin‑III-Verordnung festgelegten Kriterien nicht zuständig ist, selbst zu prüfen(11).

47.      Denn die in Rede stehende Klausel wurde, wie der Vorschlag der Kommission, der zum Erlass der Dublin‑II-Verordnung führte(12), zeigt, eingeführt, um es jedem Mitgliedstaat zu ermöglichen, sich aus politischen, humanitären oder praktischen Erwägungen bereit zu erklären, einen Asylantrag zu prüfen, auch wenn er dafür nicht zuständig ist(13).

48.      Jedes Argument, wonach besondere Umstände der Rechtssache zu einer Eingrenzung des Ermessens des betreffenden Mitgliedstaats bis hin zur Begründung einer Verpflichtung dieses Mitgliedstaats in Bezug auf die Anwendung der Souveränitätsklausel führten, wurde vom Gerichtshof bisher zurückgewiesen(14).

49.      Insbesondere folgt aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass diese Klausel nicht als Rettungsanker gegen Störungen im Dublin-System geschaffen wurde, die womöglich zu Verstößen gegen Grundrechte der Personen führen, die internationalen Schutz beantragen(15).

50.      Insoweit ist daran zu erinnern, dass dieses System auf gegenseitigem Vertrauen beruht und dies eine Vermutung einschließt, dass die Grundrechte durch die anderen Mitgliedstaaten beachtet werden. Ein solches Vertrauen wird in zwei Fällen erschüttert.

51.      Der erste Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller im zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta mit sich bringen können. Falls dies darauf hinausläuft, dass der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, wenn es sich als unmöglich erweist, einen anderen Mitgliedstaat als zuständigen Staat zu bestimmen, selbst zuständig wird, so folgt eine solche Verpflichtung aus Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 der Dublin‑III-Verordnung und nicht aus dem Rückgriff auf die Souveränitätsklausel. Im zweiten Fall besteht die tatsächliche Gefahr, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt, wegen ihres Gesundheitszustands einer tatsächlichen Gefahr unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt wird. Im Urteil C. K. u. a.(16) hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Gefahr zwar die Aussetzung der Überstellung rechtfertigen kann, aber nicht dazu führt, dass der Mitgliedstaat, bei dem der Antrag gestellt wurde, verpflichtet wäre, sich selbst unter Anwendung der Souveränitätsklausel für zuständig zu erklären, die Prüfung dieses Antrags durchzuführen.

52.      Als Ergebnis ist festzuhalten, dass der Mitgliedstaat, bei dem der Antrag gestellt wurde, zwar im Hinblick auf die Notwendigkeit, die Grundrechte zu schützen, zumindest vorläufig dazu verpflichtet sein kann, von der Anwendung der in Kapitel III der Dublin‑III-Verordnung genannten Kriterien abzusehen; dieses Gebot der Notwendigkeit vermag die Mitgliedstaaten aber nicht dazu zu verpflichten, von der ihnen nach Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung übertragenen Befugnis, Entscheidungen an sich zu ziehen, Gebrauch zu machen. Deshalb unterscheidet sich der Fall, in dem der Grundrechtsschutz ein Abweichen von den in der Dublin‑III-Verordnung festgelegten Kriterien rechtfertigt, von jenem der Ausübung der Souveränitätsklausel. Der Gerichtshof hat jüngst in dem Urteil M. A. u. a. seinen Standpunkt bekräftigt, indem er darauf hinwies, dass auch Erwägungen des Kindeswohls einen Mitgliedstaat nicht dazu verpflichten können, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen und einen Antrag, für den er nicht zuständig ist, selbst zu prüfen.

53.      Schließlich kommt hinzu, dass nach der Rechtsprechung auch humanitäre Krisensituationen in bestimmten Mitgliedstaaten, wie sie etwa im Westbalkan von Ende 2015 bis Anfang 2016 auftraten, nicht eine Verpflichtung der anderen Mitgliedstaaten auslösen können, für die bei ihnen gestellten Anträge auf internationalen Schutz von der Souveränitätsklausel Gebrauch zu machen, wobei der Gerichtshof sich aber auch zu dem Hinweis veranlasst sah, dass ein Rückgriff auf diese Klausel in einem solchen Fall im Einklang mit dem in Art. 80 AEUV verankerten und der Dublin‑III-Verordnung zugrunde liegenden Solidaritätsgrundsatz stünde(17).

2.      Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf in der DublinIII-Verordnung

54.      Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung sieht vor, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt, ein Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht hat.

55.      Wie weit der Rechtsbehelf reicht, der einer Person, die internationalen Schutz beantragt, gegen eine sie betreffende Überstellungsentscheidung zu Gebote steht, wird im 19. Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung näher umschrieben. Danach soll der durch diese Verordnung geschaffene wirksame Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen, um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, zum einen die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung und zum anderen die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird(18).

