Language of document : ECLI:EU:C:2021:503

Verbundene Rechtssachen C682/18 und C683/18

Frank Peterson
gegen
Google LLC u. a.

und

Elsevier Inc.
gegen
Cyando AG

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs)

 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. Juni 2021

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges Eigentum – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Bereitstellung und Betreiben einer Video-Sharing- oder Sharehosting-Plattform – Haftung des Betreibers für Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums durch Nutzer seiner Plattform – Richtlinie 2001/29/EG – Art. 3 und Art. 8 Abs. 3 – Begriff ‚öffentliche Wiedergabe‘ – Richtlinie 2000/31/EG – Art. 14 und 15 – Voraussetzungen, unter denen die Haftungsbefreiung geltend gemacht werden kann – Fehlende Kenntnis von konkreten Rechtsverletzungen – Meldung solcher Rechtsverletzungen als Voraussetzung für die Erwirkung einer gerichtlichen Anordnung“

1.        Rechtsangleichung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Richtlinie 2001/29 – Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft – Ziel

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 11 und Art. 17 Abs. 2; Richtlinie 2001/29 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 3, 9, 10, 23 und 31)

(vgl. Rn. 63‑65)

2.        Rechtsangleichung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Richtlinie 2001/29 – Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft – Öffentliche Wiedergabe – Begriff – Betreiber einer Video-Sharing- oder Sharehosting-Plattform – Rechtswidrige öffentliche Zugänglichmachung geschützter Inhalte durch Nutzer dieser Plattform – Ausschluss – Ausnahme – Reichweite

(Richtlinie 2001/29 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 Abs. 1)

(vgl. Rn. 66‑75, 77‑86, 92‑102, Tenor 1)

3.        Rechtsangleichung – Elektronischer Geschäftsverkehr – Richtlinie 2000/31 – Verantwortlichkeit der Vermittler – Anwendungsbereich – Haftung des Betreibers einer Video-Sharing- oder Sharehosting-Plattform für Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums durch Nutzer seiner Plattform – Einbeziehung – Voraussetzung – Fehlende Kenntnis von konkreten Rechtsverletzungen

(Richtlinie 2000/31 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 14 Abs. 1 Buchst. a)

(vgl. Rn. 106, 107, 109, 111, 112, 114, 116‑118, Tenor 2)

4.        Rechtsangleichung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Richtlinie 2001/29 – Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft – Rechtsbehelfe – Möglichkeit für den Inhaber eines Urheberrechts oder eines verwandten Schutzrechts, eine gerichtliche Anordnung gegen den Betreiber einer Internetplattform zu erwirken – Plattform, die von einem Dritten für eine Verletzung des Rechts des Inhabers genutzt wird, ohne dass der Betreiber hiervon Kenntnis hätte – Zulässigkeit – Voraussetzung – Dem nationalen Gericht obliegende Prüfung

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 11, 16 und 17 Abs. 2; Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates 2000/31, Art. 14 Abs. 1 Buchst. a, und 2001/29, Art. 8 Abs. 3)

(vgl. Rn. 128‑130, 133, 136‑143, Tenor 3)

Zusammenfassung

Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts erfolgt seitens der Betreiber von Internetplattformen grundsätzlich keine öffentliche Wiedergabe der urheberrechtlich geschützten Inhalte, die von Nutzern rechtswidrig hochgeladen werden

Allerdings geben die Betreiber diese Inhalte unter Verletzung des Urheberrechts öffentlich wieder, wenn sie über die bloße Bereitstellung der Plattformen hinaus dazu beitragen, der Öffentlichkeit Zugang zu den Inhalten zu verschaffen

In dem Rechtsstreit, der der ersten Rechtssache (C‑682/18) zugrunde liegt, geht Frank Peterson, ein Musikproduzent, vor deutschen Gerichten gegen YouTube und deren gesetzliche Vertreterin Google vor, weil im Jahr 2008 mehrere Tonträger auf YouTube hochgeladen wurden, an denen er nach seinem Vorbringen verschiedene Rechte innehat. Dieses Hochladen erfolgte ohne seine Erlaubnis durch Nutzer dieser Plattform. Es handelt sich um Titel aus dem Album „A Winter Symphony“ der Künstlerin Sarah Brightman sowie um private Tonmitschnitte, die bei Konzerten ihrer Tournee „Symphony Tour“ angefertigt wurden.

