Language of document : ECLI:EU:T:2018:279

Rechtssache T-584/13

BASF Agro BV u. a.

gegen

Europäische Kommission

„Pflanzenschutzmittel – Wirkstoff Fipronil – Überprüfung der Genehmigung – Art. 21 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 – Verbot der Verwendung und des Verkaufs von Saatgut, das mit Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde, die den betreffenden Wirkstoff enthalten – Art. 49 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1107/2009 – Vorsorgeprinzip – Folgenabschätzung“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Erste erweiterte Kammer) vom 17. Mai 2018

1.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Unmittelbare Betroffenheit – Kriterien – Verordnung der Kommission, die die Mitgliedstaaten, die Zulassungen für Pflanzenschutzmittel erteilt haben, die einen bestimmten Wirkstoff enthalten, verpflichtet, diese zu ändern oder zu widerrufen –Klage eines Unternehmens, das diesen Wirkstoff produziert und vermarktet – Zulässigkeit

(Art. 263 Abs. 4 AEUV; Verordnungen der Kommission Nr. 540/2011 und Nr. 781/2013)

2.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Individuelle Betroffenheit – Kriterien – Verordnung der Kommission, die die Mitgliedstaaten, die Zulassungen für Pflanzenschutzmittel erteilt haben, die einen bestimmten Wirkstoff enthalten, verpflichtet, diese zu ändern oder zu widerrufen – Klage eines Unternehmens, das diesen Wirkstoff produziert und vermarktet – Zulässigkeit

(Art. 263 Abs. 4 AEUV; Verordnungen der Kommission Nr. 540/2011 und Nr. 781/2013)

3.      Nichtigkeitsklage – Zulässigkeitsvoraussetzungen – Natürliche oder juristische Personen – Von mehreren Klägern erhobene Klage gegen dieselbe Entscheidung – Klagebefugnis eines der Kläger – Zulässigkeit der Klage insgesamt

(Art. 263 Abs. 4 AEUV)

4.      Schutz der öffentlichen Gesundheit – Risikobewertung – Anwendung des Vorsorgegrundsatzes – Umfang – Begriffe Risiko und Gefahr – Bestimmung des Risikograds, der als für die Gesellschaft nicht hinnehmbar angesehen wird – Zuständigkeit des durch die einschlägige Regelung benannten Unionsorgans

(Art. 191 Abs. 2 AEUV)

5.      Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Verordnung Nr. 1107/2009 – Überprüfung der Genehmigung eines Wirkstoffs – Aufhebung oder Änderung der Genehmigung wegen Nichterfüllung der Genehmigungskriterien – Der Kommission obliegende Beweislast

(Verordnung Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 und 21 Abs. 3; Richtlinie 91/414 des Rates)

6.      Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmittel  – Verordnung Nr. 1107/2009 – Erlass restriktiver Maßnahmen für die Nutzung und den Verkauf von Mitteln mit einem bestimmten Wirkstoff – Ermessen der Kommission – Gerichtliche Überprüfung – Umfang

(Verordnung Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates)

7.      Landwirtschaft  – Rechtsangleichung – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Verordnung Nr. 1107/2009 – Überprüfung der Genehmigung eines Wirkstoffs – Einleitung des Verfahrens bei Vorliegen neuer Studien, die Anlass zu Zweifeln an der Erfüllung der Genehmigungskriterien geben – Zulässigkeit – Begriff neue Studien

(Verordnung Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 und 21 Abs. 1)

8.      Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Verordnung Nr. 1107/2009 – Überprüfung der Genehmigung eines Wirkstoffs – Antrag auf Überprüfung durch einen Mitgliedstaat im Hinblick auf neue wissenschaftliche und technische Kenntnisse und Überwachungsdaten – Begriff Überwachungsdaten

(Verordnung Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 21 Art. 1)

9.      Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Verordnung Nr. 1107/2009 – Überprüfung der Genehmigung eines Wirkstoffs – Antrag auf Überprüfung durch einen Mitgliedstaat im Hinblick auf neue wissenschaftliche und technische Kenntnisse und Überwachungsdaten – Ermessen der Kommission hinsichtlich der Notwendigkeit einer Überprüfung

