Language of document : ECLI:EU:T:2008:415

Rechtssache T‑69/04

Schunk GmbH et Schunk Kohlenstoff-Technik GmbH

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Wettbewerb − Kartelle − Markt für elektrotechnische und mechanische Kohlenstoff- und Graphitprodukte − Einrede der Rechtswidrigkeit − Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 − Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung − Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen − Schwere und Auswirkung der Zuwiderhandlung − Abschreckungswirkung − Zusammenarbeit während des Verwaltungsverfahrens − Grundsatz der Verhältnismäßigkeit − Grundsatz der Gleichbehandlung − Gegenantrag auf Erhöhung der Geldbuße“

Leitsätze des Urteils

1.      Gemeinschaftsrecht – Allgemeine Rechtsgrundsätze – Rechtssicherheit – Gesetzmäßigkeit der Strafen

2.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Ermessen der Kommission nach Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 – Kein Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

3.      Wettbewerb – Geldbußen – Eigene Befugnis der Kommission aus dem Vertrag

(Art. 81 EG, 82 EG, 83 Abs. 1 und 2 Buchst. a und d EG, 202 dritter Gedankenstrich EG und 211 erster Gedankenstrich EG; Verordnung Nr. 17 des Rates)

4.      Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Zuwiderhandlungen – Zurechnung – Muttergesellschaft und Tochtergesellschaften – Wirtschaftliche Einheit – Beurteilungskriterien

(Art. 81 Abs. 1 EG)

5.      Nichtigkeitsklage – Gründe – Bestreiten des Sachverhalts, der in einer einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln ahndenden Entscheidung festgestellt wird – Zulässigkeit – Voraussetzung – Kein Einräumen des Sachverhalts im Verwaltungsverfahren

(Art. 230 EG)

6.      Wettbewerb – Kartelle – Abgestimmte Verhaltensweise – Begriff

(Art. 81 Abs. 1 EG)

7.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

8.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Festsetzung der Preise – Verpflichtung der Kommission, sich bei der Beurteilung der Auswirkungen einer Zuwiderhandlung auf den Wettbewerb zu beziehen, der ohne Zuwiderhandlung geherrscht hätte

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 A)

9.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Einteilung der betroffenen Unternehmen in Kategorien mit einem spezifischen Ausgangsbetrag

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 A)

10.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Abschreckungswirkung – Allgemeines Erfordernis, von dem sich die Kommission bei der gesamten Bußgeldberechnung leiten lassen muss

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 A)

11.    Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Anwendung durch die Kommission – Selbständigkeit gegenüber den Beurteilungen der Behörden von Drittstaaten

(Art. 3 Abs. 1 Buchst. g EG und 81 EG)

12.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für eine Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens

(Verordnung Nr. 17 des Rates; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

13.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Ermessen der Kommission – Gerichtliche Nachprüfung – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung

(Art. 229 EG, 230 EG und 231 EG; Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 17; Verfahrensordnung des Gerichts)