In dem Rechtsstreit, der der zweiten Rechtssache (C‑683/18) zugrunde liegt, geht der Verlag Elsevier vor deutschen Gerichten gegen Cyando vor, weil im Jahr 2013 verschiedene Werke, an denen Elsevier die ausschließlichen Rechte innehat, auf die von Cyando betriebene Sharehosting-Plattform „Uploaded“ hochgeladen wurden. Dieses Hochladen erfolgte ohne die Erlaubnis von Elsevier durch Nutzer dieser Plattform. Es handelt sich um die Werke „Gray’s Anatomy for Students“, „Atlas of Human Anatomy“ und „Campbell-Walsh Urology“, die über die Linksammlungen rehabgate.com, avaxhome.ws und bookarchive.ws auf „Uploaded“ abgerufen werden konnten.

Der Bundesgerichtshof (Deutschland), der mit diesen beiden Rechtsstreitigkeiten befasst ist, hat dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, um u. a. klären zu lassen, inwieweit die Betreiber von Internetplattformen haften, wenn urheberrechtlich geschützte Werke von Nutzern unbefugt auf diese Plattformen hochgeladen werden.

Der Gerichtshof hat diese Haftung anhand der zur maßgeblichen Zeit bestehenden Rechtslage geprüft, die sich aus der Richtlinie 2001/29 über das Urheberrecht(1), der Richtlinie 2000/31 über den elektronischen Geschäftsverkehr(2) und der Richtlinie 2004/48 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums(3) ergibt. Die Vorlagefragen betreffen nicht die später anwendbar gewordene Regelung, die durch die Richtlinie 2019/790 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt(4) eingeführt wurde.

In seinem Urteil hat der Gerichtshof (Große Kammer) insbesondere festgestellt, dass beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts seitens der Betreiber von Internetplattformen grundsätzlich keine öffentliche Wiedergabe der von Nutzern rechtswidrig hochgeladenen, urheberrechtlich geschützten Inhalte erfolgt, es sei denn, die Betreiber tragen über die bloße Bereitstellung der Plattformen hinaus dazu bei, der Öffentlichkeit unter Verletzung von Urheberrechten Zugang zu solchen Inhalten zu verschaffen. Des Weiteren hat der Gerichtshof entschieden, dass die Betreiber von Internetplattformen die Haftungsbefreiung im Sinne der Richtlinie 2000/31 über den elektronischen Geschäftsverkehr geltend machen können, vorausgesetzt, sie spielen keine aktive Rolle, die ihnen Kenntnis von den auf ihre Plattformen hochgeladenen Inhalten oder Kontrolle über sie verschafft.

Würdigung durch den Gerichtshof

Als Erstes hat der Gerichtshof geprüft, ob der Betreiber einer Video-Sharing- oder Sharehosting-Plattform, auf der Nutzer geschützte Inhalte rechtswidrig öffentlich zugänglich machen können, unter Umständen, wie sie in den vorliegenden Verfahren in Rede stehen, selbst eine „öffentliche Wiedergabe“ dieser Inhalte im Sinne der Richtlinie 2001/29 über das Urheberrecht(5) vornimmt. Der Gerichtshof hat zunächst auf die Ziele und die Definition des Begriffs „öffentliche Wiedergabe“ sowie auf die weiteren Kriterien hingewiesen, die bei der in Bezug auf diesen Begriff erforderlichen individuellen Beurteilung zu berücksichtigen sind.