(Verordnung Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 21 Art. 1)

10.    Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Verordnung Nr. 1107/200  – Erlass restriktiver Maßnahmen für die Nutzung und den Verkauf von Mitteln mit einem bestimmten Wirkstoff – Vorherige Bewertung der Risiken für die menschliche Gesundheit und für die Umwelt – Anwendung des Vorsorgegrundsatzes  – Umfang

(Art. 191 Abs. 2 AEUV; Verordnung Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, 8. Erwägungsgrund und Art. 1 Abs. 4, Art. 4, Art. 21 Abs. 3, Art. 69 und Art. 70)

11.    Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Vorsorgeprinzip – Tragweite – Leitlinien für die Anwendung des Vorsorgeprinzips – Modalitäten der Abwägung der Vor‑ und Nachteile, die mit einem Tätigwerden oder Nichttätigwerden verbunden sind

(Art. 191 Abs. 2 AEUV; Mitteilung KOM(2000)1 endg. der Kommission, Punkt 6.3.4)

12.    Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Verordnung Nr. 1107/2009 – Erlass restriktiver Maßnahmen für die Nutzung und den Verkauf von Mitteln mit einem bestimmten Wirkstoff – Vorherige Bewertung der Risiken für die menschliche Gesundheit und für die Umwelt – Verpflichtung der Kommission, eine Folgenabschätzung durchzuführen – Verstoß – Verstoß gegen den Vorsorgegrundsatz

(Art. 11 AEUV, 114 Abs. 3 AEUV und 191 Abs. 2 AEUV; Verordnung Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates; Mitteilung KOM(2000)1 endg. der Kommission, Punkt 6.3.4)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 33, 35-42)

2.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 44, 45)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 49)

4.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 58, 59, 61, 62, 64-75)

5.      Aus dem Wortlaut und der Systematik der einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1107/2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln geht hervor, dass derjenige, der den Antrag auf Genehmigung stellt, grundsätzlich die Beweislast dafür trägt, dass die Bedingungen für die Genehmigung nach Art. 4 dieser Verordnung erfüllt sind, wie es in der Richtlinie 91/414 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln ausdrücklich vorgesehen war.

Jedoch ist es im Rahmen einer Überprüfung vor dem Ende des Genehmigungszeitraums Sache der Kommission, nachzuweisen, dass die Bedingungen für die Genehmigung nicht mehr erfüllt sind. Die Partei, die sich auf eine Rechtsvorschrift – hier Art. 21 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1107/2009 – beruft, hat nämlich nachzuweisen, dass die Voraussetzungen für ihre Anwendung erfüllt sind. Die Tatsache, dass bei wissenschaftlicher Ungewissheit vernünftige Zweifel an der Unbedenklichkeit eines auf der Ebene der Union genehmigten Wirkstoffs eine Vorsorgemaßnahme rechtfertigen können, kann einer Umkehr der Beweislast nicht gleichgestellt werden. Die Kommission kommt ihrer Beweislast jedoch nach, wenn sie nachweist, dass die bei der ursprünglichen Genehmigung getroffene Feststellung, dass die Genehmigungskriterien nach Art. 4 der Verordnung Nr. 1107/2009 erfüllt waren, durch spätere rechtliche oder technische Entwicklungen nicht mehr gilt.

Daher kommt die Kommission der ihr obliegenden Beweislast im Hinblick auf Art. 21 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1107/2009 rechtlich hinreichend nach, wenn sie nachweisen kann, dass in Anbetracht einer Änderung des Regelungsrahmens, die zu einer Verschärfung der Bedingungen für die Genehmigung geführt hat, die Daten, die die Studien hervorbrachten, die für die ursprüngliche Genehmigung durchgeführt worden waren, unzureichend waren, um sämtliche Risiken für Bienen im Zusammenhang mit dem in Rede stehenden Wirkstoff, z. B. zu bestimmten Expositionswegen, abzubilden. Das Vorsorgeprinzip gebietet nämlich, die Genehmigung eines Wirkstoffs aufzuheben oder zu ändern, wenn neue Daten vorliegen, die den früheren Schluss widerlegen, dieser Wirkstoff erfülle die Genehmigungskriterien nach Art. 4 der Verordnung Nr. 1107/2009. In diesem Zusammenhang kann sich die Kommission darauf beschränken, im Einklang mit den allgemeinen Beweislastregeln ernsthafte und stichhaltige Anhaltspunkte zu liefern, die, ohne die wissenschaftliche Ungewissheit zu beseitigen, vernünftige Zweifel am Umstand erlauben, dass der in Rede stehende Wirkstoff diese Genehmigungskriterien erfüllt.