56.      Hinsichtlich dessen, was Gegenstand der Prüfung ist, die sich auf die Anwendung der in Rede stehenden Verordnung bezieht, hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung die extensive Auslegung bekräftigt, die auf die Argumentationslinie des Urteils vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, im Folgenden: Urteil Ghezelbash), zurückgeht.

57.      Diese Argumentation stützt sich auf zwei wesentliche Erwägungen. Erstens hat der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Dublin‑III-Verordnung die Asylantragsteller in das Verfahren der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats einbezogen, indem er die Mitgliedstaaten verpflichtete, die Antragsteller über die Zuständigkeitskriterien zu unterrichten und ihnen Gelegenheit zur Mitteilung der Informationen zu geben, die es ermöglichen, fehlerfrei diese Kriterien anzuwenden, und indem er ihnen einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die am Ende des Verfahrens möglicherweise ergehende Überstellungsentscheidung eingeräumt hat. Zweitens soll die Dublin‑III-Verordnung zu Verbesserungen des Schutzes dieser Antragsteller führen, wobei dieser Schutz namentlich durch den ihnen gewährten gerichtlichen Rechtsschutz sichergestellt wird.

58.      Eine restriktive Auslegung der Reichweite, die dem in Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelf zukommt, könnte nach der Auffassung des Gerichtshofs insbesondere dadurch der Erreichung dieses Ziels entgegenstehen, dass den übrigen dem Asylbewerber mit dieser Verordnung gewährten Rechten ihre praktische Wirksamkeit genommen würde(19).

59.      Deshalb kam der Gerichtshof zunächst im Urteil Ghezelbash zu dem Schluss, dass sich ein Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine gegen ihn ergangene Überstellungsentscheidung auf die fehlerhafte Anwendung eines der in Kapitel III der Dublin‑III-Verordnung genannten Zuständigkeitskriterien berufen kann. In späteren Urteilen hat der Gerichtshof anerkannt, dass dieser Asylbewerber auch einen Verstoß gegen Bestimmungen in anderen Kapiteln der Dublin‑III-Verordnung, die den Asylbewerbern prozessuale Garantien gewähren, geltend machen kann.

60.      In dem Urteil Karim(20) ist für Recht erkannt worden, dass eine dieser Bestimmungen Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Verordnung ist, wonach, wenn der Drittstaatsangehörige nach der Stellung eines ersten Asylantrags in einem Mitgliedstaat das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, bevor er einen neuen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat, diesem letztgenannten Mitgliedstaat die Verpflichtung auferlegt wird, das Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats durchzuführen, der für die Prüfung des neuen Asylantrags zuständig ist.

61.      Nach dem Urteil Mengesteab(21) ist auch Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung eine solche Bestimmung, wonach, wenn das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb der dort vorgesehenen Frist unterbreitet wird, der Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für die Prüfung des Antrags zuständig ist. Im Urteil Shiri(22) hat der Gerichtshof auch Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung der in Rede stehenden Kategorie zugerechnet, wonach, wenn die Überstellung vom ersuchenden in den zuständigen Mitgliedstaat nicht innerhalb der in diesem Artikel vorgesehenen Frist durchgeführt wird, dieser letztgenannte Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht.

62.      Meiner Ansicht nach war es offenbar für den Gerichtshof in dieser Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung, dass eine jede dieser Bestimmungen den Rahmen absteckt, in dem das Verfahren der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats stattfinden muss, und außerdem ebenso wie die in Kapitel III genannten Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats beiträgt(23).

63.      Daraus folgt meines Erachtens, dass das gegen eine Überstellungsentscheidung gerichtete wirksame Rechtsmittel im Sinne von Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung seiner Reichweite nach auch die Prüfung der Anwendung dieser Bestimmungen umfasst, da in diesen Bestimmungen Regeln verankert sind, die, weil sie vom betreffenden Mitgliedstaat zwingend zu beachten sind, der Person, die internationalen Schutz beantragt, ein Recht auf Prüfung ihres Antrags durch den zuständigen Mitgliedstaat zuweisen.

64.      Dergleichen gilt aber nicht für Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, denn der Rückgriff auf die dort vorgesehene Souveränitätsklausel ist, wie bereits ausgeführt, rein fakultativer Natur(24).

65.      Es ist daher der Schluss zu ziehen, dass das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel im Sinne von Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung nicht auch das Recht umfasst, die Ablehnung des Mitgliedstaats, bei dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird, anzufechten, von der Souveränitätsklausel Gebrauch zu machen.

66.      Meines Erachtens wird diese Betrachtungsweise nicht durch das Urteil vom 1. August 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Ablehnung des Aufnahmegesuchs eines ägyptischen unbegleiteten Minderjährigen) (C‑19/21, EU:C:2022:605), in Frage gestellt.

