Language of document : ECLI:EU:C:2021:170

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 4. März 2021(1)

Verbundene Rechtssachen C357/19 und C547/19

Ministerul Public – Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Direcţia Naţională Anticorupţie,

PM,

RO,

SP,

TQ

gegen

QN,

UR,

VS,

WT,

Autoritatea Naţională pentru Turism,

Agenţia Naţională de Administrare Fiscală,

SC Euro Box Promotion SRL (C357/19)

und

CY,

Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“

gegen

Inspecţia Judiciară,

Consiliul Superior al Magistraturii,

Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (C547/19)

(Vorabentscheidungsersuchen der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie [Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union – Art. 325 Abs. 1 AEUV – Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften – Strafverfahren wegen Korruption – Teilweise durch Mittel der Europäischen Union unterstützte Projekte – Entscheidung eines Verfassungsgerichts über die Rechtmäßigkeit der Besetzung gerichtlicher Spruchkörper – Nationale Rechtsvorschriften, nach denen die Besetzung gerichtlicher Spruchkörper durch Losentscheid erfolgen muss – Außerordentlicher Rechtsbehelf gegen rechtskräftige Gerichtsentscheidungen – Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht – Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richterliche Unabhängigkeit – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Vorrang des Unionsrechts – Disziplinarverfahren gegen Mitglieder der Justiz“






Inhaltsverzeichnis


I. Einleitung

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

B. Rumänisches Recht

1. Rumänische Verfassung

2. Gesetz Nr. 303/2004

3. Gesetz Nr. 304/2004

4. Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise der ÎCCJ

5. Strafprozessordnung

6. Strafgesetzbuch

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

A. Rechtssache C357/19

B. Rechtssache C547/19

C. Verfahren vor dem Gerichtshof

IV. Würdigung

A. Zulässigkeit der Vorlagefragen

1. Rechtssache C357/19

a) Fehlende Zuständigkeit der Union

b) Erheblichkeit der Vorlagefragen für das Ausgangsverfahren

2. Rechtssache C547/19

a) Fehlende Zuständigkeit der Union

b) Erheblichkeit der Vorlagefrage für das Ausgangsverfahren

B. Anwendbares Unionsrecht

1. Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV

2. VZÜ-Entscheidung (und Charta)

3. Art. 325 Abs. 1 AEUV, PIFÜbereinkommen (und Charta)

a) Art. 325 Abs. 1 AEUV und Mehrwertsteuer

b) Art. 325 Abs. 1 AEUV, PIFÜbereinkommen und Korruption im Zusammenhang mit Unionsmitteln

c) Erfasst Art. 325 Abs. 1 AEUV auch den Versuch?

d) Ist der Anwendungsbereich von Art. 325 Abs. 1 AEUV vom Ausgang des Gerichtsverfahrens abhängig?

4. Zwischenergebnis

C. Beurteilung

1. Nationaler rechtlicher Kontext

2. Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht

a) Unionsrechtlicher Standard

b) Analyse

c) Zwischenergebnis

3. Schutz der finanziellen Interessen der Union

1) Unionsrechtlicher Rahmen

2) Standpunkte der Verfahrensbeteiligten

3) Analyse

i) Welches sind die maßgebenden Kriterien?

ii) Anwendung auf den vorliegenden Fall

iii) Zwischenergebnis

4. Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit

1) Zu den vom vorlegenden Gericht geäußerten Bedenken

2) Unionsrechtlicher Rahmen

3) Analyse

i) Besetzung und Status des Verfassungsgerichts

ii) Befugnisse und Praxis des Verfassungsgerichts

iii) Der Grundsatz der Rechtskraft (res iudicata)

iv) Vorbehalt

v) Zwischenergebnis

5. Vorranggrundsatz

V. Ergebnis


I.      Einleitung

1.        Beim Gerichtshof sind im Jahr 2019 von verschiedenen rumänischen Gerichten mehrere Vorabentscheidungsersuchen zur Unabhängigkeit der Justiz, zur Rechtsstaatlichkeit und zur Korruptionsbekämpfung eingereicht worden. Die erste Fallgruppe betraf verschiedene Änderungen der nationalen Gesetze über das Justizwesen, die meist durch Dringlichkeitsverordnungen erfolgt waren(2).

2.        Die vorliegenden verbundenen Rechtssachen sind „Musterverfahren“ der zweiten Fallgruppe(3). Das Hauptthema der zweiten Gruppe ist von dem der ersten Gruppe recht verschieden: Können Entscheidungen der Curtea Constituțională a României (Verfassungsgericht Rumäniens; im Folgenden: Verfassungsgericht) gegen Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und der Rechtsstaatlichkeit sowie gegen den Schutz der finanziellen Interessen der Union verstoßen?

3.        In den beiden vorliegenden verbundenen Rechtssachen geht es vor allem um die Auswirkungen einer Entscheidung des Verfassungsgerichts, mit der im Wesentlichen festgestellt wurde, dass einige Spruchkörper des obersten nationalen Gerichts, der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien; im Folgenden: ÎCCJ), nicht ordnungsgemäß errichtet worden seien. Diese Entscheidung hatte zur Folge, dass einige der betroffenen Verfahrensbeteiligten außerordentliche Rechtsbehelfe einlegen konnten, was wiederum zu Fragen nicht nur in Bezug auf den Schutz der finanziellen Interessen der Union gemäß Art. 325 Abs. 1 AEUV, sondern auch auf die Auslegung des Begriffs „ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) führte. Dies alles spielt sich letztlich in einem nationalen institutionellen Rahmen ab, in dem die Nichtbefolgung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts ein Disziplinarvergehen darstellt.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

4.        Art. 1 des Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (im Folgenden: PIF‑Übereinkommen)(4) lautet:

„(1)      Für die Zwecke dieses Übereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften

a)      im Zusammenhang mit Ausgaben jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend

–        die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, unrechtmäßig erlangt oder zurückbehalten werden;

–        das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge;

–        die missbräuchliche Verwendung solcher Mittel zu anderen Zwecken als denen, für die sie ursprünglich gewährt worden sind;

(2)      Vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 2 trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen und geeigneten Maßnahmen, um Absatz 1 so in sein innerstaatliches Recht umzusetzen, dass die von ihm erfassten Handlungen als Straftaten umschrieben werden.

(3)      Vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 2 ergreift jeder Mitgliedstaat ferner die erforderlichen Maßnahmen, damit die vorsätzliche Herstellung oder Bereitstellung falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der in Absatz 1 erwähnten Folge als Straftat umschrieben wird, sofern sie nicht bereits entweder als selbständige Straftat oder als Beteiligung am Betrug im Sinne von Absatz 1, als Anstiftung dazu oder als Versuch eines solchen Betrugs strafbar ist.

(4)      Der vorsätzliche Charakter einer Handlung oder Unterlassung im Sinne der Absätze 1 und 3 kann aus den objektiven Tatumständen geschlossen werden.“

5.        In Art. 2 des PIF‑Übereinkommens heißt es:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen um sicherzustellen, dass die in Artikel 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligung an den Handlungen im Sinne von Artikel 1 Absatz 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können, die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung führen können; als schwerer Betrug gilt jeder Betrug, der einen in jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand hat. Dieser Mindestbetrag darf 50 000 ECU nicht überschreiten.

…“

B.      Rumänisches Recht

1.      Rumänische Verfassung

6.        Die rumänische Verfassung in der durch das Gesetz Nr. 429/2003 geänderten Fassung enthält folgende Bestimmungen:

„Artikel 142 – Struktur

(1)      Das Verfassungsgericht ist der Garant für den Vorrang der Verfassung.

(2)      Das Verfassungsgericht ist mit neun Richtern besetzt, die für eine Amtszeit von neun Jahren ernannt werden, die nicht verlängert oder erneuert werden kann.

(3)      Drei Richter werden von der Camera Deputaţilor (Abgeordnetenkammer), drei vom Senat und drei vom Präsidenten Rumäniens ernannt.

Artikel 143 – Voraussetzungen für die Ernennung

Die Richter des Verfassungsgerichts müssen über hervorragende juristische Qualifikationen, ein hohes Maß an fachlicher Kompetenz und mindestens 18 Jahre Erfahrung im juristischen Beruf oder in der juristischen Hochschulausbildung verfügen.

Artikel 145 – Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit

Die Richter des Verfassungsgerichts sind in der Ausübung ihres Amtes unabhängig und während der gesamten Amtszeit unabsetzbar.

Artikel 146 – Aufgaben

Das Verfassungsgericht hat die folgenden Aufgaben:

e)      Beilegung von verfassungsrechtlichen Konflikten zwischen öffentlichen Stellen auf Antrag des Präsidenten Rumäniens, eines der Präsidenten der beiden Kammern [des rumänischen Parlaments], des Ministerpräsidenten oder des Präsidenten des Consiliul Superior al Magistraturii (Oberster Rat der Richter und Staatsanwälte; im Folgenden: Oberster Richterrat);

Artikel 147 – Entscheidungen des Verfassungsgerichts

(1)      Die Bestimmungen von geltenden Gesetzen und Anordnungen sowie die Bestimmungen von Verordnungen, deren Verfassungswidrigkeit festgestellt wurde, verlieren 45 Tage nach der Veröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsgerichts ihre Rechtswirkung, wenn das Parlament bzw. die Regierung in dieser Zeit die verfassungswidrigen Bestimmungen nicht mit den Bestimmungen der Verfassung in Einklang bringt. Während dieses Zeitraums sind die als verfassungswidrig befundenen Bestimmungen von Rechts wegen außer Kraft gesetzt.

(2)      In Fällen einer Gesetze betreffenden Verfassungswidrigkeit ist das Parlament vor der Verkündung dieser Gesetze verpflichtet, die betreffenden Bestimmungen zu überprüfen, um sie mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts in Einklang zu bringen.

(4)      Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts werden im Monitorul Oficial al României [(Amtsblatt Rumäniens)] veröffentlicht. Ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung sind diese Entscheidungen allgemein verbindlich und haben Rechtswirkung nur für die Zukunft.“

2.      Gesetz Nr. 303/2004

7.        Gemäß Art. 99 Buchst. ș der Legea nr. 303/2004 privind statutul judecătorilor și procurorilor (Gesetz Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten; im Folgenden: Gesetz Nr. 303/2004)(5) stellt die „Nichtbeachtung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts“ ein Disziplinarvergehen dar.

3.      Gesetz Nr. 304/2004

8.        Die Besetzung der Spruchkörper der ÎCCJ ist in den Art. 32 und 33 der Legea nr. 304/2004 privind organizarea judiciară (Gesetz Nr. 304/2004 über die Organisation des Justizwesens; im Folgenden: Gesetz Nr. 304/2004)(6) geregelt. Diese Bestimmungen wurden in den Jahren 2010, 2013 und 2018 geändert.

9.        In der durch die Legea nr. 207/2018 pentru modificarea și completarea Legii nr. 304/2004 privind organizarea judiciară (Gesetz Nr. 207/2018 zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes Nr. 304/2004)(7) geänderten Fassung lautet Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 wie folgt:

„(1)      Zu Beginn eines jeden Jahres genehmigt das Leitungsgremium auf Vorschlag des Präsidenten oder der Vizepräsidenten der [ÎCCJ] die Anzahl und die Besetzung der Spruchkörper mit fünf Richtern.

(2)      In Strafsachen sind die Spruchkörper mit fünf Richtern mit Mitgliedern des Strafsenats der [ÎCCJ] besetzt.

(3)      In anderen Sachen als Strafsachen sind die Spruchkörper mit fünf Richtern je nach Art der Rechtssache mit Fachrichtern besetzt.

(4)      Die Richter, die diesen Spruchkörpern angehören, werden in öffentlicher Sitzung vom Präsidenten oder, bei dessen Abwesenheit, von einem der beiden Vizepräsidenten der [ÎCCJ] durch Losentscheid bestimmt. Die Mitglieder der Spruchkörper, bei denen Rechtssachen anhängig sind, können nur in Ausnahmefällen unter Berücksichtigung objektiver Kriterien, die im Regulamentul privind organizarea și funcționarea administrativă a Înaltei Curți de Casație și Justiție [(Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise der ÎCCJ]] festgelegt sind, ausgewechselt werden.

(5)      Den Vorsitz in Spruchkörpern mit fünf Richtern führen der Präsident der [ÎCCJ], einer der beiden Vizepräsidenten oder einer der Senatspräsidenten, wenn sie gemäß Absatz 4 als Mitglied des betreffenden Spruchkörpers bestimmt worden sind.

(6)      Wenn für einen Spruchkörper mit fünf Richtern keine der vorgenannten Personen als Mitglied bestimmt wurde, wird der Vorsitz im Spruchkörper von einem Richter im Rotationsverfahren in der Reihenfolge des Dienstalters der Richter geführt.

(7)      Rechtssachen, die in die Zuständigkeit der Spruchkörper mit fünf Richtern fallen, werden nach dem Zufallsprinzip mit Hilfe eines computergestützten Systems zugewiesen.“

4.      Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise der ÎCCJ

10.      Das Regulamentul privind organizarea și funcționarea administrativă a ÎCCJ (Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise der ÎCCJ; im Folgenden: ÎCCJ-Verordnung)(8) wurde auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 304/2004 erlassen. Die Verordnung wurde durch den Beschluss Nr. 24 der ÎCCJ vom 25. November 2010 (im Folgenden: Beschluss Nr. 24/2010)(9) und durch den Beschluss Nr. 3 der ÎCCJ vom 28. Januar 2014 (im Folgenden: Beschluss Nr. 3/2014)(10) geändert und ergänzt.

11.      In der durch den Beschluss Nr. 3/2014 geänderten Fassung lauten die Art. 28 und 29 der ÎCCJ-Verordnung wie folgt:

„Artikel 28

(1)      Innerhalb der [ÎCCJ] sind Spruchkörper mit fünf Richtern mit Zuständigkeit für die ihnen durch Gesetz zugewiesenen Rechtssachen tätig.

(2)      Zu Beginn eines jeden Jahres werden für Strafsachen Spruchkörper mit fünf Richtern, die ausschließlich mit Mitgliedern der Strafsenate besetzt sind, sowie für andere Sachen als Strafsachen zwei Spruchkörper mit fünf Richtern, die mit Mitgliedern des Ersten Zivilsenats, des Zweiten Zivilsenats und des Senats für Verwaltungs- und Steuersachen besetzt sind, gebildet.

(3)      Die Zahl der Spruchkörper mit fünf Richtern in Strafsachen wird jährlich vom Leitungsgremium auf Vorschlag des Präsidenten des Strafsenats festgelegt.

(4)      Den Vorsitz in den Spruchkörpern mit fünf Richtern führt je nach Fall der Präsident, der Vizepräsident, der Präsident des Strafsenats oder das dienstälteste Mitglied.

Artikel 29

(1)      Zur Bildung der Spruchkörper mit fünf Richtern in Strafsachen bestimmt der Präsident oder, in seiner Abwesenheit, einer der Vizepräsidenten der [ÎCCJ] jährlich in öffentlicher Sitzung durch Losentscheid vier oder gegebenenfalls fünf Richter aus dem Strafsenat der [ÎCCJ] für jeden Spruchkörper.

(2)      Im Hinblick auf die Bildung der beiden Spruchkörper mit fünf Richtern in anderen Sachen als Strafsachen ernennt der Präsident oder, in seiner Abwesenheit, einer der Vizepräsidenten der [ÎCCJ] unter den in Absatz 1 festgelegten Bedingungen Richter als Mitglieder dieser Spruchkörper.

(3)      Das Leitungsgremium der [ÎCCJ] ermittelt jährlich, wie repräsentativ die Senate in der Besetzung der in Absatz 2 genannten Spruchkörper vertreten sind und genehmigt die Besetzung der Spruchkörper mit fünf Richtern; bei Spruchkörpern mit fünf Richtern in Strafsachen erfolgt dies auf Vorschlag des Präsidenten des Strafsenats.

(4)      Richter, die im Vorjahr ernannt wurden, nehmen im folgenden Jahr nicht an der Losentscheidung teil.

(5)      Für jeden Spruchkörper werden vier oder gegebenenfalls fünf Ersatzrichter unter den in den Absätzen 1 bis 3 festgelegten Bedingungen bestimmt.“

5.      Strafprozessordnung

12.      In Art. 426 Abs. 1 der Legea nr. 135/2010 privind Codul de procedură penală (Gesetz Nr. 135/2010 über die Strafprozessordnung)(11) in der durch das Gesetz Nr. 255/2013 und die Ordonanța de urgență a Guvernului României nr. 18/2016 (Dringlichkeitsverordnung Nr. 18/2016 der rumänischen Regierung) geänderten Fassung (im Folgenden: Strafprozessordnung) heißt es:

„Gegen rechtskräftige Entscheidungen in Strafverfahren kann in folgenden Fällen eine Nichtigkeitsklage erhoben werden:

d)      Wenn das Berufungsgericht nicht dem Gesetz entsprechend besetzt war oder ein Fall von Unvereinbarkeit vorlag.“

13.      Art. 428 Abs. 1 der Strafprozessordnung bestimmt: „Eine Nichtigkeitsklage aus den in Artikel 426 Buchstaben a) und c) bis h) genannten Gründen kann innerhalb von 30 Tagen nach der Zustellung der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts erhoben werden.“

14.      Art. 432 Abs. 1 der Strafprozessordnung lautet: „Stellt das Gericht in der mündlichen Verhandlung über die Nichtigkeitsklage nach Anhörung der Parteien und der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft fest, dass die Klage begründet ist, so hebt es die angefochtene Entscheidung auf und verweist die Sache unmittelbar oder gegebenenfalls unter Fristsetzung zur Entscheidung oder zur Entscheidung im Rechtsmittelverfahren zurück.“

6.      Strafgesetzbuch

15.      Art. 154 der Legea nr. 286/2009 privind Codul penal (Gesetz Nr. 286/2009 über das Strafgesetzbuch)(12) vom 17. Juli 2009 mit späteren Änderungen und Ergänzungen (im Folgenden: Strafgesetzbuch):

„(1)      Die Fristen für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit betragen:

a)      fünfzehn Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit einer Freiheitsstrafe von mehr als zwanzig Jahren bedroht ist;

b)      zehn Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren und höchstens zwanzig Jahren bedroht ist;

c)      acht Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren und höchstens zehn Jahren bedroht ist;

d)      fünf Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens fünf Jahren bedroht ist;

e)      drei Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bedroht ist.

(2)      Die in diesem Artikel vorgesehenen Verjährungsfristen laufen von dem Tag an, an dem die Straftat begangen wird. Die Verjährungsfrist beginnt zu laufen: bei Dauerdelikten mit dem Tag, an dem die Handlung oder Unterlassung beendet wird, bei fortgesetzten Straftaten ab dem Zeitpunkt der letzten Handlung oder Unterlassung und bei Gewohnheitsdelikten ab dem Tag der Begehung der letzten Tat.

(3)      Die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei erfolgsqualifizierten Delikten beginnt mit dem Zeitpunkt der Begehung der Handlung oder Unterlassung und wird nach der Strafe für den tatbestandsmäßig eingetretenen Erfolg berechnet.

…“

16.      Die Ursachen und Wirkungen von Verjährungsunterbrechungen sind in Art. 155 des Strafgesetzbuchs wie folgt geregelt:

„(1)      Die Vornahme einer Verfahrenshandlung in einer Strafsache führt zu einer Unterbrechung der für die Straftat geltenden Verjährungsfrist.

(2)      Nach jeder Unterbrechung beginnt eine neue Verjährungsfrist zu laufen.

(3)      Die Unterbrechung der Verjährungsfrist gilt für alle an der Straftat Beteiligten, auch wenn die unterbrechende Handlung nur einige dieser Beteiligten betrifft.

(4)      Werden die in Artikel 154 vorgesehenen Verjährungsfristen einmal überschritten, so gelten sie unabhängig von der Anzahl der Unterbrechungen als vollendet.

(5)      Mit der Zulassung des Antrags auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens beginnt eine neue Frist für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit.“

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

A.      Rechtssache C357/19

17.      Das Ausgangsverfahren in dieser Rechtssache betrifft außerordentliche Rechtsbehelfe, die zum einen vom Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție – Direcţia Naţională Anticorupţie (Staatsanwaltschaft beim ÎCCJ – Nationale Antikorruptionsbehörde; im Folgenden: Staatsanwaltschaft) und zum anderen von vier Rechtsmittelführern in dieser Rechtssache gegen eine rechtskräftige Entscheidung vom 5. Juni 2018 eingelegt worden sind.

18.      Die Rechtsmittelführer waren mit dieser Entscheidung eines Spruchkörpers mit fünf Richtern der ÎCCJ wegen Korruption, Amtsmissbrauch und Steuerhinterziehung verurteilt worden. Diese Entscheidung des Spruchkörpers mit fünf Richtern erging auf die Berufung gegen ein Urteil des Strafsenats der ÎCCJ vom 28. März 2017. Diesem Spruchkörper gehörten der Präsident des Strafsenats der ÎCCJ sowie vier weitere Richter an, die gemäß der ÎCCJ-Verordnung durch Losentscheid bestimmt worden waren.

19.      Hinsichtlich der Korruption wurde festgestellt, dass die erste Rechtsmittelführerin, die zu jener Zeit Ministerin war, im Zeitraum von 2010 bis 2012 ein System koordiniert habe, mit dem sie selbst und ihr nahestehende Personen Geldbeträge von Unternehmensvertretern dafür erhalten hätten, zu gewährleisten, dass diese für im Rahmen von aus dem Haushalt des Ministeriums finanzierten Programmen durchgeführte Arbeiten rechtzeitig bezahlt würden, und zwar zu einer Zeit, in der die Mittelzuweisung erheblich gekürzt worden war und die Abrechnung der Arbeiten mit großer Verzögerung erfolgt sei. An diesem System seien auch der zweite Rechtsmittelführer (zu jener Zeit persönlicher Assistent der Ministerin), der dritte Rechtsmittelführer (zu jener Zeit Generalsekretär des Ministeriums) sowie weitere Personen (ein persönlicher Berater der Ministerin und der Direktor einer nationalen Investmentgesellschaft) beteiligt gewesen.

20.      Hinsichtlich des Amtsmissbrauchs wurde festgestellt, dass die erste Rechtsmitteführerin in ihrer Eigenschaft als Ministerin im Jahr 2011 den Abschluss eines Dienstleistungsvertrags zwischen dem Ministerium für Regionalentwicklung und Tourismus und der SC Europlus Computer SRL, die vom vierten Rechtsmittelführer geführt worden sei, veranlasst habe. Der Vertrag habe die Erbringung von Dienstleistungen zur Werbung für Rumänien im Rahmen der Veranstaltungen betroffen, die während der vom rumänischen Boxverband organisierten internationalen Profiboxgala stattgefunden hätten. Bei der Vergabe des Auftrags für die Werbedienstleistungen seien öffentliche Mittel in Höhe von 8 116 800 rumänischen Lei (RON) für die Organisation einer kommerziellen Veranstaltung verwendet worden, deren gesamte Erlöse den Organisatoren zugeflossen seien.

21.      Demgemäß wurde festgestellt, dass die öffentlichen Mittel für gesetzwidrige Zwecke verwendet worden seien und der Auftrag unter Verstoß gegen das Vergaberecht vergeben worden sei. Die empfangenen Dienstleistungen gehörten nicht zu den Kategorien förderfähiger Ausgaben für die Programme mit europäischer Finanzierung im Kontext des Projekts „Förderung der rumänischen Tourismusmarke“ durch das Regionale Operationelle Programm 2007–2013. Diese Umstände hätten zur Verweigerung der Auszahlung der Beträge durch die für die Verwaltung der Unionsgelder zuständige Behörde geführt. Somit hätten die Beträge, die aus europäischen Mitteln hätten erstattet werden sollen, in voller Höhe vom Staatshaushalt getragen werden müssen. Der Verlust für das Ministerium für Regionalentwicklung und Tourismus habe sich auf 8 116 800 RON belaufen.

22.      Hinsichtlich der Steuerhinterziehung wurde festgestellt, dass der vierte Rechtsmittelführer, um den Betrag der dem Staatshaushalt geschuldeten Steuern auf die Einnahmen aus den vorgenannten Veranstaltungen zu senken, in den Büchern der SC Europlus Computers von Scheinfirmen ausgestellte Dokumente verbucht habe, die fiktive Ausgaben belegt hätten, die angeblich für Werbe- und Beratungsleistungen getätigt worden seien. Der daraus entstandene Schaden habe sich auf 646 838 RON (einschließlich 388 103 RON Mehrwertsteuer) und 90 669 RON (einschließlich 54 402 RON Mehrwertsteuer) belaufen.

23.      Nachdem die (vom Spruchkörper mit fünf Richtern in der Berufungsinstanz erlassene) Entscheidung der ÎCCJ vom 5. Juni 2018 rechtskräftig geworden war, erließ das Verfassungsgericht die Entscheidung Nr. 685/2018 vom 7. November 2018 (im Folgenden: Entscheidung Nr. 685/2018). Mit dieser Entscheidung wurde der Beschwerde des Ministerpräsidenten der rumänischen Regierung stattgegeben und festgestellt, dass ein verfassungsrechtlicher Konflikt zwischen dem Parlament und der ÎCCJ vorliege, der durch die Entscheidungen des Leitungsgremiums der ÎCCJ verursacht worden sei, denen gemäß nur vier der fünf Mitglieder der Spruchkörper mit fünf Richtern durch Losentscheid bestimmt worden seien. Dies wurde als Verstoß gegen Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 angesehen. Infolgedessen wurden alle ab dem 1. Februar 2014 gebildeten Spruchkörper mit fünf Richtern als unrechtmäßig besetzt angesehen. Das Verfassungsgericht ordnete an, dass die ÎCCJ unverzüglich alle Mitglieder der Spruchkörper mit fünf Richtern durch Losentscheid bestimmen solle. Es stellte außerdem fest, dass die Entscheidung Nr. 685/2018 auch für abgeschlossene Rechtssachen gelte, sofern für die Beteiligten die Frist für die Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe noch nicht abgelaufen sei.