(vgl. Rn. 86, 89-91)

6.      Damit die Kommission die ihr von der Verordnung Nr. 1107/2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln gesetzten Ziele wirksam verfolgen kann und im Hinblick darauf, dass sie komplexe technische Beurteilungen vorzunehmen hat, ist ihr ein weites Ermessen zuzuerkennen. Das gilt u. a. für die Entscheidungen im Bereich des Risikomanagements, die sie nach dieser Verordnung zu treffen hat.

Die Ausübung dieses Ermessens ist jedoch nicht der gerichtlichen Kontrolle entzogen. Der Unionsrichter muss nämlich im Rahmen dieser Kontrolle feststellen, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt von der Kommission zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen. Ein die Nichtigerklärung des angefochtenen Rechtsakts rechtfertigender offensichtlicher Beurteilungsfehler der Kommission bei der Würdigung komplexer Tatsachen kann nur festgestellt werden, wenn die vom Kläger vorgebrachten Beweise ausreichen, um die Sachverhaltswürdigung im Rechtsakt als nicht plausibel erscheinen zu lassen. Abgesehen von dieser Plausibilitätskontrolle darf der Unionsrichter seine Beurteilung komplexer Tatsachen nicht an die Stelle der Beurteilung des Organs setzen, das den Rechtsakt erlassen hat.

Außerdem kommt der Kontrolle der Einhaltung der Garantien, die die Unionsrechtsordnung für Verwaltungsverfahren vorsieht, in Fällen, in denen ein Organ über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, wesentliche Bedeutung zu. Zu diesen Garantien gehört u. a. die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen und seine Entscheidung hinreichend zu begründen. So stellt die Vornahme einer möglichst erschöpfenden wissenschaftlichen Risikobewertung auf der Grundlage wissenschaftlicher Gutachten, die auf den Grundsätzen der höchsten Fachkompetenz, der Transparenz und der Unabhängigkeit beruhen, eine wichtige Verfahrensgarantie zur Gewährleistung der wissenschaftlichen Objektivität der Maßnahmen und zur Verhinderung des Erlasses willkürlicher Maßnahmen dar.

(vgl. Rn. 92-96)

7.      Damit die Kommission die Genehmigung eines Wirkstoffs nach Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln überprüfen kann, ist es hinreichend, dass neue Studien vorliegen (nämlich Studien, die von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit [EFSA] oder der Kommission im Rahmen einer vorigen Bewertung des in Rede stehenden Wirkstoffs noch nicht berücksichtigt wurden), deren Ergebnisse gegenüber den bei der vorigen Bewertung verfügbaren Kenntnissen Besorgnis in Bezug auf die Frage erregen, ob die Genehmigungsbedingungen nach Art. 4 der Verordnung Nr. 1107/2009 weiterhin erfüllt sind, ohne dass es erforderlich ist, zu diesem Zeitpunkt zu prüfen, ob diese Besorgnis tatsächlich begründet ist, da diese Feststellung der Überprüfung selbst vorbehalten ist.