1.      Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen ist ein Korrelat des Grundsatzes der Rechtssicherheit, bei dem es sich um einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts handelt und der insbesondere verlangt, dass jede Gemeinschaftsregelung, insbesondere wenn sie die Verhängung von Sanktionen vorschreibt oder gestattet, klar und bestimmt ist, damit die Betroffenen ihre Rechte und Pflichten unzweideutig erkennen und somit ihre Vorkehrungen treffen können. Dieser Grundsatz, der zu den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten gehört und in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen, u. a. in Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention, verankert wurde, ist sowohl bei Normen mit strafrechtlichem Charakter als auch bei spezifischen verwaltungsrechtlichen Regelungen zu beachten, die die Verhängung von Sanktionen durch die Verwaltung vorschreiben oder gestatten. Er gilt nicht nur für Normen, die die Bestandteile einer Zuwiderhandlung festlegen, sondern auch für diejenigen, die die Folgen einer Zuwiderhandlung gegen Erstere regeln. Insoweit geht aus Art. 7 Abs. 1 der Konvention hervor, dass die Zuwiderhandlungen und die Strafen, mit denen sie bedroht sind, gesetzlich klar definiert sein müssen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Bürger dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmung, gegebenenfalls anhand ihrer Auslegung durch die Gerichte, entnehmen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Haftung auslösen.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist es zur Erfüllung der Anforderungen dieser Bestimmung nicht erforderlich, dass die Vorschriften, aufgrund deren die Sanktionen verhängt werden, so genau formuliert sind, dass die möglichen Folgen eines Verstoßes gegen sie mit absoluter Gewissheit vorhersehbar sind. Nach dieser Rechtsprechung führt die Existenz vager Begriffe in einer Bestimmung nämlich nicht zwangsläufig zu einem Verstoß gegen Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention, und die Tatsache, dass ein Gesetz ein Ermessen verleiht, verletzt als solche nicht das Erfordernis der Vorhersehbarkeit, sofern der Umfang und die Modalitäten der Ausübung eines solchen Ermessens im Hinblick auf das in Rede stehende legitime Ziel hinreichend deutlich festgelegt sind, um dem Einzelnen angemessenen Schutz vor Willkür zu gewähren. Dabei berücksichtigt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte neben dem Wortlaut des Gesetzes die Frage, ob die verwendeten unbestimmten Begriffe durch eine ständige und veröffentlichte Rechtsprechung präzisiert wurden. Im Übrigen führt die Berücksichtigung der gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten nicht zu einer anderen Auslegung des allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts, um den es sich bei dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen handelt.

(vgl. Randnrn. 28-29, 32-34)

2.      Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17, der die Verhängung von Geldbußen für Unternehmen betrifft, die Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft begangen haben, verstößt nicht gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen.

Die Kommission verfügt nämlich bei der Festsetzung von Geldbußen nicht über ein unbegrenztes Ermessen, denn sie muss die anhand des Umsatzes der betreffenden Unternehmen festgelegte Obergrenze beachten und Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung berücksichtigen. Zudem ist die Obergrenze von 10 % des Umsatzes des betroffenen Unternehmens in Anbetracht der Interessen, die die Kommission im Rahmen der Verfolgung und der Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln verteidigt, und angesichts dessen, dass Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 die Schaffung eines Systems erlaubt, das den grundlegenden Aufgaben der Gemeinschaft entspricht, angemessen. Ferner hat die Kommission bei der Festsetzung von Geldbußen die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Im Übrigen hat die Kommission unter der unbeschränkten Kontrolle durch den Gemeinschaftsrichter eine bekannte und zugängliche Verwaltungspraxis entwickelt, die zwar nicht den rechtlichen Rahmen für Geldbußen bildet, aber als Bezugspunkt für die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung dienen kann, wobei eine Anhebung des Niveaus der Geldbußen innerhalb der durch Art. 15 Abs. 2 festgelegten Grenzen jederzeit möglich bleibt, wenn die wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln dies verlangt. Außerdem hat die Kommission Leitlinien für die Festsetzung der Geldbußen erlassen, so dass sie selbst die Ausübung ihres Ermessens beschränkt und damit zur Rechtssicherheit beigetragen hat, und muss die Grundsätze der Gleichbehandlung und des Vertrauensschutzes beachten. Darüber hinaus war der Erlass der Leitlinien, da er sich in den durch Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 vorgegebenen rechtlichen Rahmen einfügte, nur ein Beitrag zur Klarstellung der Grenzen für die Ausübung des der Kommission durch diese Bestimmung bereits eingeräumten Ermessens, ohne dass daraus gefolgert werden kann, dass die Grenzen der Zuständigkeit der Kommission auf dem fraglichen Gebiet vom Gemeinschaftsgesetzgeber ursprünglich unzureichend bestimmt worden waren. Schließlich ist die Kommission nach Art. 253 EG verpflichtet, Entscheidungen, mit denen eine Geldbuße festgesetzt wird, zu begründen.