24.      Die Rechtsmittelführer sowie die Staatsanwaltschaft erhoben auf der Grundlage der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts eine Nichtigkeitsklage, mit der sie die Aufhebung der Entscheidung vom 5. Juni 2018 und die Neuverhandlung über die Berufungen beantragen. In der vorliegenden Rechtssache ist das vorlegende Gericht somit aufgerufen, über die Begründetheit der von beiden Parteien geltend gemachten Rechtsmittelgründe zu entscheiden. Es kann entweder den außerordentlichen Rechtsbehelf mit der Folge der Aufrechterhaltung der angefochtenen Entscheidung zurückweisen oder es kann dem Rechtsbehelf stattgeben und damit die Entscheidung über die Verurteilungen der Rechtsmittelführer aufheben und über die Berufungen erneut verhandeln.

25.      Unter diesen Umständen hat die Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b sowie Art. 2 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens und der Grundsatz der Rechtssicherheit dahin auszulegen, dass sie dem Erlass einer Entscheidung durch eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung, das Verfassungsgericht, entgegenstehen, mit der über die Rechtmäßigkeit der Besetzung von Spruchkörpern entschieden wird und damit die Voraussetzungen für die Zulässigkeit außerordentlicher Rechtsbehelfe gegen rechtskräftige, innerhalb eines bestimmten Zeitraums ergangene gerichtliche Entscheidungen geschaffen werden?

2.      Ist Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung die fehlende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Spruchkörpers, dem ein Richter mit Leitungsfunktion angehört, der nicht nach dem Zufallsprinzip ernannt worden ist, sondern auf der Grundlage einer transparenten, bekannten und zwischen den Parteien unstreitigen Regel, die in allen von diesem Spruchkörper behandelten Rechtssachen gilt, in nach nationalem Recht verbindlicher Weise feststellt?

3.      Ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er es dem nationalen Gericht erlaubt, eine verfassungsgerichtliche Entscheidung, die aufgrund einer Befassung mit einem Verfassungskonflikt ergangen ist und nach nationalem Recht verbindlich ist, unangewendet zu lassen?

B.      Rechtssache C547/19

26.      Mit Entscheidung vom 2. April 2018 gab die Richterdisziplinarabteilung des Obersten Richterrats der Disziplinarklage der Inspecția Judiciară (Justizinspektion, Rumänien) gegen die Rechtsmittelführerin, eine Richterin an der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) statt und verhängte gegen sie gemäß Art. 100 Buchst. e des Gesetzes Nr. 303/2004 die Disziplinarsanktion des Ausschlusses aus der Richterschaft. Diese Abteilung stellte fest, dass schwere Verstöße gegen die Vorschriften über die Zuteilung der Rechtssachen nach dem Zufallsprinzip vorgelegen hätten. Dadurch habe die Rechtsmittelführerin ein Disziplinarvergehen nach Art. 99 Buchst. o des Gesetzes Nr. 303/2004 begangen.

27.      Die Rechtsmittelführerin focht die Entscheidung vom 2. April 2018 bei der ÎCCJ an. Ein weiteres, paralleles Rechtsmittel gegen einen verfahrensrechtlichen Beschluss, mit dem die Zulassung als Streithelfer zum ursprünglichen Verfahren vor der Richterdisziplinarabteilung des Obersten Richterrats abgelehnt worden war, wurde von der Asociația Forumul Judecătorilor din România (Verein „Forum der Richter Rumäniens“, Rumänien; im Folgenden: Verein „Richterforum“) eingelegt. Beide Rechtsmittel wurden dem Spruchkörper mit fünf Richtern „Zivilsachen 2“ zugewiesen, der am 30. Oktober 2017 im Wege des Losverfahrens besetzt und mit Beschluss Nr. 68 des Leitungsgremiums der ÎCCJ vom 2. November 2017 bestätigt wurde. Die beiden Rechtsmittelverfahren wurden in der mündlichen Verhandlung vom 22. Oktober 2018 verbunden.

28.      Am 7. November 2018 erging die Entscheidung Nr. 685/2018(13) des Verfassungsgerichts.

29.      Am 8. November 2018 verabschiedete das Leitungsgremium der ÎCCJ den Beschluss Nr. 137/2018. Am 9. November 2018 wurden gemäß diesem Beschluss alle Mitglieder der Spruchkörper mit fünf Richtern für das Jahr 2018 durch Losentscheid bestimmt.

30.      Am 29. November 2018 wurde die Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts veröffentlicht. Im Anschluss an diese Veröffentlichung erließ die Richterdisziplinarabteilung des Obersten Richterrats den Beschluss Nr. 1367 vom 5. Dezember 2018, der Vorschriften enthält, „die die Übereinstimmung mit den Anforderungen aus der [Entscheidung Nr. 685/2018] gewährleisten“ (im Folgenden: Beschluss Nr. 1367/2018).

31.      Um dem letztgenannten Beschluss nachzukommen, ordnete der mit dem vorliegenden Fall befasste Spruchkörper in der durch den Beschluss Nr. 137/2018 festgelegten Besetzung am 10. Dezember 2018 im Hinblick auf die zufällige Zuteilung zu einem Spruchkörper in einer Besetzung, die durch Losentscheid gemäß den von der Richterdisziplinarabteilung des Obersten Richterrats mit dem Beschluss Nr. 1367/2018 genehmigten Regeln festzulegen sein würde, die Streichung der Rechtssache im Rechtssachenregister an.

32.      Am 13. Dezember 2018 erfolgte bei der ÎCCJ der Losentscheid zur Bestimmung der Mitglieder der Spruchkörper mit fünf Richtern für das Jahr 2018. Die Verfahrensakten der vorliegenden Rechtssache wurden durch Losentscheid einem Spruchkörper mit fünf Richtern, dem Spruchkörper „Zivilsachen 3 – 2018“ zugewiesen. Dies ist der Spruchkörper, der das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt hat.

33.      Mit Beschluss Nr. 1535 der Richterdisziplinarabteilung des Obersten Richterrats vom 19. Dezember 2018 (im Folgenden: Beschluss Nr. 1535/2018) wurde festgelegt, dass die Rechtssachen, die den für das Jahr 2018 gebildeten Spruchkörpern mit fünf Richtern zugewiesen worden waren, nach dem 1. Januar 2019 weiterhin vor diesen Spruchkörpern zu verhandeln seien, selbst wenn in diesen Rechtssachen keine Verfahrenshandlungen vorgenommen worden seien.

34.      In Anbetracht dieser Ereignisse hat die Rechtsmittelführerin u. a. die Einrede der rechtswidrigen Besetzung des Spruchkörpers, der ihre Rechtssache verhandelt hat, und die Einrede der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse Nr. 1367/2018 und Nr. 1535/2018 der Richterdisziplinarabteilung des Obersten Richterrats sowie der nachfolgenden Beschlüsse des Leitungsgremiums der ÎCCJ(14) erhoben. Das Eingreifen des Verfassungsgerichts und des Obersten Richterrats in die Tätigkeit der ÎCCJ sei ein Verstoß gegen den Grundsatz der Kontinuität des verhandelnden Spruchkörpers. Ohne dieses Eingreifen wäre die Rechtssache ordnungsgemäß einem der gemäß Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 für das Jahr 2019 gebildeten Spruchkörper mit fünf Richtern zugewiesen worden. Die Fortführung der Tätigkeiten eines Spruchkörpers über die gesetzlich vorgesehene zeitliche Grenze hinaus stelle einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und gegen Art. 47 der Charta dar, was Auswirkungen auf Art. 2 EUV habe. Indem der ÎCCJ eine solche Vorgehensweise vorgeschrieben worden sei, habe der Oberste Richterrat, bei dem es sich um ein Verwaltungsorgan handle, gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstoßen und die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Justizhandelns verletzt, die in jedem Fall durch ein gesetzlich vorgesehenes Gericht verwirklicht werden müssten.

35.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts, auch wenn sie sich grundsätzlich nicht auf die Besetzung der nicht für Strafsachen zuständigen Spruchkörper auswirke, im vorliegenden Verfahren gleichwohl eine mittelbare Wirkung entfalte. Der Grund dafür sei, dass der Oberste Richterrat zur Anwendung dieser Entscheidung eine Reihe von Verwaltungsentscheidungen erlassen habe, mit denen er der ÎCCJ eine andere Auslegung der Bestimmungen über die jährliche Art der Besetzung der Spruchkörper mit fünf Richtern vorgeschrieben habe.

36.      Unter diesen Umständen hat die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 2 EUV, Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie einem Eingreifen eines Verfassungsgerichts (eines Organs, das nach nationalem Recht kein Gericht ist) bezüglich der Art und Weise, in der das oberste Gericht die im Rang unter der Verfassung stehenden Rechtsvorschriften bei der Bildung der Spruchkörper ausgelegt und angewandt hat, entgegenstehen?

C.      Verfahren vor dem Gerichtshof

37.      Das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑357/19 hat beantragt, im beschleunigten Verfahren nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diesen Antrag hat der Präsident des Gerichtshofs am 23. Mai 2019 abgelehnt. Mit Beschluss vom 28. November 2019 ist entschieden worden, diese Rechtssache und die Rechtssache C‑547/19 gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung vorrangig zu behandeln.

38.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 20. Februar 2020 sind die Rechtssachen C‑357/19 und C‑547/19 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

39.      In der Rechtssache C‑357/19 haben die erste Rechtsmittelführerin sowie der zweite und der vierte Rechtsmittelführer, die Staatsanwaltschaft, die polnische und die rumänische Regierung sowie die Europäische Kommission schriftliche Erklärungen eingereicht.

40.      In der Rechtssache C‑547/19 haben die Rechtsmittelführerin, der Verein „Richterforum“, der Oberste Richterrat, die Justizinspektion, die rumänische Regierung und die Kommission schriftliche Erklärungen eingereicht.

41.      Die erste Rechtsmittelführerin in der Rechtssache C‑357/19, der zweite Rechtsmittelführer in der Rechtssache C‑357/19, die Rechtsmittelführerin in der Rechtssache C‑547/19, der Verein „Richterforum“, die Staatsanwaltschaft, die rumänische Regierung sowie die Kommission haben auf die vom Gerichtshof zur schriftlichen Beantwortung gestellten Fragen geantwortet.

IV.    Würdigung

42.      Die vorliegenden Schlussanträge sind wie folgt gegliedert. Erstens werde ich die von den Beteiligten erhobenen Einwände gegen die Zulässigkeit der Vorlagefragen behandeln (A). Zweitens werde ich den anwendbaren unionsrechtlichen Rechtsrahmen darlegen und die einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts ermitteln, die auf die vorliegenden Fälle anwendbar sind (B). Drittens werde ich eine materielle Prüfung der Vorlagefragen vornehmen (C).

A.      Zulässigkeit der Vorlagefragen

1.      Rechtssache C357/19

43.      Die erste Rechtsmittelführerin, der zweite und der vierte Rechtsmittelführer sowie die polnische Regierung machen geltend, dass die Vorlagefragen in der Rechtssache C‑357/19 unzulässig seien(15). Die erste Gruppe von Einwänden bezieht sich auf die angeblich fehlende Befugnis der Union in den Bereichen, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind, und betrifft somit im Grunde die Zuständigkeit des Gerichtshofs (a). Mit einer zweiten Gruppe von Einwänden wird eine fehlende Erheblichkeit der Vorlagefragen für das Ausgangsverfahren geltend gemacht (b).

a)      Fehlende Zuständigkeit der Union

44.      Die erste Rechtsmittelführerin sowie der vierte Rechtsmittelführer machen geltend, dass der vorliegende Fall nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle, weil alle Aspekte, die die Auslegung und Anwendung der fraglichen Rechtsvorschriften beträfen, ausschließlich nationaler Art seien. In ähnlicher Weise argumentiert der zweite Rechtsmittelführer, dass der Fall keinen Bezug zum Unionsrecht habe.

45.      Nach Ansicht der polnischen Regierung ist der Gerichtshof nicht befugt, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens Entscheidungen nationaler Gerichte inhaltlich zu prüfen und darüber zu entscheiden, ob nationale Gerichte verpflichtet seien, den Entscheidungen anderer nationaler Gerichte zu folgen. Außerdem seien die Vorlagefragen für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nicht erforderlich. Das Ausgangsverfahren betreffe einen rein innerstaatlichen Sachverhalt, der keinen Bereich berühre, in dem die Union irgendwelche Befugnisse besäße. Zudem fände die Charta nur dann Anwendung, wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen würden, was aber vorliegend nicht der Fall sei.

46.      Dieses Vorbringen ist meines Erachtens nicht überzeugend.

47.      Die Union hat zwar in der Tat keine unmittelbare Gesetzgebungskompetenz im Bereich der allgemeinen Gerichtsorganisation. Es besteht jedoch eine eindeutige Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Anforderungen des Art. 2 und des Art. 19 Abs. 1 EUV, des Art. 325 Abs. 1 AEUV und des PIF‑Übereinkommens sowie des Art. 47 der Charta zu erfüllen, wenn sie ihre Rechtsvorschriften ausarbeiten und Praktiken annehmen, die sich auf die nationale Anwendung und Durchsetzung des Unionsrechts auswirken. Diese Erwägung ist nicht abhängig vom Bereich. Im Hinblick auf die unionsrechtlichen Grenzen der standardmäßig gegebenen nationalen Verfahrensautonomie ist und war sie schon immer abhängig von den Auswirkungen. Sie kann jeden Aspekt nationaler Strukturen oder Verfahren betreffen, der für die nationale Durchsetzung von Unionsrecht verwendet wird.

48.      Die spezifische Frage, um die es in der vorliegenden Rechtssache geht, nämlich ob die nationale Rechtsprechung und die nationalen Vorschriften, die die Besetzung der Spruchkörper der ÎCCJ betreffen, in den Anwendungsbereich dieser Bestimmungen fallen und welche Verpflichtungen sich daraus möglicherweise ergeben, ist genau der Gegenstand der Vorlagefragen. Es genügt daher der Hinweis, dass das Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung des Unionsrechts, konkret von Art. 2 und von Art. 19 Abs. 1 EUV, von Art. 325 Abs. 1 AEUV und des PIF‑Übereinkommens sowie von Art. 47 der Charta betrifft. In diesem Kontext ist der Gerichtshof eindeutig für die Entscheidung über dieses Ersuchen zuständig(16).

49.      Ungeachtet der Erörterung betreffend die Anwendbarkeit von Art. 325 Abs. 1 AEUV, des PIF‑Übereinkommens und der Charta sowie den Anwendungsbereich des Unionsrechts im eher herkömmlichen Sinne, die im weiteren Verlauf der vorliegenden Schlussanträge recht ausführlich analysiert werden(17), hat der Gerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung zudem klargestellt, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Anwendung findet, wenn eine nationale Einrichtung als Gericht über Fragen der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden hat(18).

50.      Es lässt sich kaum bezweifeln, dass die ÎCCJ, die die Einrichtung der Justiz ist, deren Unabhängigkeit möglicherweise durch die in dieser Rechtssache in Rede stehende Entscheidung des Verfassungsgerichts als beeinträchtigt anzusehen ist, eine nationale Einrichtung der Justiz ist, die in der Regel aufgerufen ist, als Gericht über Fragen zu entscheiden, die die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts betreffen.

51.      Ich bin daher der Ansicht, dass keines der angeführten Argumente zu Zweifeln an der Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der in der Rechtssache C‑357/19 gestellten Vorlagefragen Anlass gibt.

b)      Erheblichkeit der Vorlagefragen für das Ausgangsverfahren

52.      Der vierte Rechtsmittelführer macht geltend, dass das Vorabentscheidungsersuchen für die Entscheidung des Rechtsstreits im Ausgangsverfahren nicht notwendig sei und dass es auf die Auslegung des Unionsrechts nicht ankomme. Der Grund dafür sei, dass die Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen, unabhängig davon, wie sie ausfalle, es dem vorlegenden Gericht nicht ermöglichen werde, die betreffende Rechtssache zu entscheiden. Der zweite Rechtsmittelführer macht geltend, dass die in den Vorlagefragen angeführten Bestimmungen des Unionsrechts allgemeiner Natur seien. Als solche gäben sie keinen Anlass zu Zweifeln und stünden in keinem Zusammenhang mit dem Ausgangsverfahren. Darüber hinaus macht dieser Rechtsmittelführer geltend, seine rechtliche Situation habe jedenfalls keine Verbindung zu Straftaten im Zusammenhang mit einem Unionsmittel betreffenden Betrug.

53.      Die erste Rechtsmittelführerin teilt im Wesentlichen diese Zweifel und fügt hinzu, dass das vorlegende Gericht durch die Bezugnahme auf das PIF‑Übereinkommen in unzulässiger und unbegründeter Weise versucht habe, die Zulässigkeitsvoraussetzungen zu erfüllen. Sie sei, was den Straftatbestand des versuchten Gebrauchmachens von falschen, ungenauen oder unvollständigen Erklärungen oder Unterlagen in der Absicht, unrechtmäßig Mittel aus dem Unionshaushalt zu erhalten, anbelange, rechtskräftig freigesprochen worden. Außerdem sei der Haushalt der Union nicht beeinträchtigt worden, und der Gegenstand des außerordentlichen Rechtsbehelfs im Ausgangsverfahren beziehe sich in keiner Weise auf diese Straftat. Der vorliegende Fall weise daher keinen Bezug zum Unionsrecht auf.

54.      Meines Erachtens greifen diese Einwände nicht durch.

55.      Erstens werden die Vorlagefragen in der Rechtssache C‑357/19 im Rahmen der Prüfung des beim vorlegenden Gericht anhängigen außerordentlichen Rechtsbehelfs gestellt. Das vorlegende Gericht hält es für die Entscheidung über diesen Rechtsbehelf für erforderlich, mit der ersten und der zweiten Frage die Auslegung verschiedener unionsrechtlicher Bestimmungen zu klären, um zu beurteilen, ob sie dem Erlass der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts entgegenstehen, die es andernfalls anwenden müsste. Für den Fall, dass das Unionsrecht dem Erlass dieser Entscheidung des Verfassungsgerichts entgegensteht, möchte das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage wissen, welche Rechtsfolgen diese Feststellung hat, mit anderen Worten, ob die Möglichkeit besteht, diese Entscheidung aufgrund des Vorranggrundsatzes unangewendet zu lassen.

56.      Ohne an dieser Stelle der möglichen Antwort auf all diese Fragen in der Sache vorgreifen zu wollen, steht für mich außer Zweifel, dass die aufgeworfenen Fragen für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens erheblich sind und sich unmittelbar auf die vom vorlegenden Gericht zu treffende Entscheidung auswirken(19). Die Vorlagefragen erfüllen daher das Kriterium der „Erforderlichkeit“ im Sinne von Art. 267 AEUV(20).

57.      Zweitens berühren die im Zusammenhang mit der ersten Frage in der Rechtssache C‑357/19 vorgebrachten Argumente, die sich auf die konkreten Straftaten und Situationen der jeweiligen Rechtsmittelführer beziehen, meines Erachtens nicht die Zulässigkeit dieser Frage. Diese Argumente stützen sich im Wesentlichen darauf, dass die erste Rechtsmittelführerin vom Vorwurf einer Straftat des Unionsmittel betreffenden Betrugs freigesprochen worden sei, dass es bei anderen Beteiligten nicht um derartige Straftaten gehe und dass das Ergebnis der Wiederaufnahme des Verfahrens im Wege des außerordentlichen Rechtsbehelfs aufgrund der Entscheidung Nr. 685/2018 eine Überprüfung des Freispruchs ermöglichen könnte. Aus diesen Gründen seien die Vorlagefragen für die Entscheidung des Rechtsstreits im Ausgangsverfahren unerheblich.

58.      Es ist jedoch festzustellen, dass die erste Frage jedenfalls zulässig ist. Das Ausgangsverfahren betrifft auch Handlungen, die den Tatbestand des Steuerbetrugs erfüllen und zu nicht unerheblichen Verlusten bei der Erhebung der Mehrwertsteuer geführt haben(21). Schon dies allein begründet einen klaren Zusammenhang mit den finanziellen Interessen der Union(22).

59.      Was die anderen genannten Straftatbestände (Korruption und Amtsmissbrauch(23)) anbelangt, so ist die Frage, ob Art. 325 Abs. 1 AEUV und/oder das PIF‑Übereinkommen einen Sachverhalt wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erfasst, eine Frage der materiellen Prüfung. Wie das vorlegende Gericht in der Vorlageentscheidung ausführt, besteht der Zweck der ersten Frage darin, im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs festzustellen, ob die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus Art. 325 Abs. 1 AEUV sowie Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b und Art. 2 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens auch bereits verhängte strafrechtliche Sanktionen betreffen. Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass eine Auslegung der Formulierung „und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“ in Art. 325 Abs. 1 AEUV erforderlich sei, um festzustellen, ob sie sich auf Korruptions- und Betrugshandlungen im Rahmen des öffentlichen Auftragswesens erstrecke, wenn das verfolgte Ziel darin bestanden habe, eine Erstattung von Beträgen aus Unionsmitteln zu erhalten, auch wenn diese Gelder schließlich nicht in betrügerischer Weise erlangt worden seien.

60.      Daher zielt die erste Frage genau auf die Feststellung ab, ob Art. 325 Abs. 1 AEUV und/oder das PIF‑Übereinkommen in einem Sachverhalt wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar sind oder nicht. Die Beantwortung dieser Vorlagefrage ist eindeutig eine Frage der materiellen Prüfung und nicht eine Frage der Zulässigkeit.

2.      Rechtssache C547/19

a)      Fehlende Zuständigkeit der Union

61.      Die Justizinspektion hält die Vorlagefrage in der Rechtssache C‑547/19 für unzulässig(24). Art. 2 EUV dürfe nicht dahin ausgelegt werden, dass die Union in den von dieser Bestimmung erfassten Bereichen Befugnisse besitze. Nach dem Hinweis darauf, dass die Charta und Art. 19 Abs. 1 EUV unterschiedliche Geltungsbereiche hätten, macht diese Beteiligte geltend, dass die letztgenannte Bestimmung sich auf „die vom Unionsrecht erfassten Bereiche“ beziehe, und zwar unabhängig davon, ob die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführten. Die Anwendung der Bestimmungen der Charta sei nur möglich, wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen würden, was im Ausgangsverfahren nicht der Fall sei.

62.      Erstens bezieht sich das vorgebrachte Argument, wie ich bereits zur Rechtssache C‑357/19 festgestellt habe, eher auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs als auf die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens(25).

63.      Zweitens besteht allerdings, was die Frage der Zuständigkeit betrifft, in der Rechtssache C‑547/19 anders als in der Rechtssache C‑357/19 kein Zusammenhang mit den finanziellen Interessen der Union und damit mit Art. 325 AEUV. Sie betrifft einen primär nicht durch das Unionsrecht geregelten Aspekt (nationale Vorschriften über die Besetzung der Spruchkörper eines obersten Gerichts) in einem Rechtsstreit in einem Ausgangsverfahren, das bei herkömmlicher Auslegung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts liegt (ein Rechtsbehelf gegen eine gegen einen Richter verhängte Disziplinarstrafe, die zu einer Amtsenthebung führt).

64.      Der Gerichtshof hat in seiner jüngeren Rechtsprechung aber klargestellt, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Anwendung findet, wenn eine nationale Einrichtung als Gericht über Fragen der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden hat(26). Im vorliegenden Fall steht außer Zweifel, dass die ÎCCJ, einschließlich ihres Spruchkörpers „Zivilsachen 3“(27), der die Einrichtung der Justiz ist, deren Unabhängigkeit durch die in dieser Rechtssache in Rede stehende Entscheidung des Verfassungsgerichts möglicherweise beeinträchtigt ist, eine Einrichtung der Justiz ist, die im Rahmen ihrer Rechtsprechungstätigkeit in anderen Rechtssachen ein Gericht ist, das über Fragen des Unionsrechts zu entscheiden hat, und somit diese Voraussetzung erfüllt.

65.      Im Hinblick auf diese Rechtsprechung komme ich zu dem Ergebnis, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefrage in der Rechtssache C‑547/19 zuständig ist. Meine Zweifel hinsichtlich der Frage, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV als derart schrankenlos angesehen werden sollte, habe ich anderweitig bereits dargelegt(28). Doch selbst wenn es sich um einen Grenzfall handelt, meine ich, dass dies kein geeigneter Fall ist, um die Schranken dieser Vorschrift auszuloten, und zwar aus einem recht einfachen, pragmatischen Grund: Die erste Frage in der Parallelsache C‑357/19, die im Wesentlichen dasselbe Thema betrifft, ist zumindest meiner Ansicht nach jedenfalls zulässig und liegt innerhalb der Zuständigkeit des Gerichtshofs.

b)      Erheblichkeit der Vorlagefrage für das Ausgangsverfahren

66.      Der Vollständigkeit halber möchte ich hinzufügen, dass die Vorlagefrage in der Rechtssache C‑547/19 das Erfordernis des Kriteriums der „Erforderlichkeit“ im Sinne von Art. 267 AEUV erfüllt(29). Aus den oben genannten Gründen könnte man Zweifel daran haben, ob ein Fall wie der vorliegende noch in den (materiellen) Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV fällt. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass eine Entscheidung des Gerichtshofs im Ausgangsverfahren unmittelbar angewandt werden kann und somit für dieses Verfahren erheblich und erforderlich ist.