67.      Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass der Person, die internationalen Schutz beantragt, ein Rechtsmittel nach Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung nicht nur dann zur Verfügung stehen muss, wenn der ersuchende Mitgliedstaat eine Überstellungsentscheidung erlässt, sondern auch dann, wenn der ersuchte Mitgliedstaat die Aufnahme des Betreffenden ablehnt. Diese weite Auslegung war dem Gerichtshof aber nur deshalb möglich, weil die Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Übernahme des betreffenden Antragstellers in Bezug auf eines der im Kapitel III dieser Verordnung aufgeführten Zuständigkeitskriterien in Frage gestellt worden war. Das folgt ausdrücklich aus der wie folgt formulierten Randnummer: „Beim gerichtlichen Schutz eines unbegleiteten minderjährigen Antragstellers darf jedoch für die Einhaltung des verbindlichen Zuständigkeitskriteriums aus Art. 8 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung nicht danach unterschieden werden, ob der ersuchende Mitgliedstaat eine Entscheidung zur Überstellung des Antragstellers getroffen hat oder ob der ersuchte Mitgliedstaat das Gesuch auf Aufnahme des Antragstellers ablehnt“(25). Ich schließe daraus, dass die Ablehnung einer Anwendung der Souveränitätsklausel nicht zu den Entscheidungen zu rechnen ist, auf die sich das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel im Sinne von Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung bezieht.

3.      Tragweite des Urteils M. A. u. a.

68.      Diese Auslegung ist meines Erachtens uneingeschränkt mit dem Urteil M. A. u. a. vereinbar.

69.      Zwei Teile dieses Urteils werden u. a. auch vom vorlegenden Gericht angeführt.

70.      Erstens hat der Gerichtshof geurteilt, dass das Ermessen, das den Mitgliedstaaten aufgrund der Souveränitätsklausel zuerkannt wird, integraler Bestandteil der vom Gesetzgeber erarbeiteten Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ist(26).

71.      Zweitens hat sich der Gerichtshof schon zur gleichen Problematik geäußert, die auch Gegenstand der vorliegenden Vorlagefrage ist. Insoweit hat er zunächst festgestellt, dass Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung nicht ausdrücklich einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, von der Befugnis im Sinne von Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung keinen Gebrauch zu machen, vorsieht und dass das Ziel einer raschen Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, das dem mit der Dublin‑III-Verordnung eingeführten Verfahren zugrunde liegt, es nahelegt, keine weiteren Rechtsbehelfe vorzusehen(27). Sodann hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass nach Art. 47 der Charta zwar jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen(28). Wenn ein Mitgliedstaat es jedoch ablehnt, von der Ermessensklausel Gebrauch zu machen, läuft dies jedoch nach Ansicht des Gerichtshofs zwangsläufig darauf hinaus, dass er eine Überstellungsentscheidung erlässt, wobei diese Weigerung dann gegebenenfalls im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine solche Überstellungsentscheidung angefochten werden kann(29). Somit gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass „er nicht dazu verpflichtet, einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, von der in Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Befugnis keinen Gebrauch zu machen, vorzusehen, wovon die Möglichkeit unberührt bleibt, diese Entscheidung im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung anzufechten“(30).

72.      Es ist einzuräumen, dass die Argumentation des Gerichtshofs nicht leicht zu verstehen ist und dass die Zweifel des vorlegenden Gerichts daher nicht überraschen. Offenbar neigt dieses Gericht zu einer Lesart, wie sie auch von AHY und der Kommission in ihren jeweiligen schriftlichen Erklärungen vertreten wird, nach der insofern, als Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung integraler Bestandteil der Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ist, das in Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung auch das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung nach Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung umfassen müsse.

73.      Meines Erachtens bestehen kaum Zweifel daran, dass diese Auslegung irrig ist.

74.      Zunächst ist anzumerken, dass in der Rechtssache, die zu dem Urteil M. A. u. a. führte, die Kläger nicht beantragt hatten, dass die Ministerin nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung die Souveränitätsklausel zu ihren Gunsten anwende. Vielmehr hatte das Office of the Refugee Applications Commissioner (Büro des Kommissars für Anträge der Flüchtlinge, Irland) ihre Überstellung nach dem Vereinigten Königreich empfohlen, nachdem es abgelehnt hatte, von dieser Klausel Gebrauch zu machen. Somit hängt die Antwort des Gerichtshofs notwendigerweise davon ab, ob eine solche Ablehnungsentscheidung vor dem Erlass der Überstellungsentscheidung erlassen wird(31). Insoweit hat der Gerichtshof im Wesentlichen entschieden, dass den aus dem Grundsatz eines wirksamen gerichtlichen Schutzes folgenden Anforderungen entsprochen wird, wenn diese Ablehnung im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung angefochten werden kann.