So hat der Gerichtshof unter diesen Kriterien die zentrale Rolle des Betreibers der Plattform und die Vorsätzlichkeit seines Handelns hervorgehoben. Der Betreiber nimmt nämlich eine „Handlung der Wiedergabe“ vor, wenn er in voller Kenntnis der Folgen seines Verhaltens tätig wird, um seinen Kunden Zugang zu einem geschützten Werk zu verschaffen, und zwar insbesondere dann, wenn ohne dieses Tätigwerden die Kunden das verbreitete Werk grundsätzlich nicht abrufen könnten.

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass seitens des Betreibers einer Video-Sharing- oder Sharehosting-Plattform, auf der Nutzer geschützte Inhalte rechtswidrig öffentlich zugänglich machen können, keine „öffentliche Wiedergabe“ dieser Inhalte im Sinne der Urheberrechtsrichtlinie erfolgt, es sei denn, er trägt über die bloße Bereitstellung der Plattform hinaus dazu bei, der Öffentlichkeit unter Verletzung von Urheberrechten Zugang zu solchen Inhalten zu verschaffen.

Dies ist namentlich dann der Fall, wenn der Betreiber von der rechtsverletzenden Zugänglichmachung eines geschützten Inhalts auf seiner Plattform konkret Kenntnis hat und diesen Inhalt nicht unverzüglich löscht oder den Zugang zu ihm sperrt, oder wenn er, obwohl er weiß oder wissen müsste, dass über seine Plattform im Allgemeinen durch Nutzer derselben geschützte Inhalte rechtswidrig öffentlich zugänglich gemacht werden, nicht die geeigneten technischen Maßnahmen ergreift, die von einem die übliche Sorgfalt beachtenden Wirtschaftsteilnehmer in seiner Situation erwartet werden können, um Urheberrechtsverletzungen auf dieser Plattform glaubwürdig und wirksam zu bekämpfen, oder auch, wenn er an der Auswahl geschützter Inhalte, die rechtswidrig öffentlich zugänglich gemacht werden, beteiligt ist, auf seiner Plattform Hilfsmittel anbietet, die speziell zum unerlaubten Teilen solcher Inhalte bestimmt sind, oder ein solches Teilen wissentlich fördert, wofür der Umstand sprechen kann, dass der Betreiber ein Geschäftsmodell gewählt hat, das die Nutzer seiner Plattform dazu verleitet, geschützte Inhalte auf dieser Plattform rechtswidrig öffentlich zugänglich zu machen.

Als Zweites hat sich der Gerichtshof mit der Frage befasst, ob ein Betreiber von Internetplattformen nach der Richtlinie 2000/31 über den elektronischen Geschäftsverkehr(6) von seiner Verantwortung für die geschützten Inhalte befreit werden kann, die Nutzer rechtswidrig über seine Plattform öffentlich wiedergeben. In diesem Zusammenhang ist dem Gerichtshof zufolge zu prüfen, ob die Rolle dieses Betreibers neutral ist, d. h., ob sein Verhalten rein technisch, automatisch und passiv ist, was bedeutet, dass keine Kenntnis oder Kontrolle über die von ihm gespeicherten Inhalte besteht, oder ob der Betreiber im Gegenteil eine aktive Rolle spielt, die ihm eine Kenntnis dieser Inhalte oder eine Kontrolle über sie zu verschaffen vermag. Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass der betreffende Betreiber die Haftungsbefreiung geltend machen kann, sofern er keine aktive Rolle spielt, die ihm Kenntnis von den auf seine Plattform hochgeladenen Inhalten oder Kontrolle über sie verschafft. Er ist nur dann von der Haftungsbefreiung gemäß der Richtlinie ausgeschlossen, wenn er Kenntnis von den konkreten rechtswidrigen Handlungen seiner Nutzer hat, die damit zusammenhängen, dass geschützte Inhalte auf seine Plattform hochgeladen wurden.