67.      Die Vorlagefrage in der Rechtssache C‑547/19 betrifft nämlich die Auslegung von Unionsrecht im Kontext der Entscheidung über eine Einrede der Unrechtmäßigkeit der Besetzung eines Spruchkörpers, die derzeit beim vorlegenden Gericht anhängig ist. Je nachdem, wie das vorlegende Gericht nach den Hinweisen des Gerichtshofs mit dieser Einrede verfahren sollte, kann das Ergebnis des Ausgangsverfahrens völlig unterschiedlich ausfallen. Die beim Gerichtshof beantragte Auslegung ist somit „erforderlich“ im Sinne von Art. 267 AEUV.

B.      Anwendbares Unionsrecht

68.      Mit den verschiedenen Vorlagefragen in den beiden verbundenen Rechtssachen vor dem Gerichtshof möchte die ÎCCJ wissen, wie Art. 325 Abs. 1 AEUV, das PIF‑Übereinkommen, Art. 47 der Charta, Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie der Vorranggrundsatz auszulegen sind und ob diese Bestimmungen und Grundsätze dem Erlass oder der Anwendung der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts entgegenstehen.

69.      Es gibt meines Erachtens im Hinblick auf den spezifischen Fall Rumäniens ein ziemlich zentrales Instrument, das das vorlegende Gericht im vorliegenden Verfahren nicht angeführt hat, das aber die Grundlage der früheren (sowie paralleler)(30) Vorabentscheidungsersuchen bildet: die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (im Folgenden: VZÜ-Entscheidung)(31).

70.      Insoweit ist es notwendig, festzustellen, welche unionsrechtlichen Bestimmungen für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens relevant sind.

1.      Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV

71.      Wie in meinen AFJR-Schlussanträgen(32) ausführlich dargelegt, enthält Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, so wie er bisher vom Gerichtshof angewendet wird, möglicherweise keine Schranken. Er verpflichtet die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer gerichtlicher Schutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Insoweit kommt es nicht darauf an, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen(33). Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV findet Anwendung auf jede nationale Einrichtung, die als Gericht über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden hat(34).

72.      Dieser Ansatz führt zu einem sehr weiten Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und zwar nicht nur in institutioneller, sondern auch in materieller Hinsicht. Der materielle Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erfasst jede nationale Vorschrift und Praxis, die die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung wirksamer Rechtsbehelfe, einschließlich der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieser Rechtssysteme, beeinträchtigen kann, ohne dass es eine Art De-minimis-Regel gäbe. Die wahren Schranken von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergeben sich, zumindest derzeit, allein aus Aspekten im Zusammenhang mit der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens(35).

73.      Im Licht dieser Erwägungen ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in beiden Rechtssachen anwendbar, wenn die Zulässigkeitsschwelle überschritten ist(36). Materiell betreffen beide dem Gerichtshof vorliegende Rechtssachen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Hinblick auf die Auswirkungen einer Entscheidung des Verfassungsgerichts und deren Vereinbarkeit mit den Anforderungen des unionsrechtlichen Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit. Aus institutioneller Sicht kommen die Vorabentscheidungsersuchen von einem obersten Gericht, der ÎCCJ, das in seiner gerichtlichen Befugnis tatsächlich über Fragen der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden hat.

74.      Wie in meinen AFJR-Schlussanträgen(37) bin ich der Ansicht, dass die Bezugnahmen auf Art. 2 EUV in der ersten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑357/19 und in der Vorlagefrage in der Rechtssache C‑547/19 keinen Anlass für eine gesonderte Analyse dieser Bestimmung des Vertrags geben. Die Rechtsstaatlichkeit als einer der Werte, auf denen die Union gründet, wird durch die Garantie des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und das Grundrecht auf ein faires Verfahren gewährleistet, denen ihrerseits der Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte als einer ihrer wesentlichen Komponenten inhärent ist(38). Art. 47 der Charta sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV bringen daher diese in Art. 2 EUV bekräftigte Dimension des Wertes der Rechtsstaatlichkeit konkreter zum Ausdruck(39).

2.      VZÜ-Entscheidung (und Charta)

75.      Anders als in den Fällen, die Gegenstand meiner Schlussanträge in den Rechtssachen AFJR und Statul Român – Ministerul Finanţelor Publice sind, werden in den beiden Vorabentscheidungsersuchen in den vorliegenden Rechtssachen keine spezifischen Fragen in Bezug auf die VZÜ-Entscheidung gestellt(40). Demgegenüber wird in den Vorlagefragen des Parallelverfahrens C‑379/19, in dem ich heute gesonderte Schlussanträge vorlege, wiederum auf die VZÜ-Entscheidung verwiesen.

76.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Umstand, dass das vorlegende Gericht eine Frage unter Bezugnahme nur auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, den Gerichtshof nicht daran hindert, dem nationalem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können. Der Gerichtshof hat aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen(41).

77.      In Beantwortung der vom Gerichtshof den Verfahrensbeteiligten zur schriftlichen Beantwortung gestellten Fragen hat die erste Rechtsmittelführerin in der Rechtssache C‑357/19 vorgetragen, dass die VZÜ-Entscheidung keine Fragen im Zusammenhang mit der Umsetzung oder Überwachung der Rechtsstaatlichkeit, der Unabhängigkeit der Justiz oder dem Schutz der finanziellen Interessen der Union betreffe. Außerdem gelte diese Entscheidung nicht für das Verfassungsgericht. Der erste und der zweite Rechtsmittelführer in der Rechtssache C‑357/19 haben geltend gemacht, dass es in jener Rechtssache nicht um die Wirksamkeit der Korruptionsbekämpfung gehe.

78.      Demgegenüber machen die Kommission, die rumänische Regierung, die Staatsanwaltschaft und der Verein „Richterforum“ im Wesentlichen geltend, dass die VZÜ-Entscheidung unter Berücksichtigung insbesondere der Vorgaben 1 und 3 ihres Anhangs hinsichtlich der in den vorliegenden Rechtssachen aufgeworfenen Fragen im Zusammenhang mit der Korruptionsbekämpfung, der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz anwendbar sei, und zwar unabhängig von einem konkreten Zusammenhang mit den finanziellen Interessen der Union. Die Rechtsmittelführerin in der Rechtssache C‑547/19 ist ebenfalls der Ansicht, dass die VZÜ-Entscheidung im Bereich der Korruptionsbekämpfung anwendbar sei. Diese Beteiligten haben darauf hingewiesen, dass im VZÜ-Bericht der Kommission von 2019(42), auch wenn er, wie die Kommission betont habe, keine spezifischen Empfehlungen enthalte, doch Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen der von der rumänischen Regierung vor dem Verfassungsgericht eingeleiteten Verfahren auf die Erreichung der in den Vorgaben 1 und 3 des Anhangs der VZÜ-Entscheidung festgelegten Ziele geäußert worden seien.

79.      Ähnlich dem, was ich in den AFJR-Schlussanträgen(43) ausgeführt habe, sollte die VZÜ-Entscheidung (zusammen mit den einschlägigen Bestimmungen der Charta, deren Anwendbarkeit durch diese Entscheidung ausgelöst wird) der primäre Maßstab für die Beurteilung der Situation in den Mitgliedstaaten sein, die der besonderen Regelung der VZÜ-Entscheidung unterliegen. Für die vorliegenden Rechtssachen gelten die gleichen Erwägungen. Der Umstand, dass in der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑547/19 nicht auf die VZÜ-Entscheidung Bezug genommen wird, ist von geringer Bedeutung.

80.      Es gibt zwei weitere Punkte, auf die im Zusammenhang mit den vorliegenden Rechtssachen hinzuweisen ist. Erstens umfasst der weite Anwendungsbereich der im Anhang der VZÜ-Entscheidung enthaltenen Vorgaben in der Tat die vorliegenden Fälle. Es sei daran erinnert, dass der Anhang der VZÜ-Entscheidung die „Vorgaben für Rumänien nach Artikel 1“ enthält. Die darin festgelegte erste, dritte und vierte Vorgabe sind: „Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren durch Stärkung der Kapazitäten und Rechenschaftspflicht des Obersten Richterrats …“, „Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene“ und „Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen“.

81.      Sowohl in der Rechtssache C‑357/19 als auch in der Rechtssache C‑547/19 geht es um die möglichen Auswirkungen der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts in Bezug auf die Leistungsfähigkeit des gerichtlichen Verfahrens (Vorgabe 1). Zusätzlich geht es in der Rechtssache C‑357/19 um die Auswirkungen dieser Entscheidung des Verfassungsgerichts auf die Bekämpfung der Korruption, auf die sich die Vorgaben 3 und 4 der VZÜ-Entscheidung beziehen. Es besteht also ein klarer sachlicher Zusammenhang zwischen dem Gegenstand der vorliegenden Rechtssachen und der VZÜ-Entscheidung: Die in Rede stehende Entscheidung des Verfassungsgerichts hat Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des gerichtlichen Verfahrens im Allgemeinen (da sie die Möglichkeit eröffnet, abgeschlossene Rechtssachen erneut aufzugreifen) und im Besonderen auf die Korruptionsbekämpfung (insofern, als die Wirkungen dieser Entscheidung des Verfassungsgerichts in der Praxis auch für Korruptionsfälle betreffende Rechtssachen wie die Rechtssache C‑357/19 gelten)(44).

82.      Zweitens stellt sich die Frage, ob es unter dem Aspekt des (materiellen oder institutionellen) Anwendungsbereichs der VZÜ-Entscheidung von Bedeutung sein sollte, dass die fraglichen Regelungen nicht das Ergebnis einer ausdrücklichen nationalen gesetzgeberischen Umsetzung von sich aus der VZÜ-Entscheidung ergebenden Verpflichtungen darstellen, sondern in einer Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts enthalten sind.

83.      Die Kommission, die rumänische Regierung und die Staatsanwaltschaft haben in ihren Antworten auf die ihnen gestellten Fragen des Gerichtshofs die Auffassung vertreten, dass der Umstand, dass es in den vorliegenden Fällen um eine Entscheidung des Verfassungsgerichts und nicht um Rechtsakte der Legislative oder der Exekutive gehe, irrelevant sei.

84.      Dem stimme ich voll und ganz zu. Aufgrund der systemimmanenten Art und Auswirkungen der Entscheidungen eines Verfassungsgerichts, die allgemeine Geltung besitzen und geeignet sind, das rechtliche Umfeld wesentlich zu verändern, besteht im Hinblick auf ihre Wirkungen kein Unterschied zwischen diesen Entscheidungen und Maßnahmen des Gesetzgebers oder anderer Akteure mit Regelungsbefugnissen.

85.      Schließlich bedeutet der Umstand, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichts, um die es in den vorliegenden Schlussanträgen geht, in den Anwendungsbereich der VZÜ-Entscheidung fällt, dass sie aus den in meinen AFJR-Schlussanträgen dargelegten Gründen(45) auch als Fall der Durchführung der VZÜ-Entscheidung und damit des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen ist. Daher ist Art. 47 Abs. 2 der Charta als Prüfungsmaßstab heranzuziehen. Seine Funktion ist nicht notwendigerweise die einer Quelle irgendwelcher subjektiver Rechte von Verfahrensbeteiligten, vielmehr dient er als allgemeiner Maßstab für die Ordnungsmäßigkeit der nationalen Durchführung unionsrechtlicher Verpflichtungen(46). Vor diesem Hintergrund ist Art. 47 der Charta für die Zwecke der vorliegenden Rechtssachen in der Tat die relevanteste und spezifischste Bestimmung, mit der der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort auf die gestellten Fragen geben kann(47).

3.      Art. 325 Abs. 1 AEUV, PIFÜbereinkommen (und Charta)

86.      Nach Art. 325 Abs. 1 AEUV bekämpfen die Mitgliedstaaten Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten einen effektiven Schutz bewirken. Die Anwendbarkeit von Art. 325 Abs. 1 AEUV setzt somit das Vorliegen eines Betrugs oder sonstiger rechtswidriger Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union voraus.

87.      Können die in der Rechtssache C‑357/19 genannten Straftaten in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallen?

88.      Meines Erachtens ist diese Frage zu bejahen. Erstens gilt Art. 325 Abs. 1 AEUV jedenfalls für Straftaten im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer (a). Zweitens muss dies auch für die Straftaten im Zusammenhang mit Korruption gelten, die von der Union finanzierte Projekte betrifft (b). Drittens ist der Umstand, dass die vorliegende Rechtssache eine Situation betrifft, in der ein Schaden für die finanziellen Interessen der Union letzten Endes nicht eingetreten ist, für die Auslegung des Anwendungsbereichs von Art. 325 Abs. 1 AEUV unerheblich (c). Der Umstand, dass einige der Rechtsmittelführer von den spezifischen Straftaten im Zusammenhang mit den finanziellen Interessen der Union freigesprochen wurden, ist ebenfalls nicht von Bedeutung (d).

a)      Art. 325 Abs. 1 AEUV und Mehrwertsteuer

89.      Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen und die Staatsanwaltschaft in ihrer Antwort auf die vom Gerichtshof zur schriftlichen Beantwortung gestellten Fragen ausgeführt haben, geht es im Ausgangsverfahren der Rechtssache C-357/19 zum Teil um die Verurteilung des vierten Rechtsmittelführers wegen Steuerbetrugs, der Verluste bei der Erhebung der Mehrwertsteuer zur Folge hatte. Die Verurteilungen im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer reichen aus, um das vorliegende Verfahren in den Anwendungsbereich von Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 1 Abs. 1 Buchst. b des PIF‑Übereinkommens zu bringen, der Betrug im Zusammenhang mit Einnahmen betrifft. Es besteht nämlich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen und der Zurverfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union(48). Wie die Kommission und die Staatsanwaltschaft ausgeführt haben, erreicht der im vorliegenden Fall nicht erhobene Mehrwertsteuerbetrag offenbar den Schwellenwert von 50 000 Euro, der erforderlich ist, damit der Tatbestand des „schweren Betrugs“ nach Art. 2 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens erfüllt ist.

90.      Dies führt vorbehaltlich der Nachprüfung durch das vorlegende Gericht zu der Schlussfolgerung, dass in der Rechtssache C‑357/19, soweit es um die Verurteilung im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer geht, sowohl Art. 325 Abs. 1 AEUV als auch Art. 2 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens als einschlägiger Prüfungsmaßstab Anwendung finden.

b)      Art. 325 Abs. 1 AEUV, PIFÜbereinkommen und Korruption im Zusammenhang mit Unionsmitteln

91.      Im Hinblick auf die anderen Verurteilungen wegen Korruption und Amtsmissbrauchs(49) stellt sich die Frage, ob diese Straftaten im Zusammenhang mit der öffentlichen Auftragsvergabe, bei der für die Projekte oder Verträge zumindest teilweise Unionsmittel gewährt werden können, ebenfalls von Art. 325 Abs. 1 AEUV erfasst werden.

92.      Die rumänische Regierung, die Staatsanwaltschaft und die Kommission haben in ihren Antworten auf die Fragen des Gerichtshofs vorgetragen, dass diese Frage zu bejahen sei.

93.      Ich teile diese Ansicht.

94.      In der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 325 Abs. 1 AEUV geht es zumeist um die „Einnahmen“-Seite dieser Bestimmung, insbesondere in Fällen, die die Erhebung von Mehrwertsteuer(50) und Zöllen(51) betrafen. Der Begriff der „finanziellen Interessen“ der Union umfasst jedoch eindeutig sowohl Einnahmen als auch Ausgaben, die vom Unionshaushalt getragen werden(52). Daher ist Art. 325 Abs. 1 AEUV auf betrügerisches Verhalten anwendbar, das eine Veruntreuung von Mitteln aus dem Unionshaushalt zur Folge hat(53).

95.      Das ist vollkommen folgerichtig. Es ist nämlich logisch, dass die eigenen Haushaltsmittel und finanziellen Interessen nicht nur durch entgangene Einnahmen (das geschuldete Geld ist nicht eingegangen), sondern auch durch unangemessene oder falsche Ausgaben (Geld, das da war, ist jetzt weg) einen Schaden erleiden.

96.      Dies wird auch durch das PIF‑Übereinkommen(54) bestätigt, das eine genauere Definition des Begriffs „Betrug“ zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union enthält. Gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. a umfasst Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union im Zusammenhang mit Ausgaben jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend „die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, unrechtmäßig erlangt oder zurückbehalten werden“, das „Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge“ und „die missbräuchliche Verwendung solcher Mittel zu anderen Zwecken als denen, für die sie ursprünglich gewährt worden sind“(55).

97.      Ein Sachverhalt, der zur unrechtmäßigen Erlangung oder Zurückbehaltung oder zur missbräuchlichen Verwendung von Unionsmitteln führen kann, berührt daher die finanziellen Interessen der Union im Sinne von Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 1 Abs. 1 Buchst. a des PIF‑Übereinkommens.

98.      Vorbehaltlich der vom nationalen Gericht hierzu durchzuführenden Überprüfungen möchte ich daran erinnern, dass das Protokoll zum PIF‑Übereinkommen auch Korruptionshandlungen erfasst(56). Nach Art. 2 Abs. 1 dieses Protokolls ist Bestechlichkeit dann gegeben, „wenn ein Beamter vorsätzlich unmittelbar oder über eine Mittelsperson für sich oder für einen Dritten Vorteile jedweder Art als Gegenleistung dafür fordert, annimmt oder sich versprechen lässt, dass er unter Verletzung seiner Dienstpflichten eine Diensthandlung oder eine Handlung bei der Ausübung seines Dienstes vornimmt oder unterlässt, wodurch die finanziellen Interessen der [Union] geschädigt werden oder geschädigt werden können“.

99.      Wie die Kommission in ihrer Antwort auf die Fragen des Gerichtshofs ausgeführt hat, besteht kaum ein Zweifel daran, dass der Begriff „Korruption“, obwohl er in Art. 325 Abs. 1 AEUV nicht aufgeführt ist, von der Bezugnahme auf „sonstige rechtswidrige Handlungen“ in dieser Bestimmung erfasst wird. Der Ausdruck „sonstige rechtswidrige Handlungen“ ist ein Begriff, der unterschiedslos jedes rechtswidrige Verhalten umfasst(57).

100. Der Begriff der „sonstigen rechtswidrigen Handlungen“ im Sinne von Art. 325 Abs. 1 AEUV erfasst somit die Bestechlichkeit von Amtsträgern oder Amtsmissbrauch zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union durch missbräuchliche Verwendung von Unionsgeldern.

c)      Erfasst Art. 325 Abs. 1 AEUV auch den Versuch?

101. Wie aus der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑357/19 hervorgeht, möchte das vorlegende Gericht in Bezug auf Korruption und Amtsmissbrauch wissen, ob Art. 325 Abs. 1 AEUV einen Sachverhalt erfasst, in dem es zu einem Versuch der rechtswidrigen Zueignung von Unionsmitteln kam, der jedoch scheiterte. Die erste Rechtsmittelführerin und die Staatsanwaltschaft haben in ihren Antworten auf die Fragen des Gerichtshofs erklärt, dass die erste Rechtsmittelführerin wegen des Versuchs, sich rechtswidrig Unionsmittel zu verschaffen, angeklagt worden sei.

102. In diesem Kontext möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Formulierung „sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“ in Art. 325 Abs. 1 AEUV Korruptions- oder Betrugshandlungen erfasst, die im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge begangen werden, wenn das verfolgte Ziel darin besteht, die Erstattung von in betrügerischer Weise zugewiesenen Beträgen aus Unionsmitteln zu erhalten, auch wenn es am Ende nicht zu einer rechtswidrigen Zuweisung solcher Mittel gekommen ist.

103. Meines Erachtens können unter die Formulierung „sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“ in Art. 325 Abs. 1 AEUV nicht nur (vollendete) Korruptions- und Betrugstaten im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe fallen, sondern auch der Versuch solcher Taten, vorausgesetzt natürlich, dass die Schwelle des „Versuchs“ erreicht ist und dieser nach nationalem Recht strafbar ist.

104. Über diese allgemeine Feststellung hinaus ist es meines Erachtens nicht Aufgabe des Gerichtshofs, sich in irgendeiner Weise zu den im Ausgangsverfahren vorliegenden tatsächlichen Umständen zu äußern oder sich mit einer Analyse der verschiedenen Stufen strafbarer Handlungen zu befassen. Selbstverständlich sind Zielsetzungen, Absichten oder Wünsche (forum internum) nicht strafbar. Sobald eine davon in eine Handlung in der Außenwelt übergeht und zu einem Versuch wird, kann Strafbarkeit eintreten, vorausgesetzt natürlich, es liegen entsprechende Beweise vor. In der Regel fällt der Versuch, wenn er strafbar ist, unter denselben Tatbestand wie die vollendete Tat.

105. Ich sehe daher keinen Grund, warum der Versuch eines Korruptionsdelikts, das gegen die durch Art. 325 Abs. 1 AEUV geschützten Interessen verstößt, vom Anwendungsbereich des Unionsrechts her anders behandelt oder gar eingestuft werden sollte als das vollendete Korruptionsdelikt der gleichen Art. Der Umstand, dass der Täter letztlich mit seinem Ziel scheitert und es ihm nicht gelingt, sich die Gelder zuzueignen, kann natürlich für den Umstand relevant sein, dass er wegen eines Versuchs (und nicht wegen einer vollendeten Tat) angeklagt wird, hat aber keinen Einfluss auf die Tragweite des Begriffs der „sonstigen rechtswidrigen Handlungen“ im Sinne von Art. 325 Abs. 1 AEUV. Darüber hinaus sind drei weitere Punkte zu erwähnen.

106. Erstens ist nach dem Wortlaut von Art. 325 Abs. 1 AEUV die Verursachung eines bestimmten Schadens (bzw. einer bestimmten Schadenshöhe) nicht ausdrücklich erforderlich. Die Kommission weist zu Recht darauf hin, dass nach der Rechtsprechung auch Unregelmäßigkeiten, die keine konkreten finanziellen Auswirkungen haben, die finanziellen Belange der Union ernsthaft beeinträchtigen können(58).

107. Zweitens ist auch Art. 1 Abs. 3 des PIF‑Übereinkommens zu berücksichtigen. Nach dieser Vorschrift sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Vorbereitung zu Straftaten wie die Abgabe unrichtiger Erklärungen für die Veruntreuung von Unionsgeldern als Straftatbestand zu normieren, sofern sie nicht bereits entweder als selbständige Straftat oder als Beihilfe (z. B. Versuch oder Anstiftung) strafbar ist(59).

108. Drittens umfasst die Definition der Bestechlichkeit in Art. 2 Abs. 1 des Protokolls zum PIF‑Übereinkommen die Korruptionshandlungen, wenn sie in einer Weise vorgenommen werden, wodurch die finanziellen Interessen der Union geschädigt werden oder geschädigt werden können.

d)      Ist der Anwendungsbereich von Art. 325 Abs. 1 AEUV vom Ausgang des Gerichtsverfahrens abhängig?

109. Wegen der besonderen Umstände der Rechtssache C‑357/19 ist noch etwas anderes zu klären. Das Ausgangsverfahren betrifft mehrere Personen, von denen nur eine wegen einer Straftat im Zusammenhang mit Geldern der Union angeklagt worden war, aber schließlich freigesprochen wurde. Dieser Umstand hat die erste Rechtsmittelführerin und den zweiten Rechtsmittelführer dazu veranlasst, die Anwendbarkeit von Art. 325 Abs. 1 AEUV in dieser Rechtssache in Abrede zu stellen. Erstens macht die erste Rechtsmittelführerin im Wesentlichen geltend, dass die vorliegende Rechtssache keinen Bezug zu den finanziellen Interessen der Union aufweise, da sie vom Vorwurf dieser konkreten Straftat rechtskräftig freigesprochen worden sei. Sodann macht der zweite Rechtsmittelführer geltend, dass die Wirkungen des aufgrund der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts eingelegten außerordentlichen Rechtsbehelfs zur Wiederaufnahme eines ansonsten mit einem rechtskräftigen Freispruch abgeschlossenen Verfahrens führen würden. Die Wiederaufnahme dieses Verfahrens gäbe eine neue Möglichkeit zur erneuten Verhandlung über diese Anklagepunkte und könnte potenziell zu einer Verurteilung führen. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts könne daher keine nachteiligen Auswirkungen auf die finanziellen Interessen der Union haben. Es könnte diesen Interessen sogar zum Vorteil gereichen, weil eine zuvor freigesprochene Person schließlich verurteilt werden könnte.

110. Meines Erachtens greifen diese Argumente nicht durch.

111. Erstens ist als Vorbemerkung zu sagen, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die beiden anderen Straftaten, für die eine Strafe verhängt wurde (Korruption und Amtsmissbrauch), nicht geeignet sind, die finanziellen Interessen der Union zu beeinträchtigen. Der Anwendungsbereich von Art. 325 Abs. 1 AEUV kann nicht auf die Sanktionierung der in der nationalen Rechtsordnung festgelegten Straftaten, die ausdrücklich auf die finanziellen Interessen der Union oder sogar auf Unionsmittel Bezug nehmen, beschränkt werden. Dies würde den Geltungsbereich dieser unionsrechtlichen Bestimmung des Primärrechts von der nationalen Definition bestimmter Straftaten abhängig machen.

112. Daher darf, wie die Kommission, die rumänische Regierung und die Staatsanwaltschaft zu Recht ausgeführt haben, die Frage, ob die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigt wurden oder nicht, nicht von der Definition einer bestimmten Straftat nach nationalem Recht abhängig sein, sondern sollte vielmehr im Licht des umfassenderen Sachverhalts gemessen an den durch Art. 325 Abs. 1 AEUV geschützten Interessen beurteilt werden. Wie die rumänische Regierung ausführt, sind die nationalen finanziellen Interessen und die finanziellen Interessen der Union nämlich häufig miteinander verknüpft. Es ist daher ganz natürlich, dass die Unterscheidung zwischen allgemeinen Straftaten, die sich in irgendeiner Weise auf die nationalen öffentlichen Ausgaben auswirken, und jenen, die speziell die finanziellen Interessen der Union betreffen, abstrakt nicht einfach ist.