75.      Es wäre aber auch falsch, wenn, wie es auch AHY und die Kommission getan haben, im Umkehrschluss die Auffassung vertreten würde, dass diese Anforderungen, wenn die Entscheidung, von einem Rückgriff auf die Souveränitätsklausel abzusehen, nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung getroffen würde, einen gesonderten Rechtsbehelf gegen die erste Entscheidung unverzichtbar machten. Denn ein solches Verständnis wäre schwerlich mit den am Wortlaut und Sinn und Zweck orientierten Erwägungen in den ersten Randnummern der Antwort des Gerichtshofs auf diese Vorlagefrage zu vereinbaren, wonach einerseits Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung nicht ausdrücklich einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, von der Souveränitätsklausel keinen Gebrauch zu machen, vorsieht und andererseits insbesondere das Ziel einer raschen Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats es nahelegt, keine weiteren Rechtsbehelfe vorzusehen.

76.      Darüber hinaus ist die Formulierung in Rn. 79 des in Rede stehenden Urteils, wie sie oben wiedergegeben worden ist, dahin zu verstehen, dass ein spezifischer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung eines Mitgliedstaats, die Ausübung der ihm auf der Grundlage der Souveränitätsklausel zugewiesenen Befugnis abzulehnen, von diesem Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung grundsätzlich nicht vorgesehen ist und dass die bloße Feststellung in Bezug auf die Möglichkeit der Anfechtung dieser Entscheidung im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung davon abhängt, dass die erste Entscheidung vor der zweiten Entscheidung erlassen wird.

77.      Diese Erwägungen könnten der Schlüssel für eine Auslegung der oben angeführten Randnummer des Urteils sein, wonach das den Mitgliedstaaten mit der Souveränitätsklausel eröffnete Ermessen integraler Bestandteil der von der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ist.

78.      Es ist zunächst anzumerken, dass sich der Gerichtshof im Rahmen seiner auf das Urteil N. S. u. a. zurückgehenden Rechtsprechung auf diese Feststellung stützte, als er zu dem Schluss kam, dass die auf Grundlage der Souveränitätsklausel getroffene Entscheidung eines Mitgliedstaats das Unionsrecht durchführt und dass dabei deshalb die in der Charta verankerten Rechte zu beachten sind(32).

79.      Meines Erachtens ist es nicht möglich, sich zur Stützung der Auffassung, dass den Personen, die internationalen Schutz beantragen, vom Recht des betreffenden Mitgliedstaats notwendigerweise ein spezifischer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, einen Rückgriff auf die Souveränitätsklausel abzulehnen, zuerkannt werden muss, auf diese Feststellung zu berufen.

80.      Mit seiner Ausführung, dass das aus Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung folgende Ermessen zu den „Verfahren“ zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gehört, hat der Gerichtshof meines Erachtens nämlich eine Formulierung verwendet, die darauf hinweist, dass dieser Artikel nicht zu den Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung gehört, die den Mitgliedstaaten eine Verpflichtung auferlegen und die dementsprechend den Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz stellen, ein Recht gewähren.

81.      Die Ausübung dieses Ermessens führt das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durch, soweit dieses Ermessen zum Erlass einer Überstellungsentscheidung führt. Deshalb kann jeder auf einen Verstoß gegen die Charta gestützte Grund im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen diese letztgenannte Entscheidung, wie in Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehen, geltend gemacht werden. Dagegen müssten in einem Fall, in dem eine Person, die internationalen Schutz beantragt, die Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung wegen eines die Ablehnung der Anwendung der Souveränitätsklausel betreffenden Fehlers beanstandet, die dabei vorgebrachten Gründe notwendigerweise auf nationalem Recht beruhen.

4.      Schlussfolgerung zur ersten Vorlagefrage

82.      Nach den vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass er den Mitgliedstaaten nicht aufgibt, ein wirksames Rechtsmittel gegen die Entscheidung vorzusehen, mit der der jeweilige Mitgliedstaat von seinem Ermessen Gebrauch macht, nach Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung die Zuständigkeit für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zu übernehmen, oder davon absieht, von diesem Ermessen Gebrauch zu machen.

83.      In Anbetracht der vorstehenden Anmerkungen zur Natur der Souveränitätsklausel wird die vorgeschlagene Auslegung nicht durch den Umstand entkräftet, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens zur Stützung seines Antrags auf Anwendung dieser Klausel sich auf einen Aspekt, nämlich einen medizinischen Bericht über seinen psychischen Gesundheitszustand, berufen hat, mit dem bewiesen werden soll, dass die Gefahr der Verletzung eines dieser Grundrechte besteht. In Anbetracht des Fehlens unionsrechtlicher Beschränkungen kann die Entscheidung der Ministerin, von einer Anwendung dieser Klausel abzusehen, nur insoweit einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen werden, als sich diese, wie vom irischen Recht vorgesehen, auf deren formelle Rechtmäßigkeit bezieht.