Denn um feststellen zu können, dass die Bedingungen nach Art. 4 der Verordnung Nr. 1107/2009 insbesondere unter Berücksichtigung des von dieser Verordnung verfolgten Schutzziels nicht mehr erfüllt sind, muss die Kommission, selbst dann eine Prüfung einleiten können, wenn der Grad des durch die neuen wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse erweckten Zweifels nur relativ schwach ist. Dies kann jedoch nicht bedeuten, dass die Kommission völlig frei in ihrer Beurteilung wäre. Der Begriff „neue wissenschaftliche und technische Kenntnisse“ kann nämlich nicht ausschließlich in zeitlicher Hinsicht verstanden werden, sondern er umfasst auch einen qualitativen Bestandteil, der im Übrigen sowohl an das Adjektiv „neu“ als auch an das Adjektiv „wissenschaftlich“ anknüpft. Daraus folgt, dass die Schwelle für die Anwendung von Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 nicht erreicht wird, wenn die „neuen Kenntnisse“ nur einfach Wiederholungen von früheren Kenntnissen, neue Vermutungen ohne solide Grundlage sowie politische Erwägungen ohne Anknüpfung an die Wissenschaft betreffen. Letztlich müssen die „neuen wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse“ daher tatsächlich für die Beurteilung des Fortbestehens der Genehmigungsbedingungen nach Art. 4 der Verordnung Nr. 1107/2009 relevant sein.

Ferner gilt bei der Definition des Standes der früheren wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse, dass der frühere Kenntnisstand nicht derjenige sein kann, der der Veröffentlichung der neuen Kenntnisse unmittelbar vorausgegangen ist, sondern vielmehr derjenige des Zeitpunkts der vorigen Bewertung der Risiken des betreffenden Wirkstoffs. Zum einen stellt nämlich diese vorige Bewertung einen festen Referenzwert dar, da sie eine Zusammenfassung der zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Kenntnisse enthält. Zum anderen wäre es, wenn sich die Neuheit der Kenntnisse auf den Kenntnisstand bezöge, der ihrer Veröffentlichung unmittelbar vorausginge, nicht möglich, eine schrittweise Entwicklung der wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse zu berücksichtigen, bei der nicht jeder Schritt zwangsläufig für sich genommen Anlass zur Besorgnis gibt, die aber insgesamt besorgniserregend sein kann.

(vgl. Rn. 110-112, 114)

8.      Die Überwachungsdaten im Sinne des Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln sind Daten, die nach der tatsächlichen Anwendung der Pflanzenschutzmittel, die einen nach dieser Verordnung genehmigten Wirkstoff enthalten, im Freiland gesammelt wurden. Solche Daten können unabhängig davon, ob sie im Rahmen eines Überwachungsprogramms oder außerhalb gesammelt wurden, hinsichtlich ihrer Eignung, als Grundlage für wissenschaftliche Schlussfolgerungen zum Vorliegen oder Fehlen von kausalen Zusammenhängen zu dienen, nicht mit in Feldstudien generierten Daten gleichgesetzt werden. Denn die Feldstudien sind wissenschaftliche experimentelle Studien mit klaren Parametern und einer Kontrollgruppe, während die Überwachungsstudien (nichtinterventionelle) Beobachtungsstudien sind, deren Parameter nicht definiert werden. Folglich ist die Qualität der von diesen beiden Studienarten erzeugten Daten unterschiedlich, insbesondere was ihre Eignung betrifft, Schlussfolgerungen zu den Zusammenhängen zwischen Ursachen und Wirkungen eines beobachteten Phänomens oder zu einer fehlenden Kausalität bei Fehlen des beobachteten Phänomens zu stützen.

Daraus folgt, dass die Überwachungsstudien zwar Hinweise auf das Bestehen eines Risikos aufzeigen können, aber, anders als die Feldstudien, nicht als Nachweis des Fehlens eines Risikos dienen können.

(vgl. Rn. 128, 132, 134, 136)

9.      Aus Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln geht hervor, dass, selbst wenn die Kommission den Antrag eines Mitgliedstaats auf Überprüfung der Genehmigung eines Wirkstoffs berücksichtigen muss, sie in ihrer Würdigung der Frage, ob eine solche Überprüfung aufgrund neuer verfügbarerer wissenschaftlicher Kenntnisse zu erfolgen hat, frei bleibt. Das stellt im Übrigen einen Schutz der Erzeuger genehmigter Wirkstoffe gegen unbegründete oder sogar missbräuchliche Anträge auf Überprüfung dar, die von den Mitgliedstaaten gestellt werden könnten.