113. Zweitens stelle ich in Bezug auf den Straftatbestand des (versuchten) Betrugs betreffend Unionsmittel, der der ersten Rechtsmittelführerin zur Last gelegt wurde, fest, dass die „Auswirkungen“ auf die finanziellen Interessen der Union objektiv zu beurteilen sind. Die Verbindung zu den finanziellen Interessen der Union wird also durch die objektiven Elemente der betreffenden Anklagepunkte hergestellt(60). Sie ergibt sich nicht einfach aus dem entsprechenden Ausgang des Gerichtsverfahrens selbst.

114. Vereinfacht ausgedrückt hängt also die Frage, ob einer Person eine Straftat zur Last gelegt wird, die unter den Begriff „sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“ im Sinne von Art. 325 Abs. 1 AEUV fällt, von den objektiven (tatbestandsmäßigen) Elementen der zur Last gelegten Straftat ab. Für den Anwendungsbereich von Art. 325 Abs. 1 AEUV ist es unerheblich, ob die betreffende Person letztendlich in Bezug auf diese Tatvorwürfe verurteilt oder freigesprochen wird(61).

115. Als Schlussbemerkung zum Anwendungsbereich von Art. 325 Abs. 1 AEUV weise ich darauf hin, dass die Feststellung der Anwendbarkeit von Art. 325 Abs. 1 AEUV (oder von Art. 2 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens oder möglicherweise auch von Art. 2 Abs. 1 des Protokolls zum PIF‑Übereinkommen) seinerseits die Anwendbarkeit der Charta auslöst. Wenn die Sanktionen und Strafverfahren im Fall der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens als eine Durchführung von Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens anzusehen sind, ist die Charta gemäß ihrem Art. 51 Abs. 1 anwendbar(62).

4.      Zwischenergebnis

116. Aus den vorstehenden Überlegungen folgt, dass die VZÜ-Entscheidung zusammen mit Art. 47 Abs. 2 der Charta sowohl für die Rechtssache C‑357/19 als auch für die Rechtssache C‑547/19 einschlägige Bestimmungen enthält. Darüber hinaus dürften im Rahmen der Rechtssache C‑357/19 und vorbehaltlich der Überprüfung durch das nationale Gericht Art. 325 Abs. 1 AEUV sowie das PIF‑Übereinkommen und das Protokoll dazu gleichermaßen Anwendung finden.

117. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 und Art. 2 EUV sind im Grundsatz in beiden Rechtssachen gleichermaßen anwendbar. Aufgrund des besonderen Rechtsrahmens, den Art. 47 Abs. 2 der Charta in Bezug auf die Standards betreffend die Unabhängigkeit der Justiz vorsieht, bietet diese Bestimmung aber bereits einen tragfähigen Maßstab für die Durchführung der erforderlichen Prüfung in den vorliegenden Rechtssachen.

C.      Beurteilung

118. Um auf die materiellen Gesichtspunkte der in den vorliegenden Rechtssachen zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen einzugehen, werde ich zunächst kurz den nationalen rechtlichen Kontext darstellen (1). Zweitens werde ich die zweite Frage in der Rechtssache C‑357/19 behandeln, die die Auslegung von Art. 47 der Charta betrifft (2). Drittens werde ich mich der ersten Frage in der Rechtssache C‑357/19 zuwenden, die die Auslegung von Art. 325 Abs. 1 AEUV und des PIF‑Übereinkommens betrifft (3) und dann diese Aspekte, wie sie am Ende der Vorlagefrage in der Rechtssache C‑547/19 angeführt werden, gemessen am Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit behandeln (4). Abschließend werde ich auf den Vorrang des Unionsrechts eingehen, um die dritte Frage in der Rechtssache C‑357/19 zu beantworten, die in dem besonderen, in der Vorlageentscheidung geschilderten Kontext gestellt wird, bei dem die Nichtbeachtung einer Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts durch einen nationalen Richter ein Disziplinarvergehen darstellt (5).

119. Bei der Strukturierung der dem vorlegenden Gericht zu gebenden Antworten ziehe ich es bewusst vor, mich mit dem eigentlichen Inhalt zu befassen und erst dann, sofern noch erforderlich, zu den vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen weitergehenden institutionellen Fragen überzugehen. Dieser Ansatz entspricht zugegebenermaßen weder der Reihenfolge noch dem genauen Wortlaut der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen. Meines Erachtens ist dies jedoch der Weg, auf dem sich der Gerichtshof – dessen Aufgabe nicht darin besteht, über interinstitutionelle Konflikte in einem Mitgliedstaat zu entscheiden, und noch weniger darin, in institutionellen Auseinandersetzungen über die Befugnisse anderer nationaler Akteure Unterstützung zu bieten – sich mit den vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Fragen befassen kann.

1.      Nationaler rechtlicher Kontext

120. In der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑547/19 wird mitgeteilt, dass Spruchkörper mit fünf Richtern erstmals durch das Gesetz Nr. 202/2010(63), mit dem die Art. 32 und 33 des Gesetzes Nr. 304/2004 geändert wurden, in das nationale Recht eingeführt wurden. Diese Spruchkörper, die strafrechtliche und nicht strafrechtliche Fälle verhandeln, sind getrennt von den Senaten der ÎCCJ organisiert. Ihre Rolle ist die eines Überprüfungsgerichts (Rechtsmittelspruchkörper) innerhalb der ÎCCJ.

121. Ursprünglich wurden die Mitglieder dieser (Rechtsmittel‑)Spruchkörper vom Präsidenten der ÎCCJ zu Beginn eines jeden Jahres ausgewählt. Den Vorsitz in den Spruchkörpern hatte der Präsident der ÎCCJ, der Vizepräsident oder der Präsident eines Senats inne. Die übrigen vier Mitglieder des Spruchkörpers (mit Ausnahme des Vorsitzenden) wurden gemäß dem Beschluss Nr. 24/2010 zur Durchführung der ÎCCJ-Verordnung durch Losentscheid bestimmt.

122. Mit dem Gesetz Nr. 255/2013(64) wurde Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 über die Organisation des Gerichtswesens nachträglich geändert und die Bestimmungen über die Auslosung der Mitglieder von Spruchkörpern mit fünf Richtern eingeführt. Das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑547/19 führt aus, dass der Umstand, dass diese Änderungen durch einen normativen Akt im Bereich des Strafverfahrens eingeführt worden seien, sowie der Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen zu Auslegungsschwierigkeiten geführt hätten. Dies habe vor allem daran gelegen, dass es Unterschiede gegeben habe zwischen der Stellung, die Art. 32 Abs. 5 des Gesetzes Nr. 304/2004 dem Präsidenten bzw. dem Vizepräsidenten der ÎCCJ eingeräumt habe, die den Vorsitz in dem Spruchkörper mit fünf Richtern führen sollten, „wenn sie gemäß Absatz 4 [des Art. 32] als Mitglied des betreffenden Spruchkörpers bestimmt worden sind“, auf der einen und der Stellung des „Präsidenten des Strafsenats oder des dienstältesten Mitglieds“, für die dieselbe Bestimmung vorgesehen habe, dass sie den Vorsitz in dem Spruchkörper innehaben sollten, ohne dass auf Art. 32 Abs. 4 des Gesetzes verwiesen worden wäre, auf der anderen Seite. Zudem sei Art. 33 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 304/2004 erhalten geblieben, der vorgesehen habe, dass „[d]er Präsident der [ÎCCJ] oder, bei dessen Verhinderung, der Vizepräsident den Vereinigten Senaten, … dem Spruchkörper mit fünf Richtern und jedem Spruchkörper innerhalb der Senate, wenn er an der Verhandlung teilnimmt, vorsitzt“.

123. Offenbar in diesem Zusammenhang hat das Leitungsgremium der ÎCCJ den Beschluss Nr. 3 vom 28. Januar 2014 zur Änderung und Ergänzung der ÎCCJ-Verordnung erlassen. In diesem Beschluss wurde festgelegt, dass bei Spruchkörpern mit fünf Richtern der Präsident, der Vizepräsident, der Präsident des Strafsenats oder das dienstälteste Mitglied den Vorsitz führt und dass sich der Losentscheid bei diesen Spruchkörpern nur auf die anderen vier Mitglieder bezieht.

124. Das Gesetz Nr. 207/2018(65), mit dem sodann Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 geändert wurde, behielt die Regel bei, nach der das Leitungsgremium der ÎCCJ zu Beginn eines jeden Jahres die Anzahl und Besetzung der Spruchkörper mit fünf Richtern genehmigt. Diese Änderung beseitigte die früheren Ungenauigkeiten, indem sie vorsah, dass der Losentscheid alle Mitglieder eines Spruchkörpers mit fünf Richtern betraf.

125. Nach dieser letzten Änderung erließ das Leitungsgremium der ÎCCJ am 4. September 2018 den Beschluss Nr. 89/2018, in dem es ausführte, dass nach Prüfung „der Bestimmungen von Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 … in Bezug auf die Tätigkeit der Spruchkörper mit fünf Richtern … mehrheitlich festgestellt [wird], dass es sich bei den Bestimmungen des neuen Gesetzes um Organisationsvorschriften handelt, die speziell geregelte Spruchkörper, die ‚zu Beginn eines jeden Jahres‘ gebildet werden, betreffen und mangels Übergangsvorschriften beginnend zum 1. Januar 2019 anwendbar sind“.

126. In diesem Zusammenhang hat das Verfassungsgericht, das vom Ministerpräsidenten der rumänischen Regierung am 2. Oktober 2018 angerufen worden war, die Entscheidung Nr. 685/2018 erlassen.

127. Mit der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts wurde festgestellt, dass die ÎCCJ mit den Beschlüssen Nr. 3/2014 und Nr. 89/2018 ihres Leitungsgremiums im Wege einer Verwaltungsmaßnahme ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz abgeändert habe(66). Das Verfassungsgericht analysierte sodann die Folgen dieser Situation im Licht des Rechts auf ein faires Verfahren, das in Art. 21 Abs. 3 der rumänischen Verfassung verankert ist. Es stellte fest, dass diese Bestimmung der Verfassung wegen eines sich daraus ergebenden Mangels an sachlicher Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, was auch einen Verstoß gegen das Recht auf ein durch Gesetz errichtetes Gericht beinhalte, verletzt worden sei(67).

128. Das Verfassungsgericht wies darauf hin, dass Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 eine Garantie für die objektive Unparteilichkeit eines Gerichts und somit Bestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren sei. Zu dieser Garantie gehöre sowohl die Zuteilung von Rechtssachen nach dem Zufallsprinzip als auch die Besetzung gerichtlicher Spruchkörper per Losentscheid(68). Das Verfassungsgericht befand des Weiteren, dass die Besetzung der gerichtlichen Spruchkörper im Wege des Zufallsverfahrens darauf abgezielt habe, eine Situation zu vermeiden, in der ältere Richter der ÎCCJ, die diesen Spruchkörpern als Mitglieder „von Rechts wegen“ angehörten, den Vorsitz in diesen Spruchkörpern übernehmen würden(69). Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR)(70) stellte das Verfassungsgericht fest, dass die Auslegung, die das Leitungsgremium der ÎCCJ Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 durch seine Verwaltungsmaßnahme gegeben habe, geeignet sei, einen latenten Druck auf die anderen Mitglieder des Spruchkörpers zu erzeugen. Dies habe dazu geführt, dass die Richter in Abhängigkeit von ihren richterlichen Vorgesetzten gerieten oder dass zumindest die Möglichkeit bestanden habe, dass sie nicht gewillt gewesen seien oder gezögert hätten, ihnen zu widersprechen(71). Ebenfalls unter Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR(72) stellte das Verfassungsgericht des Weiteren fest, dass die ÎCCJ zu dem betreffenden Zeitpunkt nicht dem Gesetz entsprechend besetzt gewesen sei, da die Mitglieder der Spruchkörper mit fünf Richtern aufgrund eines Vorgangs, bei dem die geltenden Bestimmungen umgangen worden seien, ernannt worden seien(73).

129. Abschließend wird in der Entscheidung Nr. 685/2018 u. a. festgestellt, dass „in Anbetracht des aus verfassungsrechtlicher Sicht rechtswidrigen Vorgehens der [ÎCCJ] durch das Leitungsgremium, das nicht geeignet ist, Garantien hinsichtlich der korrekten Wiedererrichtung des gesetzlichen Rahmens der Arbeitsweise der Spruchkörper mit fünf Richtern zu bieten, dem Obersten Richterrat – Richterabteilung – auf der Grundlage seiner verfassungsmäßigen und gesetzlichen Vorrechte … die Verpflichtung zukommt, Lösungen auf grundsätzlicher Ebene hinsichtlich der rechtmäßigen Besetzung der Spruchkörper zu finden und deren Umsetzung zu gewährleisten“.

130. Infolge der Entscheidung des Verfassungsgerichts fasste der Oberste Richterrat die Beschlüsse Nr. 1367/2018 und Nr. 1535/2018. Auf der Grundlage dieser Beschlüsse besetzte die ÎCCJ die Spruchkörper für das Jahr 2018 durch Losentscheid neu. Diese Spruchkörper führten ihre richterliche Tätigkeit auch im Jahr 2019 fort. Dies war auch dann der Fall, wenn Ende 2018 in Bezug auf die zugeteilten Fälle noch keine Verfahrenshandlung vorgenommen worden war. Die zu jener Zeit bestehende Rechtsprechung der ÎCCJ sah jedoch vor, dass dann, wenn der Spruchkörper in der für ein Jahr festgelegten Besetzung in einem bestimmten Fall bis zum Jahresende keine Verwaltungshandlung vorgenommen hatte, die Besetzung des Spruchkörpers zu ändern wäre. Der Fall hätte den durch Losentscheid für das neue Kalenderjahr bestimmten Richtern zugewiesen werden müssen. Diese Vorgehensweise wurde jedoch offenbar durch die Entscheidungen des Obersten Richterrats als überholt angesehen.

131. Die vorstehend dargestellte Entwicklung im nationalen Recht und in der nationalen Rechtsprechung hatte verschiedene Auswirkungen auf die beiden vorliegenden Rechtssachen. Erstens eröffnete, was die Rechtssache C‑357/19 anbelangt, die Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts den Parteien die Möglichkeit, einen außerordentlichen Rechtsbehelf gegen die bereits ergangenen rechtskräftigen Urteile der ÎCCJ einzulegen. Zweitens hatte, was die Rechtssache C‑547/19 anbelangt, diese Entscheidung des Verfassungsgerichts zusammen mit den nachfolgenden Verwaltungsentscheidungen, die von der Richterabteilung des Obersten Richterrats und vom Leitungsgremium der ÎCCJ zu deren Umsetzung getroffen worden waren, unmittelbare Auswirkungen auf die Bestimmung des Spruchkörpers, der für die Entscheidung der Rechtssache der Rechtsmittelführerin zuständig war.

132. Die Hauptfrage in beiden Vorabentscheidungsersuchen betrifft kurzgefasst, wenn auch in etwas unterschiedlichen materiell- und verfahrensrechtlichen Zusammenhängen, die Frage, ob die Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts wegen ihrer Auswirkung auf rechtskräftige Entscheidungen der ÎCCJ und auf die Besetzung der gerichtlichen Spruchkörper innerhalb der ÎCCJ mit dem Unionsrecht vereinbar ist oder nicht.

2.      Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht

133. Mit seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑357/19 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Feststellung des Verfassungsgerichts entgegensteht, dass ein Mangel an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines gerichtlichen Spruchkörpers dann gegeben ist, wenn diesem Spruchkörper ein Richter mit Leitungsfunktion angehört, der anders als die anderen vier Mitgliedern dieses Spruchkörpers nicht nach dem Zufallsverfahren ausgewählt worden ist. Mit dieser Frage wird der Umstand verdeutlicht, dass ein solcher Richter dem Spruchkörper auf der Grundlage einer transparenten, den Verfahrensbeteiligten bekannten Regelung zugewiesen wird, die von ihnen nicht angefochten worden ist und allgemein auf alle vom selben Spruchkörper behandelten Rechtssachen Anwendung findet. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts stehen die Grundsätze der Unabhängigkeit der Justiz und der Rechtssicherheit der Bindungswirkung der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts in Bezug auf im Zeitpunkt dieser Entscheidung rechtskräftige Entscheidungen der ÎCCJ entgegen, wenn keine schwerwiegenden Gründe vorliegen, die das Recht auf ein faires Verfahren in den betreffenden Rechtssachen in Frage stellen würden.

134. Zur Beantwortung dieser Frage halte ich es für erforderlich, zunächst den sich aus Art. 47 Abs. 2 der Charta ergebenden Standard zu analysieren (a), um anschließend zu beurteilen, ob das Unionsrecht, insbesondere diese Bestimmung, dahin auszulegen ist, dass es der fraglichen Entscheidung des Verfassungsgerichts entgegensteht (b).

a)      Unionsrechtlicher Standard

135. Mit seiner zweiten Frage scheint das vorlegende Gericht seine Zweifel lediglich in Bezug auf das Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht zum Ausdruck zu bringen. Das ist aber offenbar nur ein Teil dessen, worum es geht. Aus der fraglichen Entscheidung des Verfassungsgerichts geht hervor, dass es um die Auslegung von Art. 47 Abs. 2 der Charta geht, und zwar nicht nur im Hinblick auf das Recht auf „ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“, sondern auch im Hinblick auf andere Aspekte des Rechts auf ein faires Verfahren, wie die Anforderungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, insbesondere im Hinblick auf die „interne Unabhängigkeit“ der Richter(74).

136. Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta ist Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta im Einklang mit der Bedeutung und der Tragweite der in Art. 6 Abs. 1 EMRK niedergelegten Rechte auszulegen. Damit soll sichergestellt werden, dass das Schutzniveau nicht unter den Standard der EMRK in der Auslegung durch den EGMR fällt(75).

137. Erstens hat der EGMR festgestellt, dass mit der Garantie des auf Gesetz beruhenden Gerichts sichergestellt werden soll, dass die Organisation des Gerichtswesens nicht in das Ermessen der Exekutive gestellt ist(76). Sie soll auch nicht von der Judikative abhängig sein, auch wenn tatsächlich ein gewisser Raum für Selbstorganisation besteht. Die anwendbaren Regeln müssen durch ein vom Gesetzgeber erlassenes Gesetz festgelegt werden(77). Darüber hinaus spiegelt der Begriff „auf Gesetz beruhend“ den Rechtsstaatlichkeitsgrundsatz wider. Er steht in engem Zusammenhang mit den Anforderungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz(78).

138. Der Begriff „auf Gesetz beruhend“ umfasst nicht nur die Rechtsgrundlage für die Existenz eines Gerichts, sondern auch die Besetzung der Richterbank in den einzelnen Rechtssachen(79), worum es vorliegend geht.

139. In der Rechtsprechung des EGMR ist anerkannt, dass die Standardregeln dafür, was genau ein „auf Gesetz beruhendes Gericht“ ist, im nationalen Recht festgelegt werden. Ein Verstoß gegen nationale Rechtsvorschriften bedeutet grundsätzlich eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK(80). Die Analyse konzentriert sich darauf, ob das „Recht“ (bestehend aus Gesetzen und anderen Rechtsvorschriften, deren Verletzung die Beteiligung von Richtern an der Entscheidung eines Falles unrechtmäßig machen würde), verletzt wurde(81). Enthält das nationale Recht beispielsweise Vorschriften über die Besetzung eines Spruchkörpers durch Losentscheid, so stellt dies eine der Anforderungen des nationalen Rechts dar, die der EGMR als eine der zu erfüllenden nationalen rechtlichen Anforderungen berücksichtigt(82).

140. Es gibt aber auch den Grundsatz der Subsidiarität. Der EGMR hat anerkannt, dass das Recht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht angesichts der sich gegenüberstehenden wichtigen betroffenen Interessen (wie z. B. die Rechtssicherheit und die Unabsetzbarkeit von Richtern) und der Auswirkungen, die mit der Feststellung eines Verstoßes möglicherweise verbunden sind, nicht allzu weit ausgelegt werden sollte(83). Das bedeutet, dass nicht jeder Verstoß gegen innerstaatliches Recht einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellt: Der EGMR hat Kriterien für den Schwellenwert entwickelt, anhand deren beurteilt werden kann, ob eine Unregelmäßigkeit so schwerwiegend ist, dass sie zu einer Verletzung des Rechts auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht führt, nämlich die Offenkundigkeit des Verstoßes (i) und die Auswirkungen eines solchen Verstoßes auf den Zweck dieses Rechts, um unzulässige Eingriffe in die Justiz zu vermeiden, um die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung zu wahren (ii), wobei auch die von den nationalen Gerichten vorgenommene Beurteilung der Rechtsfolgen des Verstoßes zu berücksichtigen ist (iii)(84).

141. Diese Erwägungen sind offenbar von ähnlicher Art wie sie der Gerichtshof in der Rechtssache Simpson dargelegt hat. In Bezug auf die (angeblich fehlerhafte) Ernennung eines Richters am Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine Vorschriftswidrigkeit, die bei der Ernennung von Richtern begangen wird, einen Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta darstellt, „insbesondere dann, wenn die Art und Schwere der Vorschriftswidrigkeit dergestalt ist, dass sie die tatsächliche Gefahr begründet, dass andere Teile der Staatsgewalt – insbesondere die Exekutive – ein ihnen nicht zustehendes Ermessen ausüben können, wodurch die Integrität des Ergebnisses des Ernennungsverfahrens beeinträchtigt und so beim Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des oder der betreffenden Richter geweckt werden …“(85). Der Gerichtshof hat festgestellt, dass dies der Fall ist, „wenn es um Grundregeln geht, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit dieses Justizsystems sind“(86).

142. Was zweitens den „internen Aspekt“ der richterlichen Unabhängigkeit anbelangt, so ist diese Frage in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bisher nicht behandelt worden. Es gibt jedoch bedeutsame Hinweise des EGMR zu dieser Frage(87). In der Rechtssache Parlov-Tkalčić/Kroatien hat der EGMR festgestellt, dass die richterliche Unabhängigkeit verlangt, dass der einzelne Richter „nicht nur von unzulässigen Einflüssen außerhalb der Justiz, sondern auch von solchen innerhalb der Justiz“ frei sein muss. Diese interne richterliche Unabhängigkeit setzt voraus, dass der Richter frei von Weisungen oder Druck seitens der Richterkollegen oder derjenigen ist, die im Gericht Leitungsfunktionen ausüben, wie z. B. der Präsident des Gerichts oder der Vorsitzende einer Abteilung des Gerichts … Das Fehlen ausreichender Garantien, die die Unabhängigkeit der Richter innerhalb der Justiz und insbesondere gegenüber ihren richterlichen Vorgesetzten sicherstellen, kann den [EGMR] zu dem Schluss veranlassen, dass die Zweifel eines Beschwerdeführers an der (Unabhängigkeit und) Unparteilichkeit eines Gerichts als objektiv gerechtfertigt anzusehen sind …“(88).

143. Im Rahmen dieser Analyse prüft der EGMR u. a., ob die Befugnisse, die richterlichen Vorgesetzten wie Gerichtspräsidenten übertragen werden, „geeignet sind, einen latenten Druck zu erzeugen, der dazu führt, dass sich Richter ihren richterlichen Vorgesetzten unterordnen oder zumindest einzelne Richter zögern, den Vorstellungen ihres Präsidenten zu widersprechen, d. h., dass sie eine ‚dämpfende‘ Wirkung auf die interne Unabhängigkeit der Richter haben …“(89).

b)      Analyse

144. Im vorliegenden Fall stellte das Verfassungsgericht in der Entscheidung Nr. 685/2018 fest, dass die Verwaltungsentscheidungen des Leitungsgremiums der ÎCCJ das Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht sowie das Erfordernis der Unparteilichkeit verletzt hätten. In Bezug auf den letztgenannten Gesichtspunkt wies das Verfassungsgericht auf die Bedeutung des internen Aspekts der richterlichen Unabhängigkeit hin.

145. Ich möchte bereits zu Beginn betonen, dass es im vorliegenden Fall nicht erforderlich ist, zu prüfen, ob Art. 47 Abs. 2 der Charta dasselbe Ergebnis verlangt. Das ist nicht die Frage, um die es geht. Was aber ohne große Schwierigkeiten festgestellt werden kann, ist, dass Art. 47 Abs. 2 der Charta den Schlussfolgerungen, zu denen das Verfassungsgericht gelangte, nicht entgegensteht.

146. Nach ständiger Rechtsprechung können die nationalen Gerichte in Fällen, in denen das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen gewissen Ermessensspielraum einräumt, die Grundrechte im Rahmen der nationalen Verfassung schützen, sofern das von der Charta gewährleistete Schutzniveau sowie der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts dadurch nicht beeinträchtigt werden(90).

147. Wenn diese Bedingung in der Rechtssache M.A.S. als Öffnung für nationale Verfassungsstandards als Begrenzung der Verpflichtung zur Nichtanwendung nationaler Vorschriften, die mit Art. 325 Abs. 1 AEUV materiell unvereinbar sind, festgestellt worden ist(91), dürfte recht offensichtlich sein, dass derselbe Ansatz auch als Mittel zur allgemeinen Beurteilung der Vereinbarkeit von nationalen Rechtsvorschriften sowie nationaler Rechtspraxis und Rechtsprechung auf der einen und Unionsrecht auf der anderen Seite Anwendung finden kann(92).

148. Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Frage der Besetzung gerichtlicher Spruchkörper sowie die Frage der Rechtsbehelfe, die im Falle eines Verstoßes gegen die einschlägigen nationalen Vorschriften (in der Auslegung durch die nationalen Gerichte, einschließlich des Verfassungsgerichts) zur Verfügung stehen, nicht durch das Unionsrecht geregelt sind. In Bezug auf Sachverhalte, die nicht vollständig durch Unionsrecht geregelt sind, behalten die Mitgliedstaaten ihren Ermessensspielraum. Deren möglicherweise höherer oder anderer Schutzstandard für die Grundrechte, der von den nationalen Gerichten zu ermitteln ist, ist gemäß Art. 53 der Charta erlaubt, insbesondere in Bezug auf Gegenstände, die nicht vollständig durch das Unionsrecht geregelt sind(93).

149. Das soll nicht heißen, dass man bei jeder nationalen Rechtsvorschrift, Rechtspraxis oder gerichtlichen Entscheidung, die als Beispiel für einen höheren oder anderen Schutzstandard für ein bestimmtes Grundrecht „verpackt und verkauft“ wird, zu dieser Schlussfolgerung kommen kann. Der Gerichtshof hat die Voraussetzungen, unter denen eine solche Situation zulässig ist, bereits in seiner Rechtsprechung dargelegt. Die Anwendung der Schutzstandards für die nationalen Grundrechte darf nicht dazu führen, dass das von der Charta garantierte Schutzniveau beeinträchtigt wird. Darüber hinaus möchte ich als vorausgehende und ziemlich offensichtliche Anforderung hinzufügen, dass die nationale Regelung oder Entscheidung, wie sie aufgrund der anwendbaren nationalen Standards ordnungsgemäß ausgelegt werden, in vernünftiger Weise und ernsthaft zum Schutz der Grundrechte auf nationaler Ebene beitragen muss.

150. Ist dies aber der Fall, dann sollte, wie ich bereits an anderer Stelle angemerkt habe, der Vorbehalt des „Vorrangs, der Einheit und der Wirksamkeit des Unionsrechts“ vielleicht nicht wörtlich genommen werden(94). Es ergäbe wenig Sinn, auf Einheitlichkeit in Bereichen zu bestehen, in denen nationale Verschiedenheit standardmäßig die Regel ist. Die Kernaussage ist aber klar: In Bezug auf Gegenstände und Sachverhalte, die nicht durch Unionsrecht geregelt werden, stellt die Charta nicht die Obergrenze dar(95).

151. In diesem Kontext sehe ich keinen Grund, weshalb ein nationales Verfassungsgericht nicht auf die sorgfältige Beachtung der Vorschriften über die Besetzung der nationalen gerichtlichen Spruchkörper, einschließlich der Frage der internen Unabhängigkeit, größeren Wert sollte legen dürfen und somit nicht zu dem Schluss sollte kommen können, dass, da gegen diese Vorschriften verstoßen wurde, in diesen Fällen die (offenbar) standardmäßigen nationalen Folgen für Entscheidungen durch nicht ordnungsgemäß gebildete Spruchkörper zu gelten haben.

152. Erstens sollte es nach Art. 53 der Charta möglich sein, der Unterschiedlichkeit insbesondere in Situationen Rechnung zu tragen, in denen es keinen Unterschied in der Art des geschützten Rechts gibt, sondern, oftmals aufgrund der nationalen historischen Erfahrung und der daraus resultierenden Sensibilität, ein Unterschied im Ausmaß und dem daraus folgenden Ausgleich besteht. So könnten bestimmte Rechtssysteme mit größerer Sensibilität auf die nicht ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts reagieren, einfach, weil sie noch eine gewisse historische Erinnerung daran bewahren, was passieren könnte, wenn solche Regelungen durch „Flexibilität“ ersetzt werden. Das Gleiche gilt für die Bedenken hinsichtlich des internen Aspekts der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Es wäre ein Fehler, in den Kategorien vergangener Jahrzehnte zu verharren, bei denen man annahm, die richterliche Unabhängigkeit werde durch die anderen Zweige der Staatsgewalt bedroht. Es gibt keinen Mangel an hochproblematischen Dingen, die Richter, insbesondere Richter mit Leitungsfunktion, anderen Richtern antun können(96).

153. Zweitens gilt das Gleiche dann auch für die Folgen eines solchen Verstoßes. Die Zulassung unterschiedlicher oder höherer Maßstäbe bei der Definition des Rechts oder des Grundsatzes beinhaltet logischerweise auch die Zulassung der Feststellung des angemessenen nationalen Ausgleichs zwischen den Erwägungen in Bezug auf das Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht einerseits und dem Grundsatz der Rechtskraft (res iudicata) andererseits(97).

154. In Anbetracht dieses Rahmens kann drittens die Antwort auf die Ausführungen der Beteiligten zu Art. 47 der Charta relativ kurz ausfallen.

155. Der zweite Rechtsmittelführer in der Rechtssache C‑357/19 trägt vor, dass die Regelung betreffend die Bestimmung der Mitglieder der Spruchkörper der ÎCCJ mit fünf Richtern durch Losentscheid als ein spezifischer nationaler Standard anzusehen sei. Diese Regelung schütze die Besetzung der Spruchkörper des höchsten Gerichts auf Rechtsmittelebene vor politischem Druck vor dem Hintergrund, dass der Präsident und der Vizepräsident dieses Gerichts vom Präsidenten Rumäniens ernannt würden. Dagegen haben die Staatsanwaltschaft, der Verein „Richterforum“ und die rumänische Regierung in ihren Antworten auf die ihnen gestellten Fragen des Gerichtshofs vorgetragen, dass der Grundsatz der Besetzung der Spruchkörper der ÎCCJ durch Losentscheid nicht als Teil eines spezifischen, mit dem Schutz der Grundrechte zusammenhängenden nationalen Standards anzusehen sei. Sie machen vor allem geltend, dass die Regelung über die Bestimmung der Mitglieder des Spruchkörpers durch Losentscheid nicht auf alle Gerichtsformationen anwendbar sei, sondern eher eine Ausnahme darstelle. Der Verein „Richterforum“ trägt in seinen schriftlichen Erklärungen in der Rechtssache C‑547/19 vor, dass der Umstand, dass nicht alle Richter eines Spruchkörpers durch Losentscheid bestimmt würden, nicht zu Zweifeln an ihrer Unparteilichkeit führen dürfen(98).

156. Meine relativ kurze Antwort ist folgende: Es ist Sache der zuständigen nationalen Institutionen, genau zu bestimmen, was der nationale Standard ist. Auch wenn der Umstand, dass nicht alle Richter eines Spruchkörpers durch Losentscheid bestimmt werden, nicht automatisch einen Mangel an Unparteilichkeit bedeutet, kann dies, wenn eine solche Anforderung in einer Rechtsvorschrift enthalten ist, zu Recht als eine Regelung über die Besetzung eines Spruchkörpers angesehen werden, die vom Recht auf ein durch Gesetz errichtetes Gericht erfasst ist. Die Definition dessen, was ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, verweist zurück auf das nationale Recht(99). Dies kann nur im Hinblick auf die Erfordernisse derjenigen Rechtsordnung beurteilt werden, die die Errichtung und die Arbeitsweise des betreffenden Gerichts regelt(100), im vorliegenden Fall also die rumänische Rechtsordnung. Wenn das Unionsrecht innerhalb der Grenzen des Vernünftigen und Ernsthaften(101) akzeptiert, dass derartige Fragen, die nicht durch das Unionsrecht geregelt werden, zu nationaler Differenzierung und Verschiedenheit führen, dann muss es auch akzeptieren, dass der zuständige nationale Akteur bzw. die zuständigen nationalen Akteure einen solchen Standard festlegen. Es ist nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, über Fragen des nationalen Rechts zu entscheiden.

c)      Zwischenergebnis

157. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die zweite Frage in der Rechtssache C‑357/19 wie folgt zu beantworten: Art. 47 Abs. 2 der Charta steht dem nicht entgegen, dass ein nationales Verfassungsgericht in einer Situation, die allgemein in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, aber nicht vollständig durch dieses geregelt wird, in Anwendung eines ernsthaften und vernünftigen nationalen Standards des Schutzes der verfassungsmäßigen Rechte und auf der Grundlage seiner Auslegung der anwendbaren nationalen Vorschriften feststellt, dass die Spruchkörper innerhalb des obersten nationalen Gerichts nicht im Einklang mit dem Gesetz errichtet worden sind.

3.      Schutz der finanziellen Interessen der Union

158. Die erste Frage in der Rechtssache C‑357/19 betrifft die Auslegung von Art. 325 Abs. 1 AEUV in Bezug auf den Erlass und die Wirkungen der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts. Dieselbe Frage in der Rechtssache C‑357/19 und die Frage in der Rechtssache C‑547/19 betreffen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 und Art. 2 EUV sowie von Art. 47 der Charta in Bezug auf diese Entscheidung des Verfassungsgerichts.

159. Im vorliegenden Abschnitt gehe ich auf etwaige Fragen ein, die den Schutz der finanziellen Interessen der Union betreffen können, bevor ich mich im folgenden Abschnitt der vorliegenden Schlussanträge der allgemeineren und strukturelleren Dimension der Vorlagefragen zuwende, die sich auf mögliche Auswirkungen dieser Entscheidung unter dem Aspekt der Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und der Rechtsstaatlichkeit beziehen.

160. Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑357/19, soweit sie sich auf Art. 325 Abs. 1 AEUV und auf Art. 1 Abs. 1 sowie Art. 2 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens bezieht, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 325 Abs. 1 AEUV sowie das PIF‑Übereinkommen dahin auszulegen sind, dass sie es einem nationalen Gericht erlauben, die Entscheidung eines nationalen Verfassungsgerichts, die zur Wiederaufnahme von rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren führt, wodurch die finanziellen Interessen der Union potenziell betroffen sein können, unangewendet zu lassen.

161. Die durch Art. 2 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens auferlegte Verpflichtung in Bezug auf die in Art. 1 dieses Übereinkommens beschriebenen Verhaltensweisen stellt eine Konkretisierung der weiter gefassten und umfassenderen Verpflichtungen aus Art. 325 Abs. 1 AEUV dar. Da es im vorliegenden Fall aber um den Anwendungsbereich von Art. 325 Abs. 1 AEUV geht, werde ich meine Analyse auf die letztgenannte Bestimmung beschränken. Es ist schließlich eher unwahrscheinlich, dass sich die Verpflichtungen, die einem Mitgliedstaat aufgrund der beiden Rechtsinstrumente obliegen, ihrer Art nach wesentlich unterscheiden.

1)      Unionsrechtlicher Rahmen

162. Der vorliegende Fall veranschaulicht die Fragen, die die Auslegung von Art. 325 Abs. 1 AEUV aufwirft, und die praktischen Folgen, die mit einem möglichen Verstoß gegen diese Vorschrift verbunden sind. In der jüngeren Rechtsprechung(102) wird deutlich, dass diese Vorschrift des Primärrechts der Union im Hinblick auf einen Ausgleich zwischen ihr und anderen Werten und Grundsätzen des Unionsrechts, wie z. B. den Grundrechten, eine komplexe Reihe von Verpflichtungen und Folgen umfasst.

163. Was die Verpflichtungen aus Art. 325 Abs. 1 AEUV anbelangt, ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs relativ eindeutig. Art. 325 Abs. 1 AEUV verpflichtet die Mitgliedstaaten, gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen durch effektive und abschreckende Maßnahmen zu bekämpfen(103). Die Mitgliedstaaten können die Sanktionen frei wählen. Sie müssen jedoch sicherstellen, dass ihre Verpflichtungen effektiv erfüllt werden, was in einigen Fällen die Verhängung von Strafen bedeutet(104). Die durch Art. 325 Abs. 1 AEUV auferlegten Pflichten enden nicht auf der Stufe des „Unterstrafestellens“: Die Mitgliedstaaten müssen auch dafür sorgen, dass andere Vorschriften materieller oder verfahrensrechtlicher Art (wie z. B. strafprozessuale Vorschriften(105) oder gesetzliche Verjährungsfristen(106)) eine effektive Bestrafung von Verstößen ermöglichen, die die finanziellen Interessen der Union betreffen.

164. Die verfahrensrechtliche und institutionelle Autonomie, die den Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung von Verstößen gegen die finanziellen Interessen der Union zukommt, ist aber gleichwohl beschränkt, und zwar u. a. durch das Erfordernis der Effektivität, wonach diese Sanktionen wirksam und abschreckend sein müssen(107).

165. Die Rechtsprechung lässt allerdings einen gewissen Grad an Komplexität erkennen, wenn es um die Prüfung der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit Art. 325 Abs. 1 AEUV, seine internen Schranken und die praktischen Folgen und Abhilfemöglichkeiten im Fall einer Unvereinbarkeit geht, insbesondere wenn es um die Verpflichtung der nationalen Gerichte geht, unvereinbare nationale Vorschriften unangewendet zu lassen(108).

2)      Standpunkte der Verfahrensbeteiligten

166. Im vorliegenden Fall haben weder die Beteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, noch das vorlegende Gericht die Wirksamkeit oder Abschreckung der im nationalen Recht vorgesehenen Strafen in Bezug auf schweren Betrug oder andere schwerwiegende rechtswidrige Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union als solche in Abrede gestellt. Es geht vielmehr um die Frage, ob die Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts sich nachteilig auf die wirksame Verfolgung und Bestrafung von Straftaten auswirken kann, und daher gegen Art. 325 Abs. 1 AEUV verstößt.

167. Das vorlegende Gericht und die Staatsanwaltschaft sind der Ansicht, dass die fragliche Entscheidung des Verfassungsgerichts nachteilige Auswirkungen auf die finanziellen Interessen der Union haben könne. Diese Auffassung beruht im Wesentlichen auf der Überlegung, dass die Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts zur Folge habe, dass rechtskräftige Urteile des Spruchkörpers mit fünf Richtern aufgehoben würden und somit die in einer beträchtlichen Anzahl von schweren Betrugsfällen verhängten Strafen ihre Wirksamkeit und Abschreckung verlieren könnten. Dadurch könnten die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigt werden, da als Folge der Anwendung der nationalen Verjährungsvorschriften in Anbetracht der Komplexität und der Dauer der Verfahren bis zum Erlass eines endgültigen Urteils nach einer erneuten Prüfung zum einen der Anschein der Straflosigkeit und zum anderen eine systemische Gefahr der Straflosigkeit erzeugt werde. Folglich sei die Entscheidung des Verfassungsgerichts für mit Art. 325 Abs. 1 AEUV unvereinbar zu erklären.

168. Die Kommission vertritt eine andere Auffassung und macht geltend, dass der vorliegende Fall vorbehaltlich der Überprüfung durch das nationale Gericht nicht geeignet sei, eine Wirkung im Sinne einer systemischen Straflosigkeit zu belegen. Auch wenn die Kommission zum gegenteiligen Ergebnis kommt, ist es interessant, festzustellen, dass ihr Ansatz auf denselben Grundlagen zu beruhen scheint wie die, auf die sich das vorlegende Gericht und die Staatsanwaltschaft stützen. Auch die Analyse der Kommission stützt sich in erster Linie auf Erwägungen zur „Wirksamkeit“, gemessen anhand der systemischen Straflosigkeit in Abhängigkeit von der möglichen Anzahl betroffener Fälle.

3)      Analyse

i)      Welches sind die maßgebenden Kriterien?

169. Der Umstand, dass Akteure in den vorliegenden Rechtssachen (das vorlegende Gericht, die Staatsanwaltschaft und die Kommission) sich auf dasselbe „Kriterium“ beziehen und damit zu entgegengesetzten Ergebnissen gelangen, ist erstaunlich. Zwar können ein oder mehrere Beteiligte schlicht falsch liegen. Es kann aber auch sein, dass dieses Ergebnis auf ein grundsätzlicheres Problem hindeutet: Vielleicht ist das Kriterium selbst nicht ideal.

170. Wie die Stellungnahmen im vorliegenden Fall veranschaulichen, würde das Kriterium für das Vorliegen eines Verstoßes gegen Art. 325 Abs. 1 AEUV im Wesentlichen darin bestehen, die Auswirkungen einer nationalen Vorschrift, Rechtsprechung oder Praxis zu bewerten. Danach läge ein Verstoß gegen Art. 325 Abs. 1 AEUV vor, wenn die Auswirkungen nationaler Maßnahmen zu einer Gefahr systemischer Straflosigkeit führen würden. Dies müsste anhand der möglichen Anzahl betroffener Fälle gemessen werden, auch wenn andere Faktoren wie die spezifischen Auswirkungen auf den Unionshaushalt oder die Art oder die Komplexität der betroffenen Fälle, ebenfalls als weitere zu berücksichtigende Aspekte vorgeschlagen werden.

171. Nach dieser Ansicht würde Art. 325 Abs. 1 AEUV – vielleicht etwas übertrieben formuliert – eine absolute Maxime einer Effektivität begründen, die sich danach bemessen würde, wie viel Geld hereingekommen ist und wie viele Personen verurteilt wurden, wenn dieses Geld nicht hereingekommen ist. Die Frage der Vereinbarkeit von Rechtsvorschriften wird auf die subjektive richterliche Einschätzung der (empirischen) Auswirkungen in einer weiter nicht näher spezifizierten (aber signifikanten) Anzahl von Fällen reduziert. Auf dieser Grundlage könnten alle nationalen Strafrechts- oder Strafprozessvorschriften selektiv unangewendet gelassen werden, was ohne Zweifel zum Nachteil des Angeklagten wäre. Hinzu kommt, dass die Grundrechte bei einem solchen Ansatz zwar relevant bleiben, deren Schutz aber wohl erst auf einer späteren Stufe zum Tragen käme, und zwar als mögliche Schranke für die Möglichkeit, nationale Maßnahmen unangewendet zu lassen oder eine neu geschaffene Regelung zum Nachteil des einzelnen Angeklagten durchzusetzen.

172. Aus den bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Dzivev(109) dargelegten Gründen halte ich diesen Ansatz für problematisch.

173. Erstens kann allgemeiner die Effektivität im Sinne einer wirksamen Abschreckung im Rahmen von Art. 325 Abs. 1 AEUV oder sonst im Unionsrecht(110) nicht als ein absoluter Wert verstanden werden, der alle anderen Erwägungen verdrängen würde. Zwar enthält Art. 325 Abs. 1 AEUV eine Bezugnahme auf wirksamkeitsorientierte Verpflichtungen, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten auferlegt. Er enthält aber auch eine starke Komponente institutioneller und verfahrensmäßiger Autonomie, die den Ausgangspunkt bilden sollte. In dieser von vornherein offenen Struktur kann die Effektivität nicht das einzige Element sein, das bei einer Prüfung der Vereinbarkeit berücksichtigt werden muss. Versteht man die Effektivität im weitesten Sinne, ließe sich absolut jedes Ergebnis rechtfertigen: Jede einer Verurteilung entgegenstehende nationale Regelung könnte für mit Art. 325 Abs. 1 AEUV unvereinbar erklärt werden. Das wäre kein Rezept für eine wirksame Durchsetzung des Rechts, sondern eher für durch Unionsrecht herbeigeführte individuelle Beliebigkeit und strukturelles Chaos.

174. Zweitens ist es daher von entscheidender Bedeutung, dass das potenziell schrankenlose Argument der „Effektivität“ gegen andere Vorschriften, Grundsätze und Werte des Unionsrechts, einschließlich der Grundrechte und der Gesetzmäßigkeit, abgewogen wird. Das muss bereits in der Phase der Prüfung der Vereinbarkeit geschehen(111). Die Gesetzmäßigkeit und die Grundrechte kommen nicht einfach auf einer späteren Stufe als eine mögliche (aber oftmals eher unbequeme) Schranke zum Tragen. Sie sind Teil desselben Regelwerks innerhalb derselben Unionsrechtsordnung und haben das gleiche Gewicht und die gleiche Bedeutung.

175. Der Gerichtshof hat dieses Verständnis im Urteil in den Rechtssachen M.A.S. und Dzivev bestätigt, wo er darauf hingewiesen hat, dass „die Verpflichtung, eine wirksame Erhebung der Unionsmittel zu garantieren, … die nationalen Gerichte jedoch nicht von der gebotenen Achtung der in der Charta garantierten Grundrechte und der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts [entbindet]…“(112), einschließlich „der gebotenen Achtung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit und der Rechtsstaatlichkeit, der, wie sich aus Art. 2 EUV ergibt, einer der grundlegenden Werte ist, auf denen die Union beruht“(113).

176. So hat der Gerichtshof in der Rechtssache Dzivev, sogar ohne auf die Frage einzugehen, ob die betreffenden Vorschriften zur Straflosigkeit in einer erheblichen Anzahl von Fällen geführt haben, festgestellt, dass das Unionsrecht ein nationales Gericht nicht verpflichten kann, von der Anwendung einer nationalen Verfahrensvorschrift abzusehen, und zwar auch dann nicht, wenn dies die Wirksamkeit einer Strafverfolgung erhöhen würde, die die Ahndung von Verstößen gegen das Unionsrecht ermöglichen würde, wo eine derartige Verfahrensvorschrift Anforderungen im Zusammenhang mit dem Schutz der Grundrechte genau entspricht(114). Jedenfalls würde, selbst wenn dies vielleicht bei einem anderen Sachverhalt der Fall sein sollte, die Verpflichtung zur Änderung der betreffenden nationalen Vorschrift und damit zur Behebung der unrichtigen oder ungenügenden Durchsetzung von Art. 325 Abs. 1 AEUV in erster Linie dem nationalen Gesetzgeber obliegen(115).

177. Drittens bin ich der Ansicht, dass, was die Art und die Kriterien der Prüfung einer etwaigen Unvereinbarkeit nationaler Vorschriften mit Art. 325 Abs. 1 AEUV betrifft, eine solche Prüfung auf dieselbe Weise erfolgen sollte wie jede andere Prüfung der Vereinbarkeit (bzw. Unvereinbarkeit) mit dem Unionsrecht. Es geht um die Prüfung der normativen Vereinbarkeit von Vorschriften und nicht um eine empirische, statistische Untersuchung einer (nicht näher spezifizierten) Anzahl betroffener Fälle(116).

178. Gerichte neigen dazu, schlecht in Statistik zu sein. Für die Analyse, die der Gerichtshof in der Rechtssache Taricco von den nationalen Gerichten verlangt, sind solide Beweise, möglicherweise in Verbindung mit einer konkreten Analyse hinsichtlich der zukünftigen Auswirkungen, erforderlich. Das scheint mir jenseits dessen zu liegen, was von einem nationalen Richter vernünftigerweise verlangt werden kann, erst recht von einem Richter eines unterinstanzlichen Gerichts, der zwar eine allgemeine Vorstellung von anderen anhängigen Fällen oder von strukturellen Fragen in seinem Rechtsgebiet haben kann, aber in erster Linie dazu berufen ist, über einen Einzelfall zu entscheiden. Abgesehen davon, dass solche Beweise in der Regel fehlen, dürfte das betreffende Ergebnis zudem wahrscheinlich in hohem Maße von den Umständen abhängen, z. B. von der etwaigen Anzahl der zu einem bestimmten Zeitpunkt bei einem Gericht anhängigen Fälle, die sich im Laufe der Zeit auch ändern kann und kaum als wesentlicher Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift oder Praxis mit dem Unionsrecht dienen kann(117).

179. Die Diskussion in den vorliegenden Rechtssachen macht diese Probleme sehr deutlich. Zunächst einmal gibt es keine Klarheit darüber, was genau eine signifikante Anzahl von Fällen ist, die auf eine strukturelle Straflosigkeit hinauslaufen kann. Mehr als 10 %? Mehr als 25 %? Mehr als 40 %? Dies führt natürlich dazu, dass die verschiedenen Akteure zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, selbst wenn sie sich auf die gleichen Prüfkriterien stützen(118). Auf der einen Seite scheint es, da alle diese Verfahren tatsächlich vor der ÎCCJ anhängig sind, dass in der Tat einige Daten verfügbar sind. In der Rechtssache C‑357/19 scheint die ÎCCJ, wie die rumänische Regierung in ihren Antworten auf die Fragen des Gerichtshofs erläutert hat, über recht detaillierte und vollständige Statistiken zu verfügen(119). Auf der anderen Seite ist dies möglicherweise nicht generell der Fall bei anderen Gerichten, die ebenso dazu aufgerufen sein können, Art. 325 Abs. 1 AEUV anzuwenden. Die erste Rechtsmittelführerin in der Rechtssache C‑357/19 weist in ihren Antworten auf die Fragen des Gerichtshofs darauf hin, dass die nationalen Gerichte kaum eine Analyse der systemischen Gefahr der Straflosigkeit im Sinne einer messbaren oder feststellbaren Anzahl betroffener Fälle vornehmen könnten, da sie nur für die Entscheidung von Einzelfällen zuständig seien. Unter diesen Umständen würde eine Prüfung anhand der Anzahl oder der möglichen Anzahl betroffener Fälle die Gefahr bergen, dass die Analyse der „Vereinbarkeit“ von der Verfügbarkeit und der Qualität statistischer Informationen abhängig gemacht wird, was wiederum leicht zu einer uneinheitlichen Anwendung oder vielmehr Nichtanwendung der nationalen Verfahrensvorschriften in Strafsachen führen würde.

180. Zusammenfassend ist festzustellen, dass das maßgebliche Kriterium für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 325 Abs. 1 AEUV schlicht darin bestehen sollte, ob eine nationale Vorschrift, Rechtsprechung oder Praxis aus normativer Sicht und ungeachtet ihrer tatsächlich messbaren Auswirkung in Bezug auf die Anzahl betroffener Fälle den wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union beeinträchtigen kann.