84.      Ebenso wenig kann von einer Unvereinbarkeit mit den Feststellungen des Gerichtshofs im Urteil M. A. u. a. ausgegangen werden, wonach die Dublin‑III-Verordnung nicht verlangt, dass die Bestimmung des nach den durch diese Verordnung festgelegten Kriterien zuständigen Mitgliedstaats und die Ausübung des aus der Souveränitätsklausel erwachsenden Ermessens durch ein und dieselbe nationale Behörde erfolgt.

85.      Dabei ist mir nicht entgangen, dass die von mir vorgeschlagene Auslegung nicht nur zur Folge hat, dass die Mitgliedstaaten vorsehen müssen, dass der Erlass der gemäß der Souveränitätsklausel erlassenen Entscheidung stets vor dem Erlass der Überstellungsentscheidung erfolgen muss, sondern auch dazu führt, dass bestimmte Mitgliedstaaten, wie etwa Irland, verpflichtet werden, die Kompetenzverteilung zwischen den Gerichtsbehörden zu überprüfen, um sicherzustellen, dass die mit dem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befasste Behörde für die Beurteilung der Weigerung, diese Klausel anzuwenden, zuständig ist. Denn auch wenn vorgesehen wäre, dass jede Entscheidung über die Anwendung der Souveränitätsklausel vor dem Erlass einer Überstellungsentscheidung durch das IPO ergeht, wäre nach wie vor davon auszugehen, dass das IPAT für die zur Rechtmäßigkeitsprüfung einer solchen Entscheidung vorgetragenen Argumente nicht zuständig ist.

86.      Es ist jedoch festzustellen, dass aus diesem Grund insofern keine andere Auslegung vorgenommen werden muss, als sich ein Mitgliedstaat bekanntlich nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen kann, um die Nichteinhaltung seiner aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen(33).

87.      Da auf die zweite Vorlagefrage nur im Fall einer Bejahung der vorliegenden Frage zu antworten ist, ist nur noch die dritte Frage des vorlegenden Gerichts zu beantworten.

B.      Zur dritten Vorlagefrage

88.      Mit seiner dritten Frage will das vorlegende Gericht im Wesentlichen hauptsächlich wissen, ob das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 der Charta dem entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat eine Überstellungsentscheidung bis zur Entscheidung über den Antrag, dass dieser Staat sein Ermessen nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung ausübt, oder über einen nach nationalem Recht eingelegten spezifischen gerichtlichen Rechtsbehelf, mit dem die Bescheidung dieses Antrags angefochten wird, durchführt.

89.      Mit anderen Worten hat das vorlegende Gericht Zweifel daran, ob eine Person, die internationalen Schutz beantragt und die die Aufhebung einer Überstellungsentscheidung nicht erwirkt hat, indem sie sich auf die Kriterien des Kapitels III der Dublin‑III-Verordnung berief, über deren Antrag auf „judicial review“ gegen die Ablehnung, die Souveränitätsklausel anzuwenden, aber noch nicht entschieden wurde, überstellt werden könnte, bevor über diesen Antrag entschieden worden ist. Daher wäre es nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sachgerecht, wenn die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen diese Ablehnungsentscheidung in gewisser Weise aufschiebende Wirkung hätte, um eine Verletzung von Art. 47 der Charta zu vermeiden.

90.      Zu Art. 47 der Charta ist zunächst anzumerken, dass die Präambel der Dublin‑III-Verordnung Verweise auf diese Vorschrift enthält. Nach ihrem 19. Erwägungsgrund soll im Einklang insbesondere mit Art. 47 der Charta das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Nach ihrem 39. Erwägungsgrund zielt diese Verordnung insbesondere darauf ab, sowohl die uneingeschränkte Wahrung des in Art. 18 der Charta verankerten Rechts auf Asyl als auch die in ihren Art. 1, 4, 7, 24 und 47 anerkannten Rechte zu gewährleisten.

91.      Art. 47 der Charta hat folgenden Wortlaut: „Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.“

92.      Nach der Rechtsprechung ist es für die Wirksamkeit dieses Rechtsbehelfs in außergewöhnlichen Fällen erforderlich, dass ihm aufschiebende Wirkung zukommt. Konkret hat der Gerichtshof zur Richtlinie 2008/115/EG(34) entschieden, dass, wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen dessen Recht verletzen könnte, keiner unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, diesem Drittstaatsangehörigen ein Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung gegen die Durchführung der diese Abschiebung ermöglichenden Entscheidung zur Verfügung stehen muss, um zu vermeiden, dass vor Abschluss dieses Rechtsbehelfs ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden eintritt(35).