In Bezug auf die Rolle der Überwachungsdaten im Rahmen der Entscheidung, eine Überprüfung vorzunehmen, werden die Überwachungsdaten im zweiten Satz dieses Unterabsatzes nur angeführt, um die Voraussetzungen darzulegen, unter denen die Mitgliedstaaten eine Überprüfung einer Genehmigung beantragen können, und nicht die Voraussetzungen, die die Entscheidung der Kommission zur Eröffnung eines Überprüfungsverfahrens regeln. Die Letzteren werden nämlich in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1107/2009 festgelegt, der nur die Berücksichtigung der neuen wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse vorsieht.

(vgl. Rn. 137, 138)

10.    Die Anwendung des Vorsorgeprinzips ist nicht auf den Fall beschränkt, dass das Bestehen eines Risikos ungewiss ist, sondern sie kann auch in dem Fall erfolgen, dass das Bestehen eines Risikos festgestellt wurde und die Kommission beurteilen muss, ob dieses Risiko hinnehmbar ist oder nicht, oder sogar beurteilen muss, wie ihm im Rahmen des Risikomanagements Rechnung zu tragen ist.

Zur Anwendung dieses Grundsatzes im Rahmen der Verordnung Nr. 1107/2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln ergibt sich aus derem achten Erwägungsgrund sowie aus ihrem Art. 1 Abs. 4, dass sämtliche Bestimmungen dieser Verordnung auf dem Vorsorgeprinzip beruhen, um sicherzustellen, dass Wirkstoffe oder Pflanzenschutzmitteln die Umwelt nicht beeinträchtigen. Daraus ergibt sich, dass jeder auf der Grundlage dieser Verordnung erlassene Rechtsakt ipso iure auf dem Vorsorgeprinzip beruht. Diese Grundlage beschränkt sich nicht auf die Art. 69 und 70 der Verordnung Nr. 1107/2009 über die Notfallverfahren. Das Vorsorgeprinzip ist bei der Bewertung der Genehmigungskriterien nach Art. 4 dieser Verordnung anzuwenden, auf den Art. 21 Abs. 3 dieser Verordnung verweist.

(vgl. Rn. 153, 154, 156)

11.    Punkt 6.3.4 der Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips sieht vor, dass eine Abwägung der mit einem Tätigwerden oder Nichttätigwerden verbundenen Vor‑ und Nachteile zu erfolgen hat. Hingegen sind das Format und der Umfang dieser Abwägung nicht näher dargelegt. Insbesondere ergibt sich daraus nicht, dass die betreffende Behörde verpflichtet wäre, ein spezifisches Bewertungsverfahren einzuleiten, das z. B. mit einem formellen schriftlichen Bewertungsbericht endet. Außerdem kommt der Behörde, die das Vorsorgeprinzip anwendet, nach dem Wortlaut ein erheblicher Ermessensspielraum hinsichtlich der Analysemethoden zu. Die Mitteilung weist nämlich zwar darauf hin, dass die Abwägung eine wirtschaftliche Analyse umfassen sollte, doch hat die betreffende Behörde jedenfalls auch andere als wirtschaftliche Erwägungen einzubeziehen. Außerdem wird ausdrücklich dargelegt, dass möglicherweise unter gewissen Umständen wirtschaftliche Erwägungen als weniger bedeutsam angesehen werden müssten als andere als wesentlich anerkannte Interessen; als Beispiel werden ausdrücklich Interessen wie die Umwelt oder die Gesundheit angeführt.

Außerdem ist es nicht erforderlich, dass die wirtschaftliche Kosten‑Nutzen‑Analyse auf der Grundlage einer genauen Berechnung der jeweiligen Kosten der in Betracht gezogenen Maßnahme oder des Nichttätigwerdens erfolgt. Solche genauen Berechnungen werden in den meisten Fällen unmöglich sein, da im Kontext der Anwendung des Vorsorgeprinzips ihre Ergebnisse von verschiedenen definitionsgemäß unbekannten Variablen abhängen. Wenn nämlich alle Folgen des Nichttätigwerdens sowie der Maßnahme bekannt wären, wäre es nicht erforderlich, das Vorsorgeprinzip heranzuziehen, sondern es wäre möglich, auf der Grundlage von Gewissheiten zu entscheiden. Im Ergebnis werden die Erfordernisse der Mitteilung über das Vorsorgeprinzip erfüllt, wenn die betreffende Behörde sich tatsächlich mit den positiven und negativen, wirtschaftlichen und anderen möglichen Auswirkungen der in Betracht gezogenen Maßnahme sowie des Nichttätigwerdens vertraut gemacht und sie bei ihrer Entscheidung berücksichtigt hat. Hingegen ist es nicht erforderlich, diese Auswirkungen genau zu beziffern, wenn dies nicht möglich ist oder unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde.