181. Zu den Elementen, die für diese Prüfung heranzuziehen sind, gehören: Erstens die normative und systematische Bewertung des Inhalts der betreffenden Vorschrift, zweitens ihr Zweck sowie der nationale Kontext und drittens ihre vernünftigerweise wahrnehmbaren oder erwarteten praktischen Folgen, die sich aus der Auslegung oder der Anwendungspraxis derartiger Vorschriften ergeben (also unabhängig von jeglicher statistischen Schätzung der Anzahl der tatsächlich oder möglicherweise betroffenen Fälle), viertens die Grundrechte und der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit, die Teil des inneren Ausgleichs bei der Auslegung der materiellen Anforderungen sind, die Art. 325 Abs. 1 AEUV für die Beurteilung der Vereinbarkeit der nationalen Vorschriften und Praxis mit dieser Bestimmung aufstellt. Die Grundrechte und der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit sind nämlich nicht nur bloße „korrigierende“ Faktoren, die die praktischen Auswirkungen dieser Bestimmung letztendlich (ex post) begrenzen können. Sie spielen von Anfang an bei der Auslegung des materiellen Inhalts von Art. 325 Abs. 1 AEUV eine Rolle als dessen innere Schranken für die vernünftigerweise vertretbare Auslegung dieser Bestimmung. Alle nationalen Bedenken hinsichtlich des Schutzes der Gesetzmäßigkeit und eines höheren nationalen Standards für den Schutz der Grundrechte, die in diesem Zusammenhang geltend gemacht werden, müssen jedoch, soweit es um ihre Ausgestaltung geht, ein vernünftiges und ernsthaftes Bemühen um ein höheres Niveau des Schutzes der Grundrechte widerspiegeln. Zudem müssen ihre möglichen Auswirkungen auf die durch Art. 325 Abs. 1 AEUV geschützten Interessen verhältnismäßig sein.

182. Führen diese Erwägungen zu der Feststellung, dass nationale Vorschriften oder Praktiken mit Art. 325 Abs. 1 AEUV unvereinbar sind, betrifft die nächste Frage schließlich die Rechtsbehelfe und Konsequenzen im Einzelfall. In solchen Fällen, insbesondere in Strafsachen, ist es von besonderer Bedeutung, ob weitere Erwägungen in Betracht kommen, mit denen verhindert würde, dass eine solche Unvereinbarkeitsfeststellung tatsächlich zum Nachteil der am Ausgangsverfahren Beteiligten angewendet wird.

183. Auf dieser letzten Stufe ändert sich der Blickwinkel. Die strukturellen Interessen der Union werden nicht mehr gegen die nationale Autonomie und den zulässigen Grad an Unterschiedlichkeit abgewogen, sondern müssen im Einzelfall gerecht gegen die individuellen Rechte der Betroffenen abgewogen werden. Zwar ist es in der Tat in erster Linie Aufgabe der nationalen Gerichte, in Anwendung der vom Gerichtshof gegebenen Hinweise diesen Ausgleich zu finden, doch muss die Argumentation des Gerichtshofs die Möglichkeit eröffnen, auf nationaler Ebene solche individuell gerechten Lösungen zu erreichen.

184. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine im Rahmen eines Einzelfalls getroffene Unvereinbarkeitsfeststellung nicht zwangsläufig als Folge verlangt, dass die neue Rechtslage dann auch im Ausgangsverfahren anwendbar ist. Aus struktureller Sicht stellt ein solches Ergebnis weder eine Bedrohung für die Wirksamkeit noch für den Vorrang des Unionsrechts dar. Hinzu kommt, dass, sollten bestimmte Praktiken auf nationaler Ebene tatsächlich so angesehen werden, dass durch sie die finanziellen Interessen der Union dadurch beeinträchtigt wurden, die Kommission nunmehr nach Art. 258 AEUV über ein wirksames Instrument verfügt, um die von einem Mitgliedstaat an den Unionshaushalt zu zahlenden Beträge zurückzufordern, ohne dass der Schutz der Grundrechte des Einzelnen auf nationaler Ebene dabei zum Kollateralschaden wird(120).

ii)    Anwendung auf den vorliegenden Fall

185. Beurteilt man die Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts nach den oben in Nr. 181 der vorliegenden Schlussanträge genannten Kriterien, scheint diese Entscheidung nicht geeignet, den wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union zu beeinträchtigen.

186. Erstens ist, wie die erste Rechtsmittelführerin und der vierte Rechtsmittelführer vortragen, unter dem Gesichtspunkt der normativen und systematischen Bewertung des Inhalts der fraglichen Entscheidung festzustellen, dass die Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts weder neue Rechtsbehelfe schafft noch das bestehende Rechtsbehelfssystem abändert. Es richtet sich nämlich in keiner Weise speziell auf die Durchsetzung von Art. 325 Abs. 1 AEUV. In dieser Entscheidung wird lediglich ein Verstoß gegen rechtliche Vorgaben betreffend die Besetzung gerichtlicher Spruchkörper festgestellt, der sich auch auf nationale Verfahren auswirkte, die im weiteren Sinne in den Anwendungsbereich von Art. 325 Abs. 1 AEUV fallen. Die Entscheidung ermöglichte es den Parteien, einen außerordentlichen Rechtsbehelf einzulegen, der in der Strafprozessordnung bereits gesetzlich vorgesehen ist. Es ist anzumerken, dass die begrenzten Fälle für die Zulassung solcher außerordentlichen Rechtsbehelfe in Art. 426 Abs. 1 der Strafprozessordnung aufgeführt sind, dessen Buchst. d sich ausdrücklich auf den Fall bezieht, dass „das Berufungsgericht nicht dem Gesetz entsprechend besetzt war“. Die Möglichkeit der Überprüfung rechtskräftiger Entscheidungen wegen einer Unregelmäßigkeit in der Besetzung eines gerichtlichen Spruchkörpers ist eine Lösung, die in verschiedenen Mitgliedstaaten nicht unüblich ist(121).

187. Zweitens liegt dem Gerichtshof, was den Zweck der Entscheidung Nr. 685/2018 sowie den nationalen Kontext betrifft, nichts vor, was darauf hindeuten würde, dass der Zweck der fraglichen Entscheidung darin bestanden hätte, die Rechtsinstrumente, die zur Bekämpfung der Korruption zur Verfügung stehen, zu umgehen oder zu untergraben oder den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu beeinträchtigen. Ich möchte diesen Punkt schon jetzt deutlich betonen: Es gibt keinen objektiven, fundierten Hinweis auf einen instrumentellen Gebrauch oder vielmehr Missbrauch der normalen Verfahren(122).

188. Drittens sind, wie die Kommission hervorhebt, die möglichen praktischen Auswirkungen der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts zeitlich begrenzt. Diese Entscheidung ist in erster Linie auf anhängige oder künftige Rechtssachen anzuwenden. Für die Anwendung der fraglichen Entscheidung auf rechtskräftige Rechtssachen gilt, dass die Parteien diesen außerordentlichen Rechtsbehelf nur einlegen können, wenn die Frist für den außerordentlichen Rechtsbehelf noch läuft. Gemäß Art. 428 Abs. 1 der Strafprozessordnung entfällt diese Möglichkeit jedoch nach Ablauf von 30 Tagen ab Zustellung der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts.

189. Darüber hinaus führt, wie auch von der Kommission und dem zweiten Rechtsmittelführer in der Rechtssache C‑357/19 zutreffend festgestellt, die Aufhebung eines Urteils eines Berufungsgerichts infolge der Anwendung der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts nicht zur Einstellung des Strafverfahrens, sondern nur zu einer Wiederaufnahme eines Verfahrensabschnitts. Außerdem bedeutet Wiederaufnahme natürlich nicht Umkehrung: Es kann selbstverständlich wieder genau dasselbe Ergebnis herauskommen, dieses Mal durch einen ordnungsgemäß besetzten Spruchkörper. Schließlich ist auch unwahrscheinlich, dass die sich etwa ergebenden Verzögerungen zu einer Verjährung der Strafverfolgung führen. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das nationale Gericht scheint die in den Art. 154 und 155 des Strafgesetzbuchs vorgesehene Verjährungsregelung nicht zu unangemessenen Folgen zu führen, wenn man die Länge der Verjährungsfristen sowie die Vorschriften über die Gründe für und die Wirkungen von Unterbrechungen dieser Fristen, einschließlich ihrer Höchstgrenze, berücksichtigt(123).

190. Viertens kann, wie die erste Rechtsmittelführerin sowie der zweite und der vierte Rechtsmittelführer in der Rechtssache C‑357/19 vortragen, nicht außer Acht gelassen werden, dass die Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts mit dem Grundrecht auf ein faires Verfahren, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht in Verbindung mit Bedenken in Bezug auf den Grundsatz der internen richterlichen Unabhängigkeit, begründet wird(124).

191. Können solche Erwägungen im Zusammenhang mit Art. 325 Abs. 1 AEUV auch dahin geltend gemacht werden, dass sie die Erwägungen betreffend die wirksame Abschreckung von Strafen, die auf nationaler Ebene anzuwenden sind, einschränken?

192. Ich bin der Ansicht, dass diese Erwägungen im Einklang mit den Urteilen in den Rechtssachen M.A.S. und Dzivev nicht nur geltend gemacht werden können, sondern auch anerkannt werden sollten. Auch hier gilt: Wenn in der Rechtssache M.A.S. in einem Bereich, der nicht durch Unionsrecht geregelt ist (in jenem Fall die Einschränkung von Verjährungsfristen) nationale verfassungsrechtliche Bedenken als Begrenzung der Verpflichtung zur Nichtanwendung von nationalen Bestimmungen, die mit Art. 325 Abs. 1 AEUV materiell unvereinbar sind, zugelassen worden sind(125), dann muss dies erst recht für die Beurteilung gelten, die einen Schritt davor anzustellen ist, nämlich bei der Prüfung der Vereinbarkeit von nationalem Recht sowie nationaler Rechtsprechung und Praxis auf der einen und Unionsrecht auf der anderen Seite(126).

193. Im Übrigen ist die Analyse, die hier durchgeführt werden könnte, in der Sache dieselbe, die zuvor im Zusammenhang mit dem Schutzniveau nach Art. 47 Abs. 2 der Charta durchgeführt wurde(127). Einfach ausgedrückt enthält das Unionsrecht keine (unmittelbaren) Bestimmungen über die Besetzung gerichtlicher Spruchkörper auf nationaler Ebene. Innerhalb dieses Kontexts zulässiger Unterschiedlichkeit hat das rumänische System offenbar eine strengere Sichtweise darüber, was der erforderliche Standard für ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstellt und welche Folgen ein Verstoß dagegen hat. Diese Bedenken erscheinen vernünftig und ernsthaft und spiegeln lediglich einen etwas anderen Ausgleich zwischen den Werten, um die es geht, wider.

194. Abschließend möchte ich nochmals im Kontext von Art. 325 Abs. 1 AEUV auf die „vernünftigen und ernsthaften“ Aspekte sowie, was dies betrifft, auf einen etwaigen höheren nationalen Schutzstandard nach der Charta hinweisen. Die so formulierte nationale Vorschrift muss ein ernsthaftes Bemühen widerspiegeln, das in vernünftiger Weise zum Schutz der nationalen Grundrechte und ‑werte beiträgt, und innerhalb der auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenwürde beruhenden Union als Wert (im Grundsatz, nicht notwendigerweise im Umfang und in der konkreten Formulierung) anerkannt ist.

195. Zwar wird es immer Sache der zuständigen nationalen Akteure bleiben, zu definieren, was ein nationaler (Verfassungs‑)Standard ist. Der Umstand, dass der Gerichtshof diese Definition nur zur Kenntnis nehmen kann, bedeutet jedoch nicht, dass er ihrem Inhalt voll und ganz zustimmen muss, insbesondere, wenn sie als Einschränkung des Unionsrechts oder Ausnahme vom Unionsrecht, einschließlich im Rahmen von Art. 325 Abs. 1 AEUV, geltend gemacht wird.

iii) Zwischenergebnis

196. Ich komme zu dem Ergebnis, dass auf die erste Frage in der Rechtssache C‑357/19, soweit sie Art. 325 Abs. 1 AEUV (sowie, vorbehaltlich der Überprüfung durch das nationale Gericht, möglicherweise Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b und Art. 2 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens) betrifft, zu antworten ist, dass diese Bestimmungen dahin auszulegen sind, dass sie einer Entscheidung eines nationalen Verfassungsgerichts nicht entgegenstehen, mit der die Besetzung von Spruchkörpern eines obersten nationalen Gerichts mit der Begründung für unrechtmäßig erklärt wird, dass das Recht auf ein unparteiisches Gericht verletzt worden sei, wodurch die Voraussetzungen für die Zulassung außerordentlicher Rechtsbehelfe gegen rechtskräftige Urteile geschaffen werden.

4.      Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit

197. Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑357/19, soweit sie sich auf Art. 19 Abs. 1 EUV bezieht, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob diese Bestimmung dem Erlass einer Entscheidung durch das Verfassungsgericht (das als „außerhalb der Justiz stehendes Rechtsprechungsorgan“ bezeichnet wird) wie der Entscheidung Nr. 685/2018 entgegensteht. Die Vorlagefrage in der Rechtssache C‑547/19 lautet in ähnlicher Weise (auch wenn hier das Verfassungsgericht als „ein Organ, das nach nationalem Recht kein Gericht ist“, bezeichnet wird), ob Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie Art. 47 der Charta dem Eingreifen des Verfassungsgerichts in Bezug auf die Art und Weise, in der ein oberstes Gericht im Rang unter der Verfassung stehende Rechtsvorschriften im Rahmen der Besetzung gerichtlicher Spruchkörper ausgelegt und angewandt hat, entgegenstehen.

198. Ich möchte betonen, dass es meines Erachtens nicht Aufgabe des Gerichtshofs ist, die Struktur und die Befugnisse der nationalen (Rechtsprechungs‑)Organe in allgemeiner Weise zu beurteilen. Mit Ausnahme extremer und unglücklicher Szenarien, in denen eine Rechtsprechungseinrichtung als Ganzes (oder sogar Teile des Justizsystems) die systemischen Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit nicht mehr erfüllt und daher nicht mehr als unabhängiges Gericht bezeichnet werden kann, und wenn die institutionelle Überprüfung eines nationalen Justizakteurs unvermeidlich wird, hat der Gerichtshof seine Analyse stets auf materielle Fragen beschränkt, die von einem vorlegenden Gericht aufgeworfen wurden. Zwar kann im Rahmen einer solchen Erörterung die vorangegangene Entscheidung eines anderen – sogar eines höheren – Rechtsprechungsorgans innerhalb derselben Rechtsordnung mittelbar in Frage gestellt werden. Gegenstand dieser Erörterung war jedoch stets in erster Linie der Inhalt dieser Entscheidung und nicht eine abstrakte Bewertung der Zuständigkeiten oder der allgemeinen Befugnisse einer nationalen Einrichtung, die diese Entscheidung erlässt.

199. In den vorangehenden Abschnitten der vorliegenden Schlussanträge wurde dieser Linie gefolgt(128). Da es jedoch Aufgabe des Generalanwalts ist, den Gerichtshof bei der Prüfung aller möglichen Gesichtspunkte der vorgelegten Rechtssache in vollem Umfang zu unterstützen, werde ich auch einige, wenn auch recht kurze, Bemerkungen zu den vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen weitergehenden institutionellen Fragen machen.

200. Angesichts der vom vorlegenden Gericht geäußerten Bedenken (1) werde ich nach einigen allgemeinen Überlegungen zum unionsrechtlichen Rahmen (2) prüfen, ob die Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit, die in Art. 47 Abs. 2 der Charta und in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verankert sind, der Anwendung der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts entgegenstehen (3).

1)      Zu den vom vorlegenden Gericht geäußerten Bedenken

201. In seinen Vorlageentscheidungen weist das vorlegende Gericht auf verschiedene Probleme hin, die sich beziehen auf den Status und die Besetzung des Verfassungsgerichts im Allgemeinen (i), auf seine spezielle Befugnis zur Feststellung des Vorliegens eines verfassungsrechtlichen Konflikts und auf die konkrete Ausübung dieser Befugnis beim Erlass der Entscheidung Nr. 685/2018 (ii) sowie auf die Auswirkungen dieser Entscheidung auf den Grundsatz der Rechtssicherheit (iii).

202. Das erste Problem, das mit dem Status und der Stellung des Verfassungsgerichts zusammenhängt, wird vom vorlegenden Gericht in seiner Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑547/19 näher erläutert. Es wird darauf hingewiesen, dass das Verfassungsgericht, da es nicht Teil der Judikative sei, kein Gericht sei. Politische Erwägungen spielten bei der Ernennung seiner Mitglieder eine wichtige Rolle. Art. 142 Abs. 3 der rumänischen Verfassung sehe vor, dass von den neun Mitgliedern des Verfassungsgerichts „[d]rei Richter … von der Abgeordnetenkammer, drei vom Senat und drei vom Präsidenten Rumäniens ernannt [werden]“.

203. Das zweite Problem, das in der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑547/19 ebenfalls untersucht wird, betrifft die Befugnis des Verfassungsgerichts zur Feststellung des Vorliegens eines verfassungsrechtlichen Konflikts. Es umfasst sowohl die Behörden, die zur Einleitung dieses Verfahrens befugt sind, als auch die Auswirkungen eines solchen Verfahrens auf die Befugnisse der Justiz.

204. Zum einen verweist das vorlegende Gericht darauf, dass nach Art. 146 Buchst. d der rumänischen Verfassung das Verfahren zur Feststellung des Vorliegens eines verfassungsrechtlichen Konflikts nur auf Antrag des Präsidenten Rumäniens, eines der Präsidenten der beiden Parlamentskammern, des Ministerpräsidenten oder des Präsidenten des Obersten Richterrats eingeleitet werden kann. Mit Ausnahme des Präsidenten des Obersten Richterrats sind die anderen beteiligten Personen politische Organe. Indem das vorlegende Gericht diesen Aspekt mit dem politischen Element, das die Ernennung der Mitglieder des Verfassungsgerichts betrifft, in Verbindung bringt, ist es der Auffassung, dass die Gegebenheiten geeignet seien, die Gefahr einer Einmischung zu politischen Zwecken oder im Interesse politisch einflussreicher Personen zu begründen. Das vorlegende Gericht ist offenbar der Ansicht, dass diese Gefahr durch den Umstand belegt werde, dass das vom Ministerpräsidenten eingeleitete Verfahren, das zur Entscheidung Nr. 685/2018 führte, zu einer Zeit stattgefunden habe, als der Präsident der Abgeordnetenkammer, der auch Vorsitzender der Regierungspartei gewesen sei, selbst Angeklagter in einem Strafverfahren gewesen sei, das bei einem für die Verhandlung von Strafsachen eingerichteten Spruchkörper mit fünf Richtern anhängig gewesen sei.

205. Zum anderen erläutert das vorlegende Gericht in Bezug auf die Auswirkungen des spezifischen Verfahrens zur Feststellung des Vorliegens eines verfassungsrechtlichen Konflikts auf die Unabhängigkeit der Gerichte, dass die Abgrenzung zwischen „reinen Rechtsfragen“, für die die ordentlichen Gerichte zuständig seien, und „verfassungsrechtlichen Konflikten“, über die das Verfassungsgericht entscheide, unklar sei. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass eine Gerichtsentscheidung, die gegen das Gesetz verstoße, eine rechtswidrige Entscheidung bzw. ein Verwaltungsakt, der gegen das Gesetz verstoße, ein rechtswidriger Rechtsakt und nicht Ausdruck eines „verfassungsrechtlichen Konflikts mit der Legislative“ sei. Abhilfemaßnahmen in diesen Fällen seien je nach Fall entweder die Inanspruchnahme von Rechtsbehelfen oder die Erhebung einer verwaltungsgerichtlichen Klage.

206. Was insbesondere die Entscheidung Nr. 685/2018 betrifft, stellt das vorlegende Gericht fest, dass die vom Leitungsgremium der ÎCCJ in seinem Beschluss Nr. 3/2014 vorgenommene Auslegung durch fehlende Klarheit des Gesetzes veranlasst gewesen sei. Die Auslegung könne daher nicht als bewusste Missachtung des Willens des Gesetzgebers angesehen werden. In diesem Kontext sei das Verfassungsgericht lediglich der von der ÎCCJ vorgenommenen Auslegung der unklaren Gesetzesbestimmungen entgegengetreten. Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Tätigkeit der ÎCCJ durch das Verfassungsgericht sowie der Umstand, dass das Verfassungsgericht die Übertragung dieser Befugnisse, die nach dem Gesetz der ÎCCJ zukommen würden, auf den Obersten Richterrat angeordnet habe, könne nicht nur negative Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit, sondern auch auf die Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit selbst haben.

207. Das dritte Problem betrifft die Auswirkungen der fraglichen Entscheidung auf den Grundsatz der Rechtssicherheit. Das vorlegende Gericht weist in seinem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑357/19 ganz allgemein darauf hin, dass die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und der Rechtssicherheit es ausschlössen, der Entscheidung Nr. 685/2018 verbindliche Wirkungen in Bezug auf Entscheidungen zukommen zu lassen, die bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsgerichts rechtskräftig geworden seien, sofern keine schwerwiegenden Gründe vorlägen, die die Beachtung des Rechts auf ein faires Verfahren in den betreffenden Fällen in Frage stellten. Die Auslegung durch das Leitungsgremium der ÎCCJ, die in die ÎCCJ-Verordnung aufgenommen worden sei und die in der Gerichtspraxis unangefochten und einhellig anerkannt sei, stelle keinen vernünftigen Grund dar, der solche Wirkungen rechtfertigen würde.

2)      Unionsrechtlicher Rahmen

208. Gemäß dem Grundsatz der institutionellen Autonomie fallen die Struktur und die Organisation der Justiz in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten(129). Dazu gehört auch die Errichtung und Arbeitsweise eines Verfassungsgerichts. Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht dazu, ein bestimmtes Verfassungsmodell zur Regelung des Verhältnisses und des Zusammenwirkens zwischen den verschiedenen Staatsgewalten einzuführen(130), vorausgesetzt natürlich, dass ein gewisses Grundmaß an Gewaltenteilung (das für die Rechtsstaatlichkeit unerlässlich ist) aufrechterhalten wird(131).

209. Bei der Ausgestaltung ihrer Justizorgane und ‑verfahren müssen die Mitgliedstaaten jedoch ihre unionsrechtlichen Verpflichtungen einhalten, die sich aus Art. 47 der Charta ergeben, dessen Anwendungsbereich und Inhalt im Licht von Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV auszulegen sind(132). Es gibt jedoch kein vorgefertigtes oder einzig gültiges Modell oder System. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs versucht stattdessen, Mindestanforderungen zu bestimmen, die die nationalen Systeme erfüllen müssen. Diese Anforderungen beziehen sich auf die internen und die äußeren Aspekte der richterlichen Unabhängigkeit sowie auf das Erfordernis der Unparteilichkeit auf der Grundlage der Rechtsprechung des EGMR.

210. Der äußere Aspekt der richterlichen Unabhängigkeit, der eng mit dem Erfordernis der Unparteilichkeit zusammenhängt, erfordert, „dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten“(133). Dies umfasst nicht nur die unmittelbare Einflussnahme in Form von Weisungen, sondern auch die „Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten“(134).

211. Wie der Gerichtshof unter Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ausgeführt hat, sind einige der maßgeblichen Aspekte, die bei der Feststellung des Aspekts der „Unabhängigkeit“ zu berücksichtigen sind, u. a. die Art und Weise der Ernennung und die Amtszeit der Richter, das Bestehen von Schutz gegen die Ausübung von Druck von außen sowie die Frage, ob die Einrichtung den „Anschein von Unabhängigkeit“ vermittelt, da es gerade um das Vertrauen geht, das jedes Gericht in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss(135).

212. Einen weiteren wichtigen Aspekt des objektiven Kriteriums der Unparteilichkeit ist der (bzw. die Lehre vom) Anschein: Dieses Kriterium verlangt die Prüfung, ob es abgesehen vom Verhalten eines bestimmten Richters feststellbare Umstände gibt, die Zweifel an seiner Unparteilichkeit aufkommen lassen können(136). Insbesondere in Bezug auf die Ernennung von Richtern ist es erforderlich, dass „die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass der Ernennungsentscheidungen so beschaffen sind, dass sie bei den Rechtsunterworfenen, sind die betreffenden Richter erst einmal ernannt, keine berechtigten Zweifel an deren Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen“(137).

213. Um das Erreichen dieser Schwelle zu prüfen, hat der Gerichtshof jedoch eine Gesamtanalyse bevorzugt, die Aspekte im Zusammenhang mit der institutionellen Gestaltung, der rechtlichen Regelung und der praktischen Durchführung berücksichtigt. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof festgestellt, dass beispielsweise der bloße Umstand, dass die Exekutive oder die Legislative bei der Ernennung von Richtern mitwirkt, kein Unterordnungsverhältnis begründet, wenn die Richter nach ihrer Ernennung keinem Druck ausgesetzt sind und bei der Ausübung der Pflichten ihres richterlichen Amtes keinen Weisungen unterliegen(138).

214. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass „die Unabhängigkeit eines einzelstaatlichen Gerichts … – auch unter dem Blickwinkel der Bedingungen, unter denen seine Mitglieder ernannt werden – anhand aller relevanten Faktoren beurteilt werden [muss]“(139). Das bedeutet, dass, auch wenn einige der von einem nationalen Gericht angeführten Gesichtspunkte an und für sich nicht zu beanstanden sind, diese Gesichtspunkte in ihrer Gesamtheit und neben den Begleitumständen als problematisch erscheinen können(140).