93.      Im Übrigen hat es der Gerichtshof im Hinblick auf die Dublin‑III-Verordnung nicht ausgeschlossen, dass die Durchführung einer Überstellungsentscheidung ausnahmsweise zu einem solchen Schaden führen könnte(36) und dass die Wirksamkeit eines Rechtsbehelfs gegen eine solche Entscheidung nur gewährleistet werden kann, wenn ihm aufschiebende Wirkung zukommt.

94.      Dennoch ist offenkundig, dass sich die Probleme, die mit der Anforderung, dass eine solche Wirksamkeit zu gewährleisten ist, zusammenhängen, in einer Situation wie der vorliegenden nicht stellen.

95.      Art. 47 der Charta verlangt einen wirksamen Rechtsbehelf nämlich nur dann, wenn es um den Schutz von Rechten (oder Freiheiten) geht, die durch das Unionsrecht garantiert werden. Wie bereits erläutert worden ist, steht dagegen der Person, die internationalen Schutz beantragt, kein durch das Unionsrecht garantiertes Recht zu, dass der Mitgliedstaat, in dem ihr Antrag gestellt wurde, die Prüfung dieses Antrags gemäß Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung übernimmt. In Ermangelung eines solchen Rechts kommt das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, wie es in Art. 47 der Charta verankert ist, nicht zur Anwendung.

96.      Deshalb ist die Frage, ob der vom irischen Recht vorgesehene „judicial review“ aufschiebende Wirkung hat, ausschließlich nach den Bestimmungen dieses letztgenannten Rechts zu beantworten.

97.      Hilfsweise stellt das vorlegende Gericht eine Frage zur Auslegung von Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung.

98.      Es ist daran zu erinnern, dass nach diesem Artikel die Überstellung der betroffenen Person erfolgt, sobald dies praktisch möglich ist, und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs dieser Person durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung erfolgt, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 dieser Verordnung aufschiebende Wirkung haben.

99.      Das vorlegende Gericht will im Wesentlichen wissen, ob ein spezifischer gerichtlicher Rechtsbehelf gegen eine Ablehnung der Anwendung der Souveränitätsklausel bewirkt, dass die Frist für die Durchführung einer nach Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Überstellungsentscheidung ausgesetzt wird, oder ob er eine sonstige aufschiebende Wirkung auf die Überstellungsentscheidung hat. Genauer gesagt will das vorlegende Gericht meines Erachtens geklärt wissen, ob Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung dahin zu verstehen ist, dass die dort vorgesehene sechsmonatige Frist ab dem Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf zu laufen beginnt, der sich wie der „judicial review“ irischen Rechts gegen eine nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung ergangene Entscheidung eines Mitgliedstaats richtet, von der Souveränitätsklausel keinen Gebrauch zu machen.

100. Diese Frage ist meines Erachtens notwendigerweise zu verneinen.

101. Wie ich bereits dargelegt habe, verlangt Art. 47 der Charta nicht, dass die Mitgliedstaaten einem nach den nationalen Rechtsvorschriften eingelegten Rechtsbehelf wie vorliegend dem „judicial review“ einen Suspensiveffekt beilegen. Folgerichtig beginnt die sechsmonatige Frist für die Durchführung der Überstellung der Person, die internationalen Schutz beantragt, im vorliegenden Fall ab dem Zeitpunkt der Zurückweisung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung zu laufen.

102. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die dritte Vorlagefrage zu antworten, dass es Art. 47 der Charta nicht zuwiderläuft, wenn ein Mitgliedstaat eine Überstellungsentscheidung durchführt, bevor über den Antrag, dass dieser Staat sein Ermessen nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung ausüben möge, oder über einen spezifischen gerichtlichen Rechtsbehelf befunden worden ist, der gemäß den Bestimmungen des nationalen Rechts gegen die Bescheidung eines solchen Antrags eingelegt worden ist. In diesem Fall beginnt die sechsmonatige Frist für die Durchführung der Überstellung der Person, die internationalen Schutz beantragt, wie von Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehen, ab dem Zeitpunkt der Abweisung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung zu laufen.

C.      Abschließende Bemerkungen

103. Nach einer von der Kommission in Auftrag gegebenen und 2016 veröffentlichten Studie hatten die irischen Behörden schon zu dieser Zeit ihre Unzufriedenheit mit der durch Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung verursachten erheblichen Zunahme der Streitfälle zum Ausdruck gebracht. Der Darstellung dieser Behörden zufolge wurde diese Bestimmung auf nationaler Ebene als Einführung eines „quasineuen Verfahrens“ verstanden, das bewirkte, dass den nationalen Gerichten ein erheblicher Verwaltungsaufwand aufgebürdet wird(37).