(vgl. Rn. 162, 163)

12.    Zwar wurde auf der Grundlage von Art. 11 AEUV und Art. 114 Abs. 3 AEUV anerkannt, dass im Rahmen der Anwendung der Verordnung Nr. 1107/2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln der Schutz der Umwelt vorrangige Bedeutung gegenüber wirtschaftlichen Erwägungen hat, so dass er sogar beträchtliche negative Folgen wirtschaftlicher Art für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen kann, wobei diese Formel im Übrigen von Punkt 6.3.4 der Mitteilung der Kommission über die Anwendung des Vorsorgeprinzip aufgegriffen wird.

In der allgemeinen Bekräftigung eines solchen Grundsatzes kann jedoch nicht die vorweggenommene Ausübung eines Ermessens durch den Gesetzgeber gesehen werden, so dass die Kommission von der Durchführung einer Abschätzung der Vorteile und Nachteile einer konkreten Maßnahme befreit wäre. Eine Folgenabschätzung betrifft nämlich eine konkrete Maßnahme des Risikomanagements; eine solche Abschätzung kann daher nur unter Berücksichtigung der spezifischen relevanten Umstände, die im Einzelfall vorliegen, und nicht allgemein und im Voraus für alle Fälle der Anwendung einer Norm durchgeführt werden. Da es keinen schriftlichen Nachweis für eine solche Abschätzung gibt, reicht es nicht, dass das Kollegium der Kommissionsmitglieder eine andere Folgenabschätzung, die für eine ältere Entscheidung vorgenommen worden war, kannte. Die fehlende Folgenabschätzung stellt einen Verstoß gegen das Vorsorgeprinzip dar.

Die in Punkt 6.3.4 der Mitteilung über das Vorsorgeprinzip enthaltene Verpflichtung, eine Folgenabschätzung durchzuführen, stellt letztlich nur einen spezifischen Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dar. Somit würde das Vorbringen der Kommission bedeuten, dass sie im Rahmen der Anwendung der Verordnung Nr. 1107/2009 von der Beachtung dieses Grundsatzes, zumindest was seinen wirtschaftlichen Aspekt betrifft, befreit wäre. In einem Bereich, in dem die Kommission über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, ist jedoch die Behauptung, dass sie das Recht hätte, Maßnahmen zu treffen, ohne deren Vorteile und Nachteile bewerten zu müssen, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar. Der Umstand, der Verwaltung einen Ermessensspielraum einzuräumen, hat nämlich als notwendige und unerlässliche Folge eine Verpflichtung, dieses Ermessen auszuüben und alle dafür relevanten Informationen zu berücksichtigen. Dies gilt umso mehr im Rahmen der Anwendung des Vorsorgeprinzips, bei der die Verwaltung Maßnahmen trifft, die die Rechte der Verwaltungsunterworfenen nicht auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Gewissheit, sondern auf der Grundlage einer Ungewissheit beschränken: Wenn es der Verwaltungsunterworfene hinzunehmen hat, dass ihm eine wirtschaftliche Tätigkeit verboten werden kann, auch wenn nicht einmal sicher ist, dass sie mit einem unannehmbaren Risiko verbunden ist, ist zumindest von der Verwaltung zu verlangen, dass sie die Folgen ihres Tätigwerdens, verglichen mit den möglichen Folgen ihrer Untätigkeit, für die verschiedenen beteiligten Interessen möglichst vollständig bewertet.

(vgl. Rn. 168-170, 173)