Als Drittes hat der Gerichtshof klargestellt, unter welchen Voraussetzungen Rechtsinhaber nach der Richtlinie 2001/29 über das Urheberrecht(7) gerichtliche Anordnungen gegen Betreiber von Internetplattformen erwirken können. So hat er entschieden, dass diese Richtlinie dem nicht entgegensteht, dass der Inhaber eines Urheberrechts oder eines verwandten Schutzrechts nach nationalem Recht eine gerichtliche Anordnung gegen den Betreiber, dessen Dienst von einem Dritten zur Verletzung seines Rechts genutzt wurde, ohne dass der Betreiber hiervon Kenntnis im Sinne der Richtlinie 2000/31 über den elektronischen Geschäftsverkehr(8) gehabt hätte, erst erlangen kann, wenn diese Rechtsverletzung vor der Einleitung des gerichtlichen Verfahrens zunächst dem Betreiber gemeldet wurde und wenn dieser nicht unverzüglich tätig geworden ist, um den fraglichen Inhalt zu entfernen oder den Zugang zu diesem zu sperren und dafür zu sorgen, dass sich derartige Rechtsverletzungen nicht wiederholen.

Es obliegt jedoch den nationalen Gerichten, sich bei der Anwendung einer solchen Voraussetzung zu vergewissern, dass diese nicht dazu führt, dass die tatsächliche Beendigung der Rechtsverletzung derart verzögert wird, dass dem Rechtsinhaber unverhältnismäßige Schäden entstehen.


1      Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. 2001, L 167, S. 10).


2      Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) (ABl. 2000, L 178, S. 1).


3      Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (ABl. 2004, L 157, S. 45, berichtigt im ABl. 2004, L 195, S. 16).


4      Richtlinie (EU) 2019/790 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinien 96/9/EG und 2001/29/EG (ABl. 2019, L 130, S. 92). Mit dieser Richtlinie wird eine neue Regelung eingeführt, nach der die Betreiber von Internetplattformen speziell für Werke haften, die von Nutzern dieser Plattformen rechtswidrig hochgeladen werden. Die Richtlinie muss von jedem Mitgliedstaat bis zum 7. Juni 2021 in nationales Recht umgesetzt werden. Sie schreibt u. a. vor, dass die Betreiber für Werke, die von den Nutzern ihrer Plattformen hochgeladen werden, eine Erlaubnis der Rechteinhaber einholen müssen, etwa durch den Abschluss einer Lizenzvereinbarung.


5      Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 über das Urheberrecht. Nach dieser Bestimmung sehen die Mitgliedstaaten vor, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung der Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind, zu erlauben oder zu verbieten.


6      Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2000/31 über den elektronischen Geschäftsverkehr. Nach dieser Vorschrift stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass im Fall eines Dienstes der Informationsgesellschaft, der in der Speicherung von durch einen Nutzer eingegebenen Informationen besteht, der Diensteanbieter nicht für die im Auftrag eines Nutzers gespeicherten Informationen verantwortlich ist, sofern entweder die Voraussetzung erfüllt ist, dass der Anbieter keine tatsächliche Kenntnis von der rechtswidrigen Tätigkeit oder Information hat und, in Bezug auf Schadenersatzansprüche, sich auch keiner Tatsachen oder Umstände bewusst ist, aus denen die rechtswidrige Tätigkeit oder Information offensichtlich wird, oder die Voraussetzung erfüllt ist, dass der Anbieter, sobald er diese Kenntnis oder dieses Bewusstsein erlangt, unverzüglich tätig wird, um die Information zu entfernen oder den Zugang zu ihr zu sperren.


7      Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 über das Urheberrecht. Nach dieser Vorschrift stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Rechtsinhaber gerichtliche Anordnungen gegen Vermittler beantragen können, deren Dienste von einem Dritten zur Verletzung eines Urheberrechts oder verwandter Schutzrechte genutzt werden.


8      Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/31 über den elektronischen Geschäftsverkehr.