104. Nach meiner Auffassung ist Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung nicht dahin zu verstehen, dass er ein Verwaltungsverfahren zuließe, das sich von dem Verfahren unterscheidet, das mit dem Erlass der Überstellungsentscheidung endet. Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass mit der Dublin‑III-Verordnung ein rechtliches Regelwerk geschaffen wurde, in dem keine nach der Überstellungsentscheidung ergangene Verwaltungsmaßnahme die Wirksamkeit dieser Entscheidung beeinträchtigen kann.

105. Bei einer solchen Sichtweise ist es offensichtlich so, dass die nationalen Bestimmungen, die die Ausübung des aus der Souveränitätsklausel folgenden Ermessens von der nach der Dublin‑III-Verordnung vorgenommenen Überstellungsentscheidung loslösen und die es erlauben, dass ein Antrag auf Ausübung dieses Ermessens ungeachtet des Erlasses einer Überstellungsentscheidung und nach diesem Erlass gestellt und geprüft wird, das reibungslose Funktionieren der Dublin‑III-Verordnung generell behindern können, wie dies auch von der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen eingeräumt wird.

106. Abgesehen davon, dass eine Schlussfolgerung, nach der die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, einen gesonderten Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, die Souveränitätsklausel anzuwenden oder diese nicht anzuwenden, vorzusehen, auf einem unzutreffenden Verständnis der maßgeblichen sekundärrechtlichen Vorschriften beruhte, würde eine solche Folgerung meines Erachtens aus Sicht der Mitgliedstaaten letztlich nationale Legislativmaßnahmen gutheißen, die zu dem am Ende der vorstehenden Randnummer beschriebenen Ergebnis führen könnten.

107. Insoweit möchte ich zur Veranschaulichung auf Art. 26 dieser Verordnung hinweisen.

108. Nach diesem Artikel, der zu den von der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Verfahrensgarantien gehört, umfasst die Zustellung der Überstellungsentscheidung an die betroffene Person gegebenenfalls auch eine Entscheidung, ihren Antrag auf internationalen Schutz nicht zu prüfen, worunter etwa meines Erachtens auch eine Ablehnung der Anwendung der Souveränitätsklausel fällt. Eine solche Entscheidung könnte meiner Ansicht nach nicht im Rahmen der Überstellungsentscheidung zugestellt werden, wenn sie erst nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung erfolgte. Im Übrigen verhält es sich nach meinem Dafürhalten in diesem Fall so, dass die Rechtsbehelfsbelehrung, die in der gemäß Art. 26 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung zugestellten Entscheidung enthalten sein muss, notwendigerweise von partieller Natur ist, da sie nicht die Rechtsbehelfe umfassen könnte, die gegen die Ablehnung der Anwendung der Souveränitätsklausel zur Verfügung stehen.

IV.    Ergebnis

109. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des High Court (Hohes Gericht, Irland) zu antworten:

1.      Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist,

ist dahin auszulegen, dass

er den Mitgliedstaaten nicht aufgibt, ein wirksames Rechtsmittel gegen die Entscheidung vorzusehen, mit der der jeweilige Mitgliedstaat von seinem Ermessen Gebrauch macht, nach Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung die Zuständigkeit für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz, für die er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht zuständig ist, zu übernehmen, oder davon absieht, von diesem Ermessen Gebrauch zu machen.

2.      Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union läuft es nicht zuwider, wenn ein Mitgliedstaat eine Überstellungsentscheidung durchführt, bevor über den Antrag, dass dieser Staat sein Ermessen nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ausüben möge, oder über einen spezifischen gerichtlichen Rechtsbehelf befunden worden ist, der gemäß den Bestimmungen des nationalen Rechts gegen die Bescheidung eines solchen Antrags eingelegt worden ist. In diesem Fall beginnt die sechsmonatige Frist für die Durchführung der Überstellung der Person, die internationalen Schutz beantragt, wie von Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehen, ab dem Zeitpunkt der Abweisung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung zu laufen.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31).


3      Urteil vom 23. Januar 2019 (C‑661/17, im Folgenden: Urteil M. A. u. a., EU:C:2019:53).


4      Vgl. fünfter Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung.


5      Vgl. vierter Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung.


6      Verordnung des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1).


7      Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags – Dubliner Übereinkommen (ABl. 1997, C 254, S. 1).


8      Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, unterzeichnet in Genf am 28. Juli 1951, United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 (1954).


9      Vgl. Urteil vom 5. Juli 2018, X (C‑213/17, EU:C:2018:538, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).


10      Hervorhebung nur hier.


11      Vgl. Urteil vom 16. Februar 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Zum Zeitpunkt des Asylantrags ungeborenes Kind) (C‑745/21, EU:C:2023:113, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).


12      Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines dritten Landes in einem Mitgliedstaat gestellt hat, KOM(2001) 447 endg. – 2001/0182(CNS) (ABl. 2001, C 304 E, S. 192).