(vgl. Randnrn. 35-36, 38-44, 46)

3.      Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Befugnis, bei Verstößen gegen die Art. 81 EG und 82 EG Geldbußen zu verhängen, ursprünglich dem Rat zustand, der sie auf die Kommission übertragen oder diese im Sinne von Art. 202 dritter Gedankenstrich EG mit der Durchführung betraut hätte. Nach den Art. 83 Abs. 1 und 2 Buchst. a und d EG sowie 211 erster Gedankenstrich EG gehört diese Befugnis zur Rolle der Kommission, über die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu wachen, wobei diese Rolle in Bezug auf die Anwendung der Art. 81 EG und 82 EG durch die Verordnung Nr. 17 präzisiert, umrahmt und formalisiert wurde. Die der Kommission durch diese Verordnung eingeräumte Befugnis zur Verhängung von Geldbußen ergibt sich somit aus den Bestimmungen des Vertrags selbst und soll die effektive Anwendung der in den genannten Artikeln vorgesehenen Verbote ermöglichen.

(vgl. Randnrn. 48-49)

4.      Das wettbewerbswidrige Verhalten eines Unternehmens, das sein Marktverhalten nicht selbständig bestimmt, sondern vor allem wegen der wirtschaftlichen und rechtlichen Bindungen zu einem anderen Unternehmen im Wesentlichen dessen Weisungen befolgt hat, kann dem anderen Unternehmen zugerechnet werden. Das Verhalten einer Tochtergesellschaft kann daher der Muttergesellschaft zugerechnet werden, wenn die Tochtergesellschaft ihr Vorgehen auf dem Markt nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt, und diese beiden Unternehmen eine wirtschaftliche Einheit bilden.

In dem speziellen Fall, dass ein Mutterunternehmen 100 % des Kapitals seines Tochterunternehmens hält, das eine Zuwiderhandlung begangen hat, besteht eine einfache Vermutung, dass dieses Mutterunternehmen einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten seines Tochterunternehmens ausübt und dass beide daher ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG darstellen. Wenn die Muttergesellschaft vor dem Gemeinschaftsrichter gegen eine Entscheidung der Kommission vorgeht, mit der ihr für ein Verhalten ihrer Tochtergesellschaft eine Geldbuße auferlegt wird, obliegt es damit ihr, diese Vermutung durch Beweise zu entkräften, die geeignet sind, die Selbständigkeit ihrer Tochtergesellschaft zu belegen.

Die Tatsache, dass eine Muttergesellschaft, die 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft hält, eine Holdinggesellschaft ist, reicht nicht aus, um die funktionelle Unabhängigkeit der Tochtergesellschaft und die Unabhängigkeit ihrer Organe zu belegen. Unter den Begriff der Holding fallen nämlich unterschiedliche Sachverhalte. Allgemein kann eine Holding definiert werden als eine Gesellschaft, die an einer oder mehreren Gesellschaften Beteiligungen hält, um sie zu kontrollieren. Eine Holding, die den Erwerb, die Veräußerung, die Verwaltung, insbesondere die strategische Führung industrieller Beteiligungen, zum Gegenstand hat, kann eine Finanzholding ohne jede Herstellungs- oder Vertriebstätigkeit sein oder eine Gesellschaft, die Tochtergesellschaften führt und leitet. Im Rahmen einer Unternehmensgruppe soll eine Holding die Beteiligungen an verschiedenen Gesellschaften bündeln und fungiert als deren Leitungsinstanz. Möglich ist auch, dass eine Leitungsinstanz und Instanz zur Koordinierung zwischen der Holding und ihrer Tochtergesellschaft besteht, was auf eine Berücksichtigung der Interessen der Gruppe hindeuten kann. Die Tatsache, dass eine Gesellschaft eine Holding ist, deren Rolle in der Verwaltung ihrer Kapitalbeteiligungen an anderen Gesellschaften besteht, reicht daher für sich allein nicht aus, um die Vermutung zu entkräften, die dadurch begründet wurde, dass sie 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft hält.