3)      Analyse

i)      Besetzung und Status des Verfassungsgerichts

215. Was das erste der vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Probleme anbelangt, das die Besetzung und den Status des Verfassungsgerichts betrifft, so scheint mir die Methode der Ernennung zum Verfassungsgericht als solche nicht problematisch zu sein. Der Umstand, dass „politische“ Institutionen an der Ernennung zu einer Einrichtung wie der des Verfassungsgerichts beteiligt sind, verwandelt diese nicht automatisch in eine politische Einrichtung, die Teil der Exekutive oder dieser untergeordnet wäre. Was dagegen wichtig ist, ist, dass Verfassungsrichter, sobald sie ernannt sind, ihre Amtstätigkeit frei von Einfluss oder Druck ausüben können(141).

216. Von der Struktur und der Organisation her unterscheiden sich Verfassungsgerichte in der Tat von anderen Gerichten. In dieser Hinsicht und in diesem Rahmen sind Verfassungsgerichte, insbesondere in jenen Rechtssystemen, in denen sie eine spezialisierte, konzentrierte Verfassungsprüfung ausüben, nicht wie irgendein anderes, ordentliches Gericht innerhalb eines nationalen Systems(142). Auch wenn es gelegentlich Einordnungszweifel geben mag, welcher Staatsgewalt genau sie denn zugehören, so bedeutet dies nicht, dass es sich bei diesen Gerichten in letzter Konsequenz nicht mehr um „Gerichtsbarkeit“ handelt(143). Für die Zwecke dieser Definition ist bei der Festlegung des Status der Verfassungsrichter und der rechtlichen Garantien für ihre Unabhängigkeit während ihrer Amtszeit von Bedeutung, dass solche Gerichte mit den erforderlichen Attributen der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit ausgestattet sind.

217. Daraus lässt sich auch eine Antwort in Bezug auf die Ernennung ableiten. Wer die Ernennung tatsächlich vornimmt, ist nicht entscheidend(144), aber zum Teil von Bedeutung, insbesondere im Zusammenhang mit dem Verfahren zur Auswahl der Richter. Entscheidend sind die Garantien der Unabhängigkeit bei der Ausübung des Amtes gegebenenfalls zusammen mit dem tatsächlichen Verhalten. Nebenbei bemerkt, könnte man sogar behaupten, dass gerade die Beteiligung anderer Zweige des Staates an der Ernennung von Richtern ein Beispiel für echte Gewaltenteilung ist. Die Gewaltenteilung sollte nicht mit übertriebenen Vorstellungen von richterlicher Unabhängigkeit im Sinne von richterlicher Abschottung und Abgeschiedenheit verwechselt werden.

218. Im Kontext der vorliegenden Rechtssachen ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 145 der rumänischen Verfassung das Erfordernis der Unabhängigkeit zum verfassungsrechtlichen Status der Richter des Verfassungsgerichts gehört. Gemäß Art. 142 Abs. 2 der rumänischen Verfassung ist die neunjährige Amtszeit der Verfassungsrichter nicht verlängerbar. Während dieses Zeitraums sind sie gemäß Art. 145 der rumänischen Verfassung unabsetzbar. Die Voraussetzungen für ihre Ernennung, zu denen hervorragende juristische Qualifikationen, ein hohes Maß an fachlicher Kompetenz und mindestens 18 Jahre Erfahrung im juristischen Beruf oder in juristischer Hochschulausbildung gehören, sind in Art. 143 der rumänischen Verfassung festgelegt. Wie die Kommission anmerkt, sieht Art. 144 der rumänischen Verfassung außerdem eine Unvereinbarkeitsregelung für Verfassungsrichter vor, mit der deren Unabhängigkeit gewährleistet sein soll.

219. Darüber hinaus sind Verfassungsgerichte im Allgemeinen(145) und das rumänische Verfassungsgericht im Besonderen(146) vom Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV als geeignete Gesprächspartner angesehen worden, was zumindest bis zu einem gewissen Grad ihre Unabhängigkeit voraussetzt, damit sie die Definition eines „Gerichts“ gemäß Art. 267 AEUV erfüllen(147).

ii)    Befugnisse und Praxis des Verfassungsgerichts

220. In ähnlicher Weise fallen die Bedenken des vorlegenden Gerichts hinsichtlich der Befugnis des Verfassungsgerichts zur Feststellung des Vorliegens eines verfassungsrechtlichen Konflikts zwischen Verfassungsorganen in den Bereich der institutionellen und verfahrensrechtlichen Autonomie dieses Mitgliedstaats.

221. Es gibt keinen vorgegebenen Katalog von Befugnissen, mit denen Verfassungsgerichte ausgestattet sein müssen oder nicht ausgestattet sein dürfen, um mit dem unionsrechtlichen Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit in Einklang zu sein. In gewisser Weise ist es den Funktionen von Verfassungsgerichten inhärent, dass ihre Befugnisse (unmittelbar oder mittelbar) Auswirkungen auf die von ordentlichen Gerichten gefällten Entscheidungen entfalten(148).

222. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass zumindest meines Wissens kein Verfassungsgericht in Europa bisher eine präzise Formel für die Unterscheidung gefunden hat, was eine Frage von „verfassungsrechtlicher“ Bedeutung ist und was eine Frage „bloßen“ oder „einfachen“ Rechts darstellt. Das Fehlen einer solchen klaren Unterscheidung hat in der Vergangenheit nicht zu einem Mangel an Konflikten zwischen nationalen obersten (ordentlichen) Gerichten und nationalen Verfassungsgerichten geführt, insbesondere in Systemen, die eine konkrete (oder individuelle) Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit auf der Grundlage von Individualverfassungsbeschwerden kennen(149).

iii) Der Grundsatz der Rechtskraft (res iudicata)

223. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Besonderheit der Wirkungen und praktischen Folgen von Entscheidungen der Verfassungsgerichte auch zu den Aspekten gehört, die von den nationalen Rechtsordnungen zu regeln sind, einschließlich des Schutzes von Grundsätzen wie dem der Rechtskraft (res iudicata) und der Rechtssicherheit.

224. Im spezifischen Rahmen des Unionsrechts hat der Gerichtshof wiederholt auf die Bedeutung beider Grundsätze hingewiesen(150). Das bedeutet, dass der Gerichtshof, was die Anforderungen aus dem Unionsrecht betrifft, abgesehen von einigen ganz außergewöhnlichen Szenarien(151), nie verlangt hat, die Rechtskraftwirkung rechtskräftiger Entscheidungen generell aufzuheben. Gleichzeitig hat der Gerichtshof jedoch keine Einwände gegen außerordentliche Rechtsbehelfe erhoben, die für die Wiederaufnahme rechtskräftiger, gegen das Unionsrecht verstoßender Entscheidungen in Rumänien vorgesehen sind, wobei er die Ausgewogenheit und die besondere Verfahrenswahl eines nationalen Gesetzgebers respektiert(152). Das Gleiche muss erst recht für die Wirkungen und Auswirkungen einer nationalen Verfassungsentscheidung gelten.

iv)    Vorbehalt

225. Wie ich in meinen AFJR-Schlussanträgen ausgeführt habe, kann man die Analyse zur Beurteilung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit durch den Gerichtshof im Rahmen von „strukturellen Fällen“, die zu einer Überprüfung bestimmter nationaler institutioneller oder verfahrensrechtlicher Lösungen mit den Anforderungen des Unionsrechts führen, auf drei Ebenen durchführen: die Analyse „nur auf dem Papier“, die Analyse der „Kombination von Texten“ oder des „Texts in seiner Anwendung“ und die Analyse Praxis allein, die sich völlig von dem unterscheidet, was auf dem Papier steht(153).

226. In den vorliegenden Rechtssachen scheint die Beurteilung der „Theorie“ oder dessen, was „nur auf dem Papier“ steht, keine Zweifel an der Unparteilichkeit oder Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts aufkommen zu lassen.

227. Zwar sind die Hinweise auf mögliche Risiken und sogar gelegentliche Unterstellungen, die sich in der vorliegenden Verfahrensakte finden, insbesondere in Bezug auf die konkrete Entscheidung Nr. 685/2018, die beteiligten Akteure und ihre angeblichen Motive, nicht zu übersehen(154).

228. Dabei würde es sich aber um einen ganz anderen Fall handeln als den, der vor den Gerichtshof getragen worden ist(155). Es ist heute in der Europäischen Union zwar leider denkbar, dass es Fälle von Manipulation oder offenem Missbrauch eines bestimmten verfassungsrechtlichen Verfahrens gibt, das, obwohl es scheinbar neutralen Regeln unterliegt, zum Nutzen oder im Interesse einer bestimmten Person oder Gruppe eingesetzt werden könnte. Ein noch extremeres Szenario könnte sein, dass es nicht nur einen oder mehrere individuelle institutionelle Mängel gibt, sondern dass eine ganze Justizeinrichtung aus dem Ruder läuft. In einem solchen Fall wären die grundlegenden, strukturellen Garantien für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit einer Einrichtung nicht mehr gewährleistet, weil z. B. durch das Ernennungssystem die gesamte Einrichtung von Politikern gekapert wird oder weil Gefahren für die allgemeinen Strukturen, die die Achtung des Grundsatzes der Gewaltenteilung betreffen, deutlich zutage treten(156).

229. Ich stimme aber voll und ganz mit der Kommission darin überein, dass sich in den vorliegenden Rechtssachen nichts ergeben hat, was geeignet wäre, die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des Verfassungsgerichts in Frage zu stellen. Die Bedenken des vorlegenden Gerichts betreffen vielmehr die der Entscheidung des Verfassungsgerichts zugrunde liegende Auslegung des nationalen Rechts und ihre Folgen für die Praxis des vorlegenden Gerichts, mit denen das vorlegende Gericht schlicht nicht einverstanden ist.

v)      Zwischenergebnis

230. Folglich ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑357/19, soweit sie den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit betrifft, und auf die Frage in der Rechtssache C‑547/19 zu antworten, dass der unionsrechtliche Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, der in Art. 47 Abs. 2 der Charta und in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verankert ist, dem Erlass einer Entscheidung eines nationalen Verfassungsgerichts, das in Ausübung seiner verfassungsrechtlichen Befugnisse über die Rechtmäßigkeit der Besetzung von Spruchkörpern des obersten nationalen Gerichts entscheidet, nicht entgegensteht, auch wenn dies die Zulassung von außerordentlichen Rechtsbehelfen gegen rechtskräftige Urteile zur Folge hat.

5.      Vorranggrundsatz

231. Mit seiner dritten Frage in der Rechtssache C‑357/19 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts es einem nationalen Gericht erlaubt, eine Entscheidung des Verfassungsgerichts, die im Rahmen eines Verfassungskonflikts ergangen ist und die nach nationalem Recht verbindlich ist, unangewendet zu lassen.

232. Ich habe diese Frage bereits im Licht der spezifischen Verpflichtungen aus Art. 325 AEUV und dem Schutz der Grundrechte beantwortet. In Anbetracht der Antwort, die ich dem Gerichtshof in der Rechtssache C‑357/19 auf die Fragen 1 und 2 vorschlage, ist eine Antwort auf Frage 3 nicht erforderlich.

233. Ich halte es jedoch für sinnvoll, einige abschließende Bemerkungen zum Vorranggrundsatz und zur Verpflichtung der nationalen Gerichte, den Entscheidungen eines Verfassungsgerichts zu folgen, hinzuzufügen. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die Möglichkeit, dass der Gerichtshof mit meinen vorgeschlagenen Antworten auf die Fragen 1 und 2 in der Rechtssache C‑357/19 nicht einverstanden sein könnte. Es liegt auch daran, dass sich hinter dieser allgemeinen Frage ein weiterer wichtiger Punkt verbirgt: Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, ist die Frage 3 offenbar dadurch motiviert, dass gemäß Art. 99 Buchst. ș des Gesetzes Nr. 303/2004 die Nichtbefolgung einer Entscheidung des Verfassungsgerichts durch einen Richter nach nationalem Recht ein Disziplinarvergehen darstellt(157).

234. In gewissem Umfang gibt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits Antworten auf diese vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Frage.

235. Auf der einen Seite gibt es eine gefestigte Rechtsprechung zum Vorrang des Unionsrechts und den damit verbundenen Implikationen für nationale Rechtsprechungsorgane und ‑verfahren. Erstens sind die nationalen Gerichte, die zur Anwendung von Bestimmungen des Unionsrechts berufen sind, verpflichtet, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen, indem sie erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Bestimmung aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen, ohne die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren zu beantragen oder abzuwarten(158). Zweitens sind Bestimmungen oder Praktiken, die dadurch zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führen würden, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften beiseite zu lassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der unmittelbar geltenden Normen des Unionsrechts bilden, mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen unvereinbar(159). Drittens gelten diese Erwägungen für Bestimmungen des nationalen Rechts auf jedweder Ebene, auch wenn sie Verfassungsrang haben(160).

236. Daher ist der Vorranggrundsatz – natürlich unter der Annahme, dass es tatsächlich eine Form der materiellen Unvereinbarkeit zwischen der in der vorliegenden Rechtssache fraglichen verfassungsrechtlichen Entscheidung und dem Unionsrecht gibt, was meines Erachtens nicht der Fall ist – dahin auszulegen, dass er es einem nationalen Gericht erlaubt, eine Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts unangewendet zu lassen, wenn das vorlegende Gericht dies für die einzig mögliche Art und Weise hält, den Verpflichtungen nachzukommen, die sich aus unmittelbar geltenden Bestimmungen des Unionsrechts ergeben.

237. Auf der anderen Seite ist, was das Vorabentscheidungsverfahren und seine möglichen Auswirkungen auf die nationale Gerichtshierarchie sowie die Verpflichtung, der Rechtsauffassung eines übergeordneten Gerichts zu folgen, betrifft, die Rechtsprechung seit dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Rheinmühlen I(161) sehr deutlich. Aus dieser Rechtsprechung, die auch für die Entscheidungen von Verfassungsgerichten gilt(162), sind drei wichtige Punkte zu nennen und hervorzuheben.

238. Erstens: Wenn ein nationales Gericht der Auffassung ist, dass eine Entscheidung eines höheren Gerichts es dazu veranlassen könnte, ein Urteil zu erlassen, das dem Unionsrecht zuwiderläuft, kann eine nationale Rechtsvorschrift, nach der untere Gerichte an die Entscheidungen eines höheren Gerichts gebunden sind, ihm nicht die Möglichkeit nehmen, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen. Zweitens: Ein nationales Gericht, das von der ihm nach Art. 267 AEUV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht, ist an die Auslegung durch den Gerichtshof gebunden und muss gegebenenfalls von der Entscheidung des höheren Gerichts abweichen(163). Drittens: Diese Erwägungen haben meines Erachtens auch für den Fall Geltung, dass ein unteres Gericht die Entscheidung eines höheren Gerichts für mit dem Unionsrecht unvereinbar hält, auch wenn es dem Gerichtshof kein Ersuchen um Vorabentscheidung vorlegt. In der Rechtsprechung ist nämlich wiederholt festgestellt worden, dass sich die einem unteren Gericht eingeräumte Möglichkeit, um eine Vorabentscheidung zu ersuchen, bevor es die unionsrechtswidrigen Hinweise eines höheren Gerichts gegebenenfalls unangewendet lässt, nicht in eine Verpflichtung zu einem Vorabentscheidungsersuchen verkehren kann(164).

239. Daher berechtigt das Unionsrecht einen nationalen Richter in der Tat dazu, einer (ansonsten verbindlichen) Rechtsauffassung eines übergeordneten Gerichts nicht zu folgen, wenn er der Meinung ist, dass diese Rechtsauffassung dem Unionsrecht widerspricht. Es ist ganz folgerichtig, dass aus Sicht des Unionsrechts das Gleiche dann auch für jede mögliche (spätere) nationale Sanktion für ein solches Verhalten gelten muss: Wenn dieses Verhalten aus Sicht des Unionsrechts richtig ist, darf dafür keine Sanktion verhängt werden.

240. Es gibt allerdings ein ziemlich entscheidendes „Aber“. Meiner Ansicht nach gibt das Unionsrecht einem nationalen Richter eine „Erlaubnis zum Abweichen“ in begrenztem Umfang, aber keine generelle „Erlaubnis zum Nichtbeachten“. Im Hinblick auf die Struktur der Unionsrechtsrechtsordnung, innerhalb derer der Gerichtshof für die letztverbindliche Auslegung des Unionsrechts zuständig ist, hat die oben angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs einen Zweck, nämlich den Zugang von unteren Gerichten in den Mitgliedstaaten zum Gerichtshof offen zu halten. Insbesondere darf es übergeordneten Gerichten in den Mitgliedstaaten nicht gestattet sein, die Gerichte in ihrem Zuständigkeitsbereich durch den Gebrauch ihrer formalen Befugnisse innerhalb des innerstaatlichen Systems daran zu hindern, dem Gerichtshof Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen.

241. Dieser Zweck legt aber auch Grenzen dafür fest, wie weit diese durch das Unionsrecht gegebene Erlaubnis reicht. Würde man nämlich die oft abstrakten und damit recht pauschalen Aussagen des Gerichtshofs unbesehen vollumfänglich übernehmen, müsste man sich wohl den Forderungen nach einer Überprüfung der Rheinmühlen-Rechtsprechung, zumindest denjenigen aus dem Jahre 2010(165), anschließen. Abstrakt und institutionell betrachtet könnte man sagen, dass diese Rechtsprechung auf einer Reihe von nicht berechtigten stillschweigenden Annahmen beruht, einschließlich derjenigen, dass höhere nationale Gerichte untere Gerichte in ihrem Zuständigkeitsbereich daran hindern wollen, den Gerichtshof um Vorabentscheidungen zu ersuchen. Glücklicherweise war diese Annahme, zumindest bis vor kurzem(166), unbegründet.

242. In diesem Licht betrachtet bin ich der Ansicht, dass die oben angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs dahin ausgelegt werden sollte, dass sie allen nationalen gerichtlichen Akteuren, unabhängig von der Hierarchie, einen Raum für einen rationalen Diskurs über die richtige Auslegung des Unionsrechts erlaubt. Sie sollte jedoch keinesfalls als grenzenlose, universelle Trumpfkarte verstanden werden, deren Ausspielen den Richter unabhängig von den Umständen vor allen normalen Regelungen betreffend gerichtliche Verfahren, Hierarchie und Disziplin auf nationaler Ebene schützt.

243. Über diese generelle Einschränkung hinaus kann man meines Erachtens keine weiteren Leitlinien für die unbegrenzte Vielfalt an Szenarien bieten, die sich im wirklichen Leben ergeben können. Letztlich geht es in all diesen Fällen jedoch darum, die im Einzelfall in Frage stehenden Aspekte und Überlegungen betreffend das Unionsrecht angemessen zu begründen. Aufgrund dieser – eher transversalen – Verpflichtung(167) kann bereits teilweise abgegrenzt werden, welche aus dem Unionsrecht abgeleiteten Argumente für den sachlichen Rechtsdiskurs übrig bleiben. Als Faustregel gilt in jedem Fall, dass eine ordnungsgemäß begründete abweichende Auffassung eines (unteren) Gerichts, insbesondere wenn eine Frage erstmalig behandelt wird und möglicherweise zu einem Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof führt, immer möglich sein muss.

244. All dies steht, wie der Gerichtshof unlängst bestätigt hat, Bestimmungen des nationalen Rechts entgegen, die nationale Richter einem Disziplinarverfahren aussetzen, nur weil sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet haben(168), und dies, so muss man hinzufügen, ungeachtet des Ergebnisses dieses Ersuchens vor dem Gerichtshof. Dies bedeutet, dass die bloße Aussicht, aufgrund eines solchen Ersuchens (oder der Entscheidung, dieses nach seiner Vorlage aufrechtzuerhalten) einem Disziplinarverfahren unterworfen zu werden, geeignet ist, die wirksame Ausübung des Ermessens und der Funktionen nationaler Gerichte durch die betreffenden nationalen Richter im Rahmen von Art. 267 AEUV zu untergraben(169). Wegen der Ausübung des Ermessens, eine Rechtssache dem Gerichtshof vorzulegen, nicht einem Disziplinarverfahren oder anderen Maßnahmen unterworfen zu werden, bedeutet darüber hinaus eine wesentliche Garantie für die richterliche Unabhängigkeit(170).

245. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in einer auf Rechtsstaatlichkeit beruhenden Union ein Richter nicht dafür bestraft werden darf, dass er das jedem „Gericht“ eingeräumte Recht, den Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV anzurufen, rechtmäßig ausübt.

V.      Ergebnis

246. Ich schlage dem Gerichtshof vor, die von der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

–        Auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑357/19 ist zu antworten, dass Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dem nicht entgegensteht, dass ein Verfassungsgericht in einer Situation, die allgemein in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, aber nicht vollständig durch dieses geregelt wird, in Anwendung eines ernsthaften und vernünftigen nationalen Standards des Schutzes der verfassungsmäßigen Rechte und auf der Grundlage seiner Auslegung der anwendbaren nationalen Vorschriften feststellt, dass die Spruchkörper innerhalb des obersten nationalen Gerichts nicht in Übereinstimmung mit dem Gesetz errichtet worden sind.

–        Die erste Frage in der Rechtssache C‑357/19 und die Frage in der Rechtssache C‑547/19 sind wie folgt zu beantworten:

–        Art. 325 Abs. 1 AEUV sowie Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b und Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften sind dahin auszulegen, dass sie einer Entscheidung eines nationalen Verfassungsgerichts nicht entgegenstehen, mit der die Besetzung von Spruchkörpern des obersten nationalen Gerichts mit der Begründung für unrechtmäßig erklärt wird, dass das Recht auf ein unparteiisches Gericht verletzt worden sei, wodurch die Voraussetzungen für die Zulassung außerordentlicher Rechtsbehelfe gegen rechtskräftige Urteile geschaffen werden.

–        Der unionsrechtliche Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, der in Art. 47 Abs. 2 der Charta und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verankert ist, steht dem Erlass einer Entscheidung eines nationalen Verfassungsgerichts, das in Ausübung seiner verfassungsrechtlichen Befugnisse über die Rechtmäßigkeit der Besetzung von Spruchkörpern des obersten nationalen Gerichts entscheidet, nicht entgegen, auch wenn dies die Zulassung von außerordentlichen Rechtsbehelfen gegen rechtskräftige Urteile zur Folge hat.

–        In Anbetracht der Antworten auf die erste und die zweite Frage in der Rechtssache C‑357/19 braucht die dritte Frage in dieser Rechtssache nicht beantwortet zu werden.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Vgl. meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19 und C‑355/19, EU:C:2020:746), für Referenzzwecke kurz AFJR-Schlussanträge, sowie meine Schlussanträge vom gleichen Tag in der Rechtssache Statul Român – Ministerul Finanţelor Publice (C‑397/19, EU:C:2020:747).


3      Vgl. auch meine heutigen parallelen Schlussanträge in der Rechtssache C‑379/19, DNA-Serviciul Teritorial Oradea und in den verbundenen Rechtssachen C‑811/19 und C‑840/19, FQ u. a.


4      ABl. 1995, C 316, S. 49.


5      Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 826 vom 13. September 2005.


6      Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 827 vom 13. September 2005.


7      Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 636 vom 20. Juli 2018.


8      Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 1 076 vom 30. November 2005.


9      Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 819 vom 8. Dezember 2010.


10      Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 75 vom 30. Januar 2014.


11      Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 486 vom 15. Juli 2010.


12      Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 510 vom 24. Juli 2009.


13      Siehe oben, Nr. 23 der vorliegenden Schlussanträge.


14      In der Vorlageentscheidung werden die Beschlüsse Nr. 157/2018, Nr. 153/2018 und Nr. 2/2019 genannt. Es werden jedoch weder Angaben zum Inhalt dieser Beschlüsse noch zu ihrer Bedeutung für das Ausgangsverfahren gemacht.


15      Die rumänische Regierung hat in ihren schriftlichen Erklärungen vorgetragen, dass die Vorlagefragen unzulässig seien. In ihrer Antwort auf die schriftlichen Fragen des Gerichtshofs hat diese Regierung ihren Standpunkt jedoch geändert.


16      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. März 2017, X und X (C‑638/16 PPU, EU:C:2017:173, Rn. 37), vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 24), vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 74), oder vom 9. Juli 2020, Land Hessen (C‑272/19, EU:C:2020:535, Rn. 40 und 41).


17      Siehe unten, Nrn. 86 bis 115 der vorliegenden Schlussanträge.


18      Vgl. Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 40), vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 51), vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 83), oder vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 34).


19      Siehe auch oben, Nr. 24 der vorliegenden Schlussanträge.


20      So jüngst im Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 45 bis 51).


21      Wie oben in Nr. 22 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt.


22      Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 30 bis 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).


23      Siehe oben, Nrn. 19 bis 21 der vorliegenden Schlussanträge.


24      Die rumänische Regierung hatte in ihren schriftlichen Erklärungen die Ansicht vertreten, dass die Vorlagefrage in der vorliegenden Rechtssache ebenfalls unzulässig sei. In ihrer Antwort auf die schriftlichen Fragen des Gerichtshofs hat diese Regierung ihren Standpunkt jedoch geändert.


25      Siehe oben, Nr. 51 der vorliegenden Schlussanträge.


26      Siehe oben, Fn. 18 der vorliegenden Schlussanträge.


27      Siehe oben, Nr. 32 der vorliegenden Schlussanträge.


28      Siehe im Einzelnen AFJR-Schlussanträge, Nrn. 204 bis 224.


29      Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 48 bis 51).


