Language of document : ECLI:EU:C:2022:424

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

2. Juni 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Übereinkommen von Montreal – Art. 17 Abs. 1 – Haftung der Luftfahrtunternehmen für Tod oder Körperverletzungen der Fluggäste – Begriff ‚Unfall‘, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde – Beim Aussteigen erlittene Körperverletzung – Art. 20 – Haftungsbefreiung des Luftfahrtunternehmens – Begriff ‚unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung‘, die den ‚Schaden‘ ‚sei es auch nur fahrlässig, … verursacht oder dazu beigetragen hat‘ – Sturz eines Fluggasts, der sich nicht am Handlauf einer mobilen Ausstiegstreppe festgehalten hat“

In der Rechtssache C‑589/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesgericht Korneuburg (Österreich) mit Entscheidung vom 15. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 10. November 2020, in dem Verfahren

JR

gegen

Austrian Airlines AG


erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter N. Jääskinen, M. Safjan, N. Piçarra (Berichterstatter) und M. Gavalec,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von JR, vertreten durch Rechtsanwalt F. Raffaseder,

–        der Austrian Airlines AG, vertreten durch Rechtsanwalt C. Krones,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und U. Kühne als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, K. Simonsson und G. Wilms als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Januar 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 und Art. 20 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen, von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichneten und mit dem Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38) in ihrem Namen genehmigten Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (im Folgenden: Übereinkommen von Montreal), das in Bezug auf die Europäische Union am 28. Juni 2004 in Kraft getreten ist.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen JR und der Austrian Airlines AG, einem Luftfahrtunternehmen, über eine von JR erhobene Klage auf Schadenersatz wegen Körperverletzungen, die durch ihren Sturz während des Aussteigens nach einem von diesem Luftfahrtunternehmen durchgeführten Flug verursacht wurden.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        In den Abs. 3 und 5 der Präambel des Übereinkommens von Montreal heißt es:

„[Die Vertragsstaaten erkennen die] Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadenersatzes… nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs [an];

… gemeinsames Handeln der Staaten zur weiteren Harmonisierung und Kodifizierung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr durch ein neues Übereinkommen [ist] das beste Mittel …, um einen gerechten Interessenausgleich zu erreichen“.

4        Art. 17 („Tod und Körperverletzung des Reisenden – Beschädigung von Reisegepäck“) dieses Übereinkommens sieht in seinem Abs. 1 vor:

„Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.“

5        In Art. 20 („Haftungsbefreiung“) des Übereinkommens heißt es:

„Weist der Luftfrachtführer nach, dass die Person, die den Schadenersatzanspruch erhebt, oder ihr Rechtsvorgänger den Schaden durch eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung, sei es auch nur fahrlässig, verursacht oder dazu beigetragen hat, so ist der Luftfrachtführer ganz oder teilweise von seiner Haftung gegenüber dieser Person insoweit befreit, als diese Handlung oder Unterlassung den Schaden verursacht oder dazu beigetragen hat. …“

 Unionsrecht

6        Der neunte Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9. Oktober 1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr (ABl. 1997, L 285, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Mai 2002 (ABl. 2002, L 140, S. 2) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2027/97) lautet:

„Für den Fall, dass der Schaden durch Fahrlässigkeit des betreffenden Fluggastes mitverursacht wurde, können die Luftfahrtunternehmen der [Union] von ihrer Haftung befreit werden“.

7        Art. 2 Abs. 2 der Verordnung sieht vor:

„Die in dieser Verordnung verwendeten Begriffe, die nicht in Absatz 1 definiert sind, entsprechen den im Übereinkommen von Montreal verwendeten Begriffen.“

8        In den Erwägungsgründen 10 und 18 der Verordnung Nr. 889/2002 wird ausgeführt:

„(10)      In einem sicheren und modernen Luftverkehrssystem ist es angemessen, die Haftung für Tod oder Körperverletzung von Fluggästen nicht zu beschränken.

(18)      Soweit weitere Vorschriften zur Umsetzung des Übereinkommens von Montreal zu Punkten, die von der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 nicht geregelt werden, erforderlich sind, ist es Aufgabe der Mitgliedstaaten, derartige Vorschriften zu erlassen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9        Am 30. Mai 2019 reiste JR zusammen mit ihrem Ehegatten und ihrem zweijährigen Sohn auf einem von Austrian Airlines durchgeführten Flug von Thessaloniki (Griechenland) nach Wien-Schwechat (Österreich).