13      Vgl. Urteil vom 4. Oktober 2018, Fathi (C‑56/17, EU:C:2018:803, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14      Vgl. insbesondere Urteile vom 14. November 2013, Puid (C‑4/11, EU:C:2013:740), vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127), und M. A. u. a.


15      Vgl. insoweit die Ausführungen von Petralia, V., „Clausola di sovranità e tutela dei diritti umani nel sistema di Dublino“, Studi sull’integrazione europea, XII (2017), S. 553 bis 568.


16      Urteil vom 16. Februar 2017 (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127).


17      Vgl. Urteil vom 26. Juli 2017, Jafari (C‑646/16, EU:C:2017:586, Rn. 100). Vgl. ferner die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Die Europäische Migrationsagenda (COM[2015] 240 final), in der die Kommission ihren Wunsch bekundet, dass die Mitgliedstaaten „umfassender und regelmäßig die Ermessensklauseln nutzen [sollten], die ihnen ermöglichen, einen Asylantrag zu prüfen und die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen zu entlasten“.


18      Vgl. Urteil vom 2. April 2019, H. und R. (C‑582/17 und C‑583/17, EU:C:2019:280, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Vgl. Urteil Ghezelbash, Rn. 51 bis 53.


20      Urteil vom 7. Juni 2016 (C‑155/15, EU:C:2016:410).


21      Urteil vom 26. Juli 2017 (C‑670/16, EU:C:2017:587).


22      Urteil vom 25. Oktober 2017 (C‑201/16, EU:C:2017:805).


23      Vgl. Urteile vom 7. Juni 2016, Karim (C‑155/15, EU:C:2016:410, Rn. 23 bis 25), vom 26. Juli 2017, Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 53), und vom 25. Oktober 2017, Shiri (C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 39).


24      Insoweit ist anzumerken, dass die notwendige Wechselbeziehung zwischen dem Umstand, dass die öffentlichen Verwaltungsstellen über ein weites Ermessen verfügen, und dem Fehlen eines Anspruchs der Adressaten auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) bei der Prüfung dessen zum Ausdruck gebracht wurde, ob die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 6 (Recht auf ein faires Verfahren) der am 4. November 1950 unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) erfüllt seien. Denn auch wenn der EGMR wiederholt entschieden hat, dass das bloße Vorhandensein eines Ermessenselements im Wortlaut einer gesetzlichen Vorschrift das Bestehen eines Rechts nicht an sich ausschließe (vgl. EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2016, Miessen/Belgien, CE:ECHR:2016:1018JUD003151712, § 48), kam er in Fällen, in denen die zuständige Behörde über ein weites Ermessen verfügte, auch zu dem Schluss, dass ein Recht nicht festgestellt werden könne und dass Art. 6 der EMRK deshalb nicht anwendbar sei (EGMR, Urteile vom 28. September 1995, Masson und Van Zon/Niederlande, CE:ECHR:1995:0928JUD001534689, § 51, Beschwerde Nr. 327‑A, §§ 48 bis 52, und vom 3. April 2012, Boulois/Luxemburg, CE:ECHR:2012:0403JUD003757504, insbesondere § 102).


25      Urteil vom 1. August 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Ablehnung des Aufnahmegesuchs eines ägyptischen unbegleiteten Minderjährigen) (C‑19/21, EU:C:2022:605, Rn. 41) (Hervorhebung nur hier).


26      Urteil M. A. u. a., Rn. 64.


27      Urteil M. A. u. a., Rn. 75 und 76.


28      Urteil M. A. u. a., Rn. 77.


29      Urteil M. A. u. a., Rn. 78.


30      Urteil M. A. u. a., Rn. 79.


31      Noch eindeutiger folgt dies aus Rn. 78 des Urteils M. A. u. a. in der englischen Fassung der Verfahrenssprache („if a Member State refuses to use the discretionary clause set out in Article 17[1] of the Dublin III Regulation, that necessarily means that that Member State must adopt a transfer decision“) (Hervorhebung nur hier).


32      Urteil vom 21. Dezember 2011 (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 68 und 69). Vgl. auch Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 53).


33      Vgl. Urteil vom 27. April 2023, M. D. (Verbot der Einreise nach Ungarn) (C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).


34      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).


35      Vgl. insbesondere Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida (C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 50).


36      Vgl. Urteil vom 30. März 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Überstellungsfrist – Menschenhandel) (C‑338/21, EU:C:2023:269, Rn. 45 und 46).


37      Vgl. die vom Information and Cooperation Forum für die Kommission erstellte Studie vom 18. März 2016, „Evaluation of the Implementation of the Dublin III Regulation – Final Report“ (Bewertung der Umsetzung der Dublin‑III-Verordnung – Abschlussbericht), S. 35.