30      Vgl. Nrn. 120 bis 182 der AFJR-Schlussanträge. Die VZÜ-Entscheidung ist jedoch ausdrücklich Gegenstand der Vorlagefragen in der Rechtssache C‑379/19, mit denen ich mich in gesonderten Schlussanträgen vom heutigen Tage befasse.


31      ABl. 2006, L 354, S. 56.


32      Vgl. Nrn. 204 bis 211 der AFJR-Schlussanträge.


33      Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 29), vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 50), vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 82), oder vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 33).


34      Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 51), vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 83), oder vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 34). Hervorhebung nur hier.


35      Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 45), und Beschluss vom 2. Juli 2020, S.A.D. Maler und Anstreicher (C‑256/19, EU:C:2020:523, Rn. 43).


36      Siehe oben, Nrn. 52 bis 60 sowie Nrn. 66 bis 67 der vorliegenden Schlussanträge.


37      Vgl. Nr. 225 jener Schlussanträge.


38      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 120).


39      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 167).


40      Die Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑357/19 bezieht sich dennoch auf die VZÜ-Entscheidung, indem darin darauf hingewiesen wird, dass die Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts im VZÜ-Bericht 2018 der Kommission als eine der Maßnahmen mit klaren Auswirkungen auf die Unabhängigkeit des Justizsystems untersucht wurde (SWD[2018] 551 final, S. 5 in der rumänischen Sprachfassung).


41      Vgl. z. B. jüngst Urteil vom 7. März 2017, X und X (C‑638/16 PPU, EU:C:2017:173, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).


42      Bericht vom 22. Oktober 2019, COM(2019) 499 final, S. 8 und 15 der englischen Sprachfassung (im Folgenden: VZÜ-Bericht 2019).


43      Siehe Nrn. 214 bis 224 der AFJR-Schlussanträge.


44      Dieser Zusammenhang zwischen den VZÜ-Vorgaben und der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts wurde, worauf die Staatsanwaltschaft und der Verein „Richterforum“ hinweisen, auch im VZÜ-Bericht 2019 der Kommission festgestellt, der sich ausdrücklich auf die in den vorliegenden Fällen in Rede stehende Entscheidung des Verfassungsgerichts bezieht und in dem darauf hingewiesen wird, dass sie „zu großer Unsicherheit geführt [hat]“ und dass „[d]ie Urteile des Verfassungsgerichtshofs … unmittelbare Auswirkungen auf laufende Verfahren in Fällen von Korruption auf hoher Ebene [haben]; so verzögern sich Verhandlungen oder werden neu begonnen, und die Wiederaufnahme mehrerer abgeschlossener Verfahren war unter bestimmten Umständen auch möglich“ und dass „[d]iese klare Einflussnahme auf Gerichtsverfahren … zudem generelle Zweifel an der Tragfähigkeit der bislang von Rumänien bei der Korruptionsbekämpfung erreichten Fortschritte gesät [hat]“, VZÜ-Bericht 2019, S. 14 und 15. Vgl. auch Technischer VZÜ-Bericht 2019, SWD(2019) 393 final, S. 21 und 22.


45      Vgl. Nrn. 190 bis 194 jener Schlussanträge.


46      Vgl. Nrn. 198 bis 202 der AFJR-Schlussanträge.


47      Vgl. Nrn. 214 bis 220 der AFJR-Schlussanträge.


48      Urteil vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).


49      Wie oben in den Nrn. 19 bis 21 der vorliegenden Schlussanträge beschrieben.


50      Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26), vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 37 bis 40), vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti (C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 16), vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 30 und 31), vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 27), und vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 25).


51      Zu Ausfuhrerstattungen vgl. Urteil vom 28. Oktober 2010, SGS Belgium u. a. (C‑367/09, EU:C:2010:648, Rn. 40 ff.). Zur Erhebung von Zinsen auf rechtswidrig erlangte Vorteile im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik vgl. Urteil vom 29. März 2012, Pfeifer & Langen (C‑564/10, EU:C:2012:190, Rn. 52). Zu Erhebung von Zöllen vgl. Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 50 bis 53).


52      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2003, Kommission/EZB (C‑11/00, EU:C:2003:395, Rn. 89).


53      Für ein Beispiel aus jüngerer Zeit vgl. Urteil vom 1. Oktober 2020, Úrad špeciálnej prokuratúry (C‑603/19, EU:C:2020:774, Rn. 47 ff.).


54      Der Vollständigkeit halber kann hinzugefügt werden, dass das PIF‑Übereinkommen in der Rechtssache C‑357/19 in zeitlicher Hinsicht anwendbar zu sein scheint. Die den betreffenden Verurteilungen zugrunde liegenden Sachverhalte liegen vor dem Inkrafttreten der Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (ABl. 2017, L 198, S. 29), die nach ihrem Art. 16 das PIF‑Übereinkommen und seine Protokolle mit Wirkung vom 6. Juli 2019 ersetzte. Gemäß dem Beschluss des Rates vom 6. Dezember 2007 über den Beitritt Bulgariens und Rumäniens zu dem Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, dem Protokoll vom 27. September 1996, dem Protokoll vom 29. November 1996 und dem Zweiten Protokoll vom 19. Juni 1997 (ABl. 2008, L 9, S. 23) findet dieses Übereinkommen auch auf Rumänien Anwendung.


55      Hervorhebung nur hier.


56      Vgl. Art. 2 des Rechtsakts des Rates vom 27. September 1996 über die Ausarbeitung eines Protokolls zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1996, C 313, S. 1).


57      Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 45). Vgl. auch meine Schlussanträge in jener Rechtssache (EU:C:2017:553, Nrn. 68 und 69).


58      Vgl. Urteile vom 15. September 2005, Irland/Kommission (C‑199/03, EU:C:2005:548, Rn. 31), und vom 21. Dezember 2011, Chambre de commerce et d’industrie de l’Indre (C‑465/10, EU:C:2011:867, Rn. 47).


59      Hervorhebung nur hier.


60      Vgl. z. B. das Urteil in der Rechtssache Åkerberg Fransson, in dem der Gerichtshof als relevantes Element angesehen hat, dass die Sanktionen und Strafverfahren „im Fall“ des Angeklagten des Ausgangsverfahrens eine Durchführung des Art. 325 AEUV darstellten. Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 27).


61      Andernfalls wäre der Anwendungsbereich von Art. 325 Abs. 1 AEUV nicht nur vom Ausgang des Strafverfahrens abhängig, er wäre auch – was eher verwunderlich wäre – am Beginn und am Ende des Gerichtsverfahrens verschieden.


62      Vgl. Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 27).


63      Legea nr. 202/2010 privind unele măsuri pentru accelerarea soluționării proceselor (Gesetz Nr. 202/2010 über Maßnahmen zur Beschleunigung der Entscheidung von Gerichtsverfahren), Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 714 vom 26. Oktober 2010.


64      Legea nr. 255/2013 pentru punerea în aplicare a Legii nr. 135/2010 privind Codul de procedură penală și pentru modificarea și completarea unor acte normative care cuprind dispoziții procesual penale (Gesetz Nr. 255/2013 zur Durchführung des Gesetzes Nr. 135/2010 über die Strafprozessordnung und zur Änderung und Vervollständigung bestimmter Rechtsakte mit strafverfahrensrechtlichen Regelungen), Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 515 vom 14. August 2013.


65      Legea nr. 207/2018 pentru modificarea și completarea Legii nr. 304/2004 privind organizarea judiciară (Gesetz Nr. 207/2018 zur Änderung des Gesetzes Nr. 304/2004 über die Organisation des Justizwesens), Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 636 vom 20. Juli 2018.


66      Nr. 175 der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts.


67      Nr. 193 der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts.


68      Nr. 188 der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts.


69      Nr. 188 der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts.


70      Insbesondere EGMR, 22. Dezember 2009, Parlov-Tkalčić/Kroatien (CE:ECHR:2009:1222JUD002481006).


71      Nr. 189 der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts.


72      EGMR, 5. Oktober 2010 DMD GROUP a.s./Slowakei (CE:ECHR:2010:1005JUD001933403, §§ 60 und 61).


73      Nrn. 191 und 192 der Entscheidung Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichts.


74      Zusammenfassend dargestellt in den Nrn. 127 und 128 der vorliegenden Schlussanträge.


75      Vgl. zum Kriterium eines „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, § 72). Vgl. zur Analyse der Rechtsprechung des EGMR Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2019:977, Nrn. 63 ff.).


76      Wobei dieses Erfordernis weiter gefasst ist als der Grundsatz des „gesetzlichen Richters“, bei dem es in erster Linie um die Kriterien für die Zuteilung der Rechtssachen geht. Vgl. zu einer ähnlichen Unterscheidung Rönnau, T., und Hoffmann, A., „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“: Das Prinzip des gesetzlichen Richters am EuGH, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 7-8, 2018, S. 233 bis 248.


77      EGMR, 2. Mai 2019, Pasquini/San Marino (CE:ECHR:2019:0502JUD005095616, § 100). Vgl. auch Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).


78      EGMR (Große Kammer), 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island (CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, §§ 231 bis 234).


79      EGMR, 4. Mai 2000, Buscarini/San Marino (CE:ECHR:2000:0504DEC003165796, § 2). Vgl. auch Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).


80      EGMR (Große Kammer), 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island (CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, § 216).


81      EGMR (Große Kammer), 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island (CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, § 226).


82      EGMR, 4. März 2003, Posokhov/Russland (CE:ECHR:2003:0304JUD006348600, § 43); EGMR, 29. April 2008, Barashkova/Russland (CE:ECHR:2008:0429JUD002671603, § 32).


83      EGMR (Große Kammer), 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island (CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, §§ 236 bis 241), mit dem festgestellt worden ist, dass nicht jede Unregelmäßigkeit bei einer Richterernennung dazu führt, dass dieses Recht verletzt ist.


84      EGMR (Große Kammer), 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island (CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, §§ 243 bis 252).


85      Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 75). Hervorhebung nur hier.


86      Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 75).


87      Vgl. z. B. auch Sillen, J., „The concept of ‘internal judicial independence’ in the case law of the European Court of Human Rights“, European Constitutional Law Review, Bd. 15, 2019, S. 104 bis 133.


88      EGMR, 22. Dezember 2009, Parlov-Tkalčić/Kroatien (CE:ECHR:2009:1222JUD002481006, § 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).


89      Ebd., § 91. Der EGMR hat aber auch festgestellt, dass „jede Überwachung der Arbeit von Richtern ein gewisses Risiko für ihre interne Unabhängigkeit beinhaltet und dass es unmöglich ist, ein System zu entwickeln, das dieses Risiko vollständig ausschließt“.


90      Vgl. in diesem Sinne bereits Urteile vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60), und vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 29).


91      Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 47).


92      Vgl. z. B. Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 29 und 36), vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60 ff.), oder vom 29. Juli 2019, Funke Medien NRW (C‑469/17, EU:C:2019:623, Rn. 28 ff.).


93      Vgl. im Umkehrschluss Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107), wo ein Rückgriff auf Art. 53 der Charta nicht in Frage kam, weil der betreffende Gegenstand durch Unionsrecht vollständig harmonisiert war.


94      Siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache Dzivev (C‑310/16, EU:C:2018:623, Nrn 89 bis 91).


95      Ebd., Nrn. 92 bis 95.


96      Im Einzelnen vgl. z. B. Kosař, D., Perils of Judicial Self-Government in Transitional Societies, Cambridge University Press, Cambridge, 2016, S. 407, wo die Ansicht vertreten wird, dass bestimmte Formen der Selbstverwaltung der Justiz ein „System von abhängigen Richtern innerhalb einer unabhängigen Justiz“ hervorbringen, in dem von Richtern mit Leitungsfunktion, wie z. B. von Gerichtspräsidenten oder Beamten der richterlichen Selbstverwaltungsorgane, innerhalb der Jurisdiktion eine unzulässige Einflussnahme ausgeübt wird.


97      Es scheint, dass insoweit in den Mitgliedstaaten recht unterschiedliche Ansätze verfolgt werden, was die Folgen von Unregelmäßigkeiten bei der Besetzung eines Gerichts und dem Ausgleich zwischen dem Recht auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht und dem Grundsatz der Rechtssicherheit angeht. Vgl. Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2019:977, Nrn. 98 bis 104).


98      Dieser Beteiligte verweist auf EGMR, 15. September 2015, Tsanova-Gecheva/Bulgarien (CE:ECHR:2015:0915JUD004380012, § 108), in dem der EGMR festgestellt hat, dass, selbst wenn die Bestimmung der fünf Richter eines Spruchkörpers nicht im Wege des Losentscheids erfolgt wäre (ein Umstand, der zwischen den Parteien streitig war), in Ermangelung anderer Elemente, die auf einen Mangel an Unparteilichkeit hindeuteten, nichts dafür sprach, dass die Anforderungen von Art. 6 EMRK verletzt worden waren.


99      Siehe oben, Nr. 139 der vorliegenden Schlussanträge.


100      Vgl. z. B. betreffend die interne Zuteilung von Rechtssachen Urteil vom 2. Oktober 2003, Salzgitter/Kommission (C‑182/99 P, EU:C:2003:526, Rn. 28 bis 36), Beschluss vom 9. Dezember 2009, Marcuccio/Kommission (C‑528/08 P, EU:C:2009:761, Rn. 57 bis 60), oder Urteil vom 2. Oktober 2014, Strack/Kommission (C‑127/13 P, EU:C:2014:2250, Rn. 50 bis 55).


101      Siehe oben, Nr. 149 der vorliegenden Schlussanträge.


102      Urteile vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555), vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936), vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392), und vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30).


103      Vgl. z. B. Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 30).


104      Ebd., Rn. 33 und 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung.


105      Urteile vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 55), und vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).


106      Urteile vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 47), und vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 36).


107      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).


108      Vgl. kritisch dazu meine Schlussanträge in den Rechtssachen Scialdone (C‑574/15, EU:C:2017:553, Nrn. 137 ff.) und Dzivev (C‑310/16, EU:C:2018:623, Nrn. 65 bis 68).


109      C‑310/16, EU:C:2018:623, Nrn. 121 bis 127.


110      Vgl. als weitere Beispiele Schlussanträge von Generalanwalt Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache Deutsche Umwelthilfe (C‑752/18, EU:C:2019:972, Nr. 81 bis 84) oder auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Nemec (C‑256/15, EU:C:2016:619, Nr. 64).


111      Meine Schlussanträge in der Rechtssache Dzivev (C‑310/16, EU:C:2018:623, Nrn. 122 und 123).


112      Urteil vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 33). Vgl. in diesem Sinne auch Urteile vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 52), und vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 68 und 71).


113      Urteil vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 34).


114      Vgl. Urteil vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 35 bis 39).


115      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 41), und vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a. (C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 31).


116      Meine Schlussanträge in der Rechtssache Dzivev (C‑310/16, EU:C:2018:623, Nr. 129).


117      Wie problematisch diese Beurteilung ist, wird vielleicht erst deutlich, wenn man an die andere Seite des Gerichtssaals denkt, d. h. an den möglichen rechtlichen Rat, den ein Strafverteidiger seinem Mandanten auf die Frage, ob das in seinem Fall angewandte nationale Recht mit dem Unionsrecht vereinbar sei, geben müsste: „Ich weiß es nicht, es kommt darauf an, wie andere Fälle ausgehen.“


118      Siehe oben, Nrn. 167 und 168 der vorliegenden Schlussanträge.


119      Diese Regierung hat erklärt, dass die ÎCCJ mit Schreiben vom März 2020 die einschlägigen Informationen und Statistiken übermittelt habe und zwar u. a. zu den Auswirkungen der Entscheidungen Nr. 685/2018 und Nr. 17/2019 des Verfassungsgerichts auf die Tätigkeit der ÎCCJ, zur Anzahl der betroffenen Fälle, zur Anzahl der Fälle, die die finanziellen Interessen der Union berührten, zu den verursachten Schäden, zur Dauer der Verfahren und zur Anzahl der Fälle, in denen die Gefahr der Straflosigkeit besteht.


120      Vgl. Urteil vom 31. Oktober 2019, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑391/17, EU:C:2019:919), mit dem der Kommission die Möglichkeit eröffnet worden ist, im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens unmittelbar konkrete Beträge für Schäden am Unionshaushalt geltend zu machen.


121      Beispiele für Unregelmäßigkeiten bei Richterernennungen finden sich in den Schlussanträgen der Generalanwältin Sharpston in den Rechtssachen Überprüfung Simpson/Rat und Überprüfung HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2019:977, Nrn. 98 bis 104).


122      In dem Sinne, wie es sich bereits aus Nr. 243 meiner AFJR-Schlussanträge ergibt, dass nämlich die auf dem Papier geschriebenen Bestimmungen eine ganz andere Wirklichkeit verbergen. Das könnte natürlich die Situation einschließen, dass bestimmte allgemeine, objektive Verfahren für die persönlichen Ziele eines begrenzten Personenkreises missbraucht werden.


123      Siehe die oben in den Nrn. 15 und 16 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Verjährungsregeln.


124      Siehe oben, Nrn. 127 und 128 der vorliegenden Schlussanträge.


125      Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 47).


126      Vgl. z. B. Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 29 und 36), vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60 ff.), oder vom 29. Juli 2019, Funke Medien NRW (C‑469/17, EU:C:2019:623, Rn. 28 ff.).


127      Siehe oben, Nrn. 146 bis 156 der vorliegenden Schlussanträge.


128      Siehe oben, Rn. 119 der vorliegenden Schlussanträge.


129      Siehe Nrn. 227 bis 232 meiner AFJR-Schlussanträge.


130      Siehe in Bezug auf Art. 47 Abs. 2 der Charta Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 130 und die dort angeführte Rechtsprechung).


131      Ebd., Rn. 124 bis 126 und die dort angeführte Rechtsprechung.


132      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 52), und vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 115).


133      Ebd., Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung. Hervorhebung nur hier.


134      Ebd., Rn. 125 und die dort angeführte Rechtsprechung.


135      Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 127), mit Verweis in diesem Sinne auf EGMR, 21. Juni 2011, Fruni/Slowakei (CE:ECHR:2011:0621JUD000801407, § 141), und auf EGMR, 6. November 2018, Ramos Nunes de Carvalho e Sá/Portugal (CE:ECHR:2018:1106JUD005539113, § 144 und die dort angeführte Rechtsprechung).


136      Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 128), mit Verweis auf EGMR, 6. Mai 2003, Kleyn u. a./Niederlande (CE:ECHR:2003:0506JUD003934398, § 191 und die dort angeführte Rechtsprechung), und EGMR, 6. November 2018, Ramos Nunes de Carvalho e Sá/Portugal (CE:ECHR:2018:1106JUD005539113, §§ 145, 147 und 149 und die dort angeführte Rechtsprechung).


137      Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 134 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson und HG/Rat und Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).


138      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 133 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 9. Juli 2020, Land Hessen (C‑272/19, EU:C:2020:535, Rn. 54).


139      Urteil vom 9. Juli 2020, Land Hessen (C‑272/19, EU:C:2020:535, Rn. 56).


140      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 142), und vom 9. Juli 2020, Land Hessen (C‑272/19, EU:C:2020:535, Rn. 57).


141      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 133 und die dort angeführte Rechtsprechung).


142      Vgl. zu dieser Frage z. B. Grimm, D., „Constitutions, Constitutional Courts and Constitutional Interpretation at the Interface of Law and Politics“, EMERJ, Bd. 21(3), 2019, S. 55 bis 71; Ginsburg, T., und Garoupa, N., „Building Reputation in Constitutional Courts: Political and Judicial Audiences“, Arizona Journal of International and Comparative Law, Bd. 28, 2011, S. 539 bis 568.


143      Siehe zu dieser Diskussion in vergleichender Perspektive, angeregt durch den besonderen Charakter des französischen Verfassungsrates, Favoreu, L., und Mastor, W., Les cours constitutionnelles, 2. Aufl., Dalloz, Paris, 2016, S. 22 ff.


144      Andernfalls wäre fraglich, ob der Umstand, dass in einer beträchtlichen Anzahl von Mitgliedstaaten die Richter von einem Staats- oder Regierungschef, also der Exekutive, ernannt werden, auch bedeutet, dass sie alle eo ipso nicht unabhängig sind.


145      Vgl. zu den vielen Rechtssachen, die von nationalen Verfassungsgerichten bisher vorgelegt wurden, z. B. Urteile vom 1. März 2011, Association belge des Consommateurs Test-Achats u. a. (C‑236/09, EU:C:2011:100), vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107), vom 30. Mai 2013, F. (C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358), und vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a. (C‑62/14, EU:C:2015:400).


146      Urteil vom 5. Juni 2018, Coman u. a. (C‑673/16, EU:C:2018:385).


147      Vgl. z. B. Urteile vom 19. September 2006, Wilson (C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 49 bis 53), oder jüngst Urteile vom 21. Januar 2020, Banco de Santander (C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 55 ff.), vom 9. Juli 2020, Land Hessen (C‑272/19, EU:C:2020:535, Rn. 45 ff.), und vom 16. Juli 2020, Governo della Repubblica italiana (Status von italienischen Friedensrichtern) (C‑658/18, EU:C:2020:572, Rn. 42 ff.).


148      Vgl. für einen vergleichenden Überblick z. B. Cremer, H.‑J., „Die Wirkungen verfassungsrechtlicher Entscheidungen: Ein Vergleich zwischen der Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland und der Rechtslage in den Staaten Mittel- und Osteuropas“, in Frowein, J.A., Marauhn, T., (Hrsg.), Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, Springer, Berlin, 1998, S. 237 oder verschiedene Beiträge in Luchterhandt, O., u. a. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, Nomos, Baden-Baden, 2007.


149      Vgl. für eine vergleichende Darstellung mit Beispielen aus Deutschland, Spanien, der Tschechischen Republik, der Slowakei oder Slowenien den vom Ústavní soud (Verfassungsgericht, Tschechische Republik) herausgegebenen Band mit dem Titel „The Limits of the Constitutional Review of the Ordinary Courts’ Decisions in the Proceedings on the Constitutional Complaint“, Linde, Prag, 2005. Kritisch zur Frage einer „überschießenden“ verfassungsrechtlichen Kontrolle vgl. z. B. schon Bundesministerium der Justiz, Entlastung des Bundesverfassungsgerichts: Bericht der Kommission, Moser, Bonn, 1998, S. 62 bis 66.


150      Vgl. für ein jüngeres Beispiel Urteil vom 2. April 2020, CRPNPAC und Vueling Airlines (C‑370/17 und C-37/18, EU:C:2020:260, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).


151      Vor kurzem dargestellt und erörtert in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Călin (C‑676/17, EU:C:2019:94, Rn. 80 ff.).


152      Urteil vom 11. September 2019, Călin (C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 57).


153      Nrn. 240 bis 243 der AFJR-Schlussanträge.


154      Siehe auch oben, Nr. 204 der vorliegenden Schlussanträge.


155      Zu verschiedenen Argumenten, die vor dem Gerichtshof vorgebracht wurden vgl. im Einzelnen meine AFJR-Schlussanträge, Nrn. 235 bis 248.


156      Vgl. z. B. als ein Beispiel für eine solche Situation Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 142 bis 152).


157      Siehe oben Nr. 7 der vorliegenden Schlussanträge. Im Kontext der vorliegenden Rechtssache bleibt die Anwendung dieser Bestimmung im Bereich des Möglichen, sofern sich der Gerichtshof eine bestimmte Auslegung des Unionsrechts zu eigen macht und das vorlegende Gericht diese später auf nationaler Ebene anwendet und sich damit möglicherweise gegen eine Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts wendet. Allerdings ging es um diese Bestimmung bereits in einem anderen, parallelen Fall vor dem Gerichtshof: Vgl. meine Schlussanträge vom heutigen Tag in der Rechtssache C‑379/19, DNA – Serviciul Territorial Oradea, in der ein Disziplinarverfahren gegen den vorlegenden Richter eingeleitet worden ist, weil er dadurch, dass er den Gerichtshof angerufen hat, zum Ausdruck brachte, dass er mit einer Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht einverstanden ist.


158      Vgl. als ein jüngeres Beispiel Urteil vom 4. Dezember 2018, The Minister for Justice and Equality und Commissioner of the Garda Síochána (C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


159      Jüngeres Beispiel z. B. Urteil vom 4. Dezember 2018, The Minister for Justice and Equality und Commissioner of the Garda Síochána (C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).


160      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2010, Winner Wetten (C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).


161      Urteil vom 16. Januar 1974, Rheinmühlen-Düsseldorf (166/73, EU:C:1974:3).


162      Urteil vom 15. Januar 2013, Križan u. a. (C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 70).


163      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 2010, Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 27, 28 und 30), sowie vom 15. Januar 2013, Križan u. a. (C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 68 und 69).


164      Urteile vom 19. Januar 2010, Kücükdeveci (C‑555/07, EU:C:2010:21, Rn. 53 bis 55), vom 5. Oktober 2010, Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 28), und vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó (C‑610/19, EU:C:2020:673, Rn. 75).


165      Vgl. z. B. Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón in der Rechtssache Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:336, Nrn. 23 bis 39).


166      Es könnte freilich sein, dass im gegenwärtigen Kontext in einigen Mitgliedstaaten die Rheinmühlen-Rechtsprechung mit neuem Leben erfüllt wird, und zwar aus einem anderen strukturellen Grund: dem Schutz richterlicher Dissidenten.


167      Dies ergibt sich aus Art. 47 der Charta, ausgelegt im Licht von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Siehe z. B. auch Urteil vom 6. September 2012, Trade Agency (C‑619/10, EU:C:2012:531, Rn. 53 ff.).


168      Vgl. Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 58).


169      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 57 und 58).


170      Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 59). Vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov (C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 25), und Beschluss vom 12. Februar 2019, RH (C‑8/19 PPU, EU:C:2019:110, Rn. 47).