10      Am Flughafen Wien-Schwechat kam der Ehegatte von JR, der vor ihr ging und in jeder Hand einen Handgepäck-Trolley hielt, beim Verlassen des Flugzeugs über eine mobile Treppe mit beidseitigen Handläufen im letzten Drittel dieser Treppe beinahe zu Fall. An eben dieser Stelle stürzte JR mit ihrer Handtasche in der rechten Hand und ihrem Sohn auf dem linken Arm. Dieser Sturz verursachte u. a. einen Bruch des linken Unterarms von JR.

11      JR erhob beim Bezirksgericht Schwechat (Österreich) gegen Austrian Airlines Klage auf Schadenersatz in Höhe von 4 675 Euro samt Anhang. Sie machte geltend, dass die Treppe nicht der vertraglichen Verkehrssicherungspflicht von Austrian Airlines zum Schutz der Fluggäste entspreche, da sie gestürzt sei, obwohl sie beim Hinabsteigen der fraglichen Treppe besonders Acht gegeben habe, nachdem sie gesehen habe, dass ihr Ehemann fast zu Fall gekommen wäre. Der Sturz sei hingegen darauf zurückzuführen, dass diese nicht überdachte Treppe aufgrund der feuchten Witterung verbunden mit Nieselregen zu rutschig geworden sei. Dazu komme, dass die Stufe, auf der sie ausgerutscht sei, auch ölig/schmierig gewesen sei.

12      Austrian Airlines machte ihrerseits geltend, dass die Treppe mit durchlöcherten/gerillten Trittflächen ausgestattet gewesen sei, was ein rasches Ablaufen des Wassers ermögliche, so dass diese Treppe nicht rutschig gewesen sei. Sie habe daher weder gegen ihre vertraglichen Schutz- und Sorgfaltspflichten verstoßen noch schuldhaft oder rechtswidrig gehandelt. Der Sturz von JR sei auf ihr eigenes Verhalten zurückzuführen, da sie keinen der Handläufe dieser Treppe verwendet habe, auch nachdem sie mitangesehen habe, dass ihr Ehemann beinahe zu Fall gekommen sei. Außerdem habe JR entgegen Anraten eines Arztes unter Verstoß gegen ihre Verpflichtung zur Schadensbegrenzung eine umgehende Behandlung in einem Krankenhaus in der Nähe des Flughafens abgelehnt und sich erst am späten Abend des 30. Mai 2019 behandeln lassen, was ihre Verletzungen möglicherweise verschlimmert habe.

13      Mit Urteil vom 15. März 2020 stellte das Bezirksgericht Schwechat fest, dass ein Teil der Fluggäste des in Rede stehenden Luftfahrzeugs vor JR dieselbe mobile Treppe wie Letztere benutzt habe und sich keiner von ihnen über eine rutschige Stelle auf dieser Treppe beschwert habe oder gestürzt sei. Insbesondere sei diese Treppe aus Metall und nicht überdacht, da überdachte Treppen am Flughafen Wien-Schwechat nicht zur Verfügung stünden, die Stufen dieser Treppe seien hinreichend breit, so dass zwei Personen nebeneinander herabsteigen könnten, die Trittflächen dieser Stufen bestünden aus Riffelblech, was sie besonders rutschfest mache, und diese Gerätschaft sei zertifiziert und TÜV-geprüft. Das Bezirksgericht Schwechat stellte fest, dass die in Rede stehende Treppe weder mangel- noch schadhaft sei und die Stufen, auch wenn sie feucht gewesen seien, nicht rutschig, ölig, schmierig oder überhaupt schmutzig gewesen seien, da sich lediglich auf den letzten drei Stufen einzelne punktförmige Verunreinigungen unbekannter Konsistenz befunden hätten. Es schloss daraus, dass es nicht möglich sei, die Gründe festzustellen, aus denen JR gestürzt sei.

14      Das Bezirksgericht Schwechat wies die Klage von JR gemäß § 1295 Abs. 1 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass Austrian Airlines ihre vertragliche Nebenpflicht, die Verkehrssicherheit ihrer Fluggäste zu gewährleisten, nicht verletzt habe und JR keine Vorkehrungen getroffen habe, um ihren Sturz zu verhindern.

15      Das Landesgericht Korneuburg (Österreich), bei dem JR gegen dieses Urteil Berufung erhob, hegt Zweifel, ob zum einen der Sturz von JR vom Begriff „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal in seiner Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil vom 19. Dezember 2019, Niki Luftfahrt (C‑532/18, EU:C:2019:1127), erfasst ist. Aus diesem Urteil leite sich ab, dass ein solcher Begriff jeden an Bord eines Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen vorfallenden Sachverhalt erfasse, in dem ein bei der Fluggastbetreuung eingesetzter Gegenstand eine Körperverletzung eines Fluggasts verursacht habe, ohne dass ermittelt werden müsste, ob der Sachverhalt auf ein luftfahrtspezifisches Risiko zurückgehe. Die Situation, um die es im Ausgangsverfahren gehe, unterscheide sich jedoch vom Sachverhalt in der Rechtssache, in der jenes Urteil ergangen sei, da der Sturz von JR nicht durch einen solchen Gegenstand verursacht worden sei.


16      Zum anderen ist das Landesgericht Korneuburg der Ansicht, dass JR zumindest zu ihrem Sturz beigetragen habe, da sie sich nicht an einem der Handläufe der für den Ausstieg der Passagiere bereitgestellten mobilen Treppe festgehalten habe, und dies nachdem sie mitangesehen habe, dass ihr Ehemann vor ihr beinahe zu Fall gekommen sei. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob gemäß Art. 20 des Übereinkommens von Montreal dieses Mitverschulden die Haftung von Austrian Airlines nach Art. 17 Abs. 1 dieses Übereinkommens „derart in den Hintergrund treten [lässt], dass eine Haftung entfällt“.

17      Unter diesen Umständen hat das Landesgericht Korneuburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen, dass der Begriff „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung einen Sachverhalt erfasst, bei dem ein Fluggast beim Ausstieg aus dem Flugzeug auf dem letzten Drittel der mobilen Ausstiegstreppe – ohne feststellbaren Grund – stürzt und sich dabei verletzt, wobei die Verletzung nicht durch einen bei der Fluggastbetreuung eingesetzten Gegenstand im Sinne des Urteils vom 19. Dezember 2019, Niki Luftfahrt (C‑532/18, EU:C:2019:1127), verursacht wurde und keine mangelhafte Beschaffenheit der Treppe gegeben war, diese insbesondere auch nicht rutschig war?

2.      Ist Art. 20 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen, dass eine allfällige Haftung des Luftfahrtunternehmens zur Gänze entfällt, wenn Umstände wie in der ersten Frage beschrieben vorliegen und sich der Fluggast im Zeitpunkt des Sturzes nicht am Handlauf der Treppe angehalten hat?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

18      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass eine Situation, in der ein Fluggast aus unbestimmtem Grund auf einer für den Ausstieg der Fluggäste eines Luftfahrzeugs bereitgestellten mobilen Treppe stürzt und verletzt wird, unter den Begriff „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, und zwar auch dann, wenn das betreffende Luftfahrtunternehmen hierbei nicht gegen seine Sorgfalts- und Verkehrssicherungspflichten verstoßen hat.

19      Nach dieser Bestimmung hat das Luftfahrtunternehmen den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.

20      Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass der Begriff „Unfall“ in seiner gewöhnlichen Bedeutung im gegebenen Zusammenhang als ein unvorhergesehenes, unbeabsichtigtes, schädigendes Ereignis zu verstehen ist und dass dieser Begriff nicht verlangt, dass der Schaden auf das Eintreten eines luftfahrtspezifischen Risikos zurückgeht oder dass es einen Zusammenhang zwischen dem „Unfall“ und dem Betrieb oder der Bewegung des Luftfahrzeugs gibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Niki Luftfahrt, C‑532/18, EU:C:2019:1127, Rn. 34, 35 und 41).

21      Diese Auslegung von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal steht im Einklang mit dessen Zielen, die, wie sich aus den Abs. 3 und 5 der Präambel dieses Übereinkommens ergibt, in der „Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadenersatzes nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs“ mittels einer Gefährdungshaftungsregelung für Luftfahrtunternehmen unter Wahrung des „gerechten Interessenausgleichs“ zwischen den Interessen der Luftfahrtunternehmen und der Fluggäste bestehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Niki Luftfahrt, C‑532/18, EU:C:2019:1127, Rn. 36).

22      Wenn ein Fluggast aus unbestimmtem Grund auf einer für den Ausstieg der Fluggäste eines Luftfahrzeugs bereitgestellten mobilen Treppe stürzt und verletzt wird, fällt dieser Sturz somit unter den Begriff „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal. Der Umstand, dass das betreffende Luftfahrtunternehmen hierbei nicht gegen seine Sorgfalts- und Verkehrssicherungspflichten verstoßen hat, vermag diese Subsumtion nicht in Frage zu stellen.

23      Wie der Generalanwalt in Nr. 40 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, reicht es für die Auslösung der Haftung des Luftfahrtunternehmens nach dieser Bestimmung nämlich aus, dass sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung eines Fluggasts verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat. Diese Haftung kann daher nicht von einem Fehlverhalten/einer Fahrlässigkeit des Luftfahrtunternehmens abhängen.

24      Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass eine Situation, in der ein Fluggast aus unbestimmtem Grund auf einer für den Ausstieg der Fluggäste eines Luftfahrzeugs bereitgestellten mobilen Treppe stürzt und verletzt wird, unter den Begriff „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, und zwar auch dann, wenn das betreffende Luftfahrtunternehmen hierbei nicht gegen seine Sorgfalts- und Verkehrssicherungspflichten verstoßen hat.


 Zur zweiten Frage

25      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass bei einem Unfall, der einem Fluggast einen Schaden verursacht hat und bei dem Letzterer aus unbestimmtem Grund auf einer für den Ausstieg der Fluggäste eines Luftfahrzeugs bereitgestellten mobilen Treppe gestürzt ist, der Umstand, dass sich der Fluggast zum Zeitpunkt seines Sturzes nicht am Handlauf dieser Treppe festgehalten hat, einen Nachweis dafür darstellen kann, dass im Sinne dieser Bestimmung eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung, sei es auch nur fahrlässig, den Schaden verursacht oder dazu beigetragen hat, und das betreffende Luftfahrtunternehmen insoweit von seiner Haftung gegenüber diesem Fluggast befreien kann.

26      Nach Art. 20 Satz 1 des Übereinkommens von Montreal ist das Luftfahrtunternehmen, wenn es nachweist, dass die Person, die den Schadenersatzanspruch erhebt, oder ihr Rechtsvorgänger den Schaden durch eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung, sei es auch nur fahrlässig, verursacht oder dazu beigetragen hat, ganz oder teilweise von seiner Haftung gegenüber dieser Person insoweit befreit, als diese Handlung oder Unterlassung den Schaden verursacht oder dazu beigetragen hat.

27      Der Grundsatz, dass Luftfahrtunternehmen der Union im Fall der Fahrlässigkeit des betreffenden Fluggasts von ihrer Haftung befreit werden können, wird auch im neunten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2027/97 genannt.

28      Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, soll mit der in Art. 20 des Übereinkommens von Montreal vorgesehenen Möglichkeit der Befreiung des Luftfahrtunternehmens von seiner Haftung oder der Beschränkung der ihm obliegenden Ersatzpflicht gegenüber einem Fluggast, dem ein durch einen „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 dieses Übereinkommens verursachter Schaden entstanden ist, der in Rn. 21 des vorliegenden Urteils erwähnte „gerechte Interessenausgleich“ zwischen den Interessen der Luftfahrtunternehmen und der Fluggäste gewahrt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Niki Luftfahrt, C‑532/18, EU:C:2019:1127, Rn. 39).

29      Da das Übereinkommen von Montreal und die Verordnung Nr. 2027/97 keine spezifischen Bestimmungen über den dem Luftfahrtunternehmen obliegenden Nachweis einer, sei es auch nur fahrlässigen, unrechtmäßigen Handlung oder Unterlassung der Person, die den Schadenersatzanspruch erhebt, oder ihres Rechtsvorgängers im Sinne von Art. 20 Satz 1 dieses Übereinkommens vorsehen, hat das vorlegende Gericht nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie, auf den u. a. der 18. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 889/2002 verweist, die einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts anzuwenden, vorausgesetzt jedoch, dass diese Vorschriften die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, wie sie in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegt wurden, wahren (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Juli 2020, Vueling Airlines, C‑86/19, EU:C:2020:538, Rn. 38 bis 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      In diesem Rahmen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob das betreffende Luftfahrtunternehmen den Nachweis einer, sei es auch nur fahrlässigen, unrechtmäßigen Handlung oder Unterlassung des betreffenden Fluggasts erbracht hat, und gegebenenfalls zu beurteilen, inwieweit diese unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung, sei es auch nur fahrlässig, zu dem diesem Fluggast entstandenen Schaden beigetragen hat, um unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände, unter denen dieser Schaden eingetreten ist, das Luftfahrtunternehmen insoweit von seiner Haftung gegenüber diesem Fluggast zu befreien.

31      Insbesondere kann der vom vorlegenden Gericht angeführte Umstand, dass sich der betreffende Fluggast nicht an einem der Handläufe der für den Ausstieg der Fluggäste bereitgestellten mobilen Treppe festgehalten hat, freilich die Körperverletzungen dieses Fluggasts verursachen oder dazu beitragen. Im Rahmen dieser Beurteilung darf das nationale Gericht jedoch nicht außer Acht lassen, dass ein Fluggast, der mit einem minderjährigen Kind reist, auch für dessen Sicherheit sorgen muss, was diesen Fluggast dazu veranlassen kann, sich nicht an einem solchen Handlauf festzuhalten oder diesen loszulassen, um die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit eine Beeinträchtigung der Sicherheit dieses Kindes verhindert wird.

32      Was die Beurteilung des vom vorlegenden Gericht ebenfalls angeführten Umstands, dass dieser Fluggast mitangesehen hat, wie unmittelbar vor ihm sein Ehegatte auf der fraglichen mobilen Treppe beinahe zu Fall gekommen wäre, als Nachweis einer, sei es auch nur fahrlässigen, unrechtmäßigen Handlung oder Unterlassung des betreffenden Fluggasts im Sinne von Art. 20 Satz 1 des Übereinkommens von Montreal betrifft, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass dieser Fluggast behauptet, aufgrund des beobachteten beinahe erfolgten Sturzes besonders vorsichtig die Treppe herabgestiegen zu sein. Das vorlegende Gericht wird jedoch im Einklang mit der in Rn. 29 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die Bedeutung dieser Aussage anhand der anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften zu prüfen haben.

33      Ferner kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Umstand, dass der verletzte Fluggast darauf verzichtet hat, sich unmittelbar nach dem Unfall einer Behandlung zu unterziehen, zur Verschlimmerung der von ihm erlittenen Körperverletzungen geführt hat. Wie der Generalanwalt in Nr. 76 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist in diesem Zusammenhang allerdings auch zu berücksichtigen, welchen Schweregrad diese Verletzungen unmittelbar nach diesem Unfall zu haben schienen und welche Informationen der Fluggast vom medizinischen Personal vor Ort in Bezug auf das Aufschieben der medizinischen Behandlung oder auf die Möglichkeit, eine solche Behandlung in der Nähe in Anspruch zu nehmen, erhalten hat.

34      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 20 Satz 1 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass ein Luftfahrtunternehmen bei einem Unfall, der einem Fluggast einen Schaden verursacht hat und bei dem Letzterer aus unbestimmtem Grund auf einer für den Ausstieg der Fluggäste eines Luftfahrzeugs bereitgestellten mobilen Treppe gestürzt ist, nur insoweit von seiner Haftung gegenüber diesem Fluggast befreit werden kann, als dieses Luftfahrtunternehmen in Anbetracht sämtlicher Umstände, unter denen dieser Schaden eingetreten ist, gemäß den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften und vorbehaltlich der Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität nachweist, dass im Sinne dieser Bestimmung eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung dieses Fluggasts, sei es auch nur fahrlässig, den diesem entstandenen Schaden verursacht oder dazu beigetragen hat.

 Kosten

35      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen, am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt wurde, ist dahin auszulegen, dass eine Situation, in der ein Fluggast aus unbestimmtem Grund auf einer für den Ausstieg der Fluggäste eines Luftfahrzeugs bereitgestellten mobilen Treppe stürzt und verletzt wird, unter den Begriff „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, und zwar auch dann, wenn das betreffende Luftfahrtunternehmen hierbei nicht gegen seine Sorgfalts- und Verkehrssicherungspflichten verstoßen hat.

2.      Art. 20 Satz 1 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr ist dahin auszulegen, dass ein Luftfahrtunternehmen bei einem Unfall, der einem Fluggast einen Schaden verursacht hat und bei dem Letzterer aus unbestimmtem Grund auf einer für den Ausstieg der Fluggäste eines Luftfahrzeugs bereitgestellten Treppe gestürzt ist, nur insoweit von seiner Haftung gegenüber diesem Fluggast befreit werden kann, als dieses Luftfahrtunternehmen in Anbetracht sämtlicher Umstände, unter denen dieser Schaden eingetreten ist, gemäß den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften und vorbehaltlich der Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität nachweist, dass im Sinne dieser Bestimmung eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung dieses Fluggasts, sei es auch nur fahrlässig, den diesem entstandenen Schaden verursacht oder dazu beigetragen hat.

Jürimäe

Jääskinen

Safjan

Piçarra

 

Gavalec

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 2. Juni 2022.

Der Kanzler

 

Die Präsidentin der Dritten Kammer

A. Calot Escobar

 

K. Jürimäe


*      Verfahrenssprache: Deutsch.