(vgl. Randnrn. 55-56, 59-64, 66, 70)

5.      Die Mitteilung der Beschwerdepunkte, durch die den Unternehmen, an die sie gerichtet ist, die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte gewährleistet werden soll, bewirkt eine Eingrenzung des Gegenstands des gegen ein Unternehmen eingeleiteten Verfahrens, da in ihr die Haltung der Kommission gegenüber dem Unternehmen festgelegt wird und die Kommission nicht berechtigt ist, in ihrer Entscheidung Beschwerdepunkte heranzuziehen, die in der Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht erwähnt sind.

Die Kommission hat ihre Haltung für den weiteren Verlauf des Verwaltungsverfahrens insbesondere auf der Grundlage der Antworten festzulegen, die von den Unternehmen, an die die Mitteilung der Beschwerdepunkte gerichtet ist, auf diese gegeben wurden.

In diesem Zusammenhang muss die Kommission den Sachverhalt nachweisen, wenn das im Rahmen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln beschuldigte Unternehmen ihn nicht ausdrücklich einräumt, und dem Unternehmen steht es frei, zu gegebener Zeit und insbesondere im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens alle ihm zweckdienlich erscheinenden Verteidigungsmittel vorzubringen. Umgekehrt kann dies nicht der Fall sein, wenn das betreffende Unternehmen den Sachverhalt einräumt.

Eine solche Lösung zielt nicht darauf ab, die Möglichkeit für ein von der Kommission mit einer Sanktion belegtes Unternehmen zur Klageerhebung zu beschränken; vielmehr soll sie klarstellen, in welchem Umfang eine Anfechtung vor dem Gemeinschaftsrichter möglich ist, um eine Verlagerung der Feststellung des Sachverhalts der fraglichen Zuwiderhandlung von der Kommission auf den Gemeinschaftsrichter zu verhindern, der im Rahmen einer Klage nach Art. 230 EG dafür zuständig ist, die Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen.

(vgl. Randnrn. 80-81, 84-85)

6.      Schon nach dem Wortlaut von Art. 81 Abs. 1 EG setzt eine abgestimmte Verhaltensweise über die Abstimmung zwischen den Unternehmen hinaus ein dieser entsprechendes Marktverhalten und einen ursächlichen Zusammenhang zwischen beiden voraus. Vorbehaltlich des den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern obliegenden Gegenbeweises gilt die Vermutung, dass die an der Abstimmung beteiligten und weiterhin auf dem Markt tätigen Unternehmen die mit ihren Mitbewerbern ausgetauschten Informationen bei der Bestimmung ihres Marktverhaltens berücksichtigen.

(vgl. Randnr. 118)

7.      Im Rahmen der Bemessung einer Geldbuße wegen eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln ist die Schwere einer Zuwiderhandlung unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Faktoren zu ermitteln, zu denen u. a. die besonderen Umstände der Rechtssache, ihr Kontext und die Abschreckungswirkung der Geldbußen gehören und hinsichtlich deren die Kommission über ein Ermessen verfügt. Daher ist die Kommission berechtigt, bei der Beurteilung der Schwere einer Zuwiderhandlung den Umstand, dass die betreffenden Unternehmen weitreichende Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatten, um die Aufdeckung des Kartells zu verhindern, sowie die Schädigung der Allgemeinheit zu berücksichtigen.

Was diese Schädigung angeht, werden der Wettbewerb und die Verbraucher nicht durch alle Wettbewerbsverstöße in gleicher Weise geschädigt. Die Schädigung der Allgemeinheit wird im Rahmen der Bestimmung der Schwere einer Zuwiderhandlung anders berücksichtigt als die wirtschaftliche Fähigkeit eines Kartellmitglieds, den Wettbewerb und die Verbraucher zu schädigen, der im Rahmen eines in den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 § 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, vorgesehenen Schritts bei der Bemessung der Geldbuße Rechnung getragen wird und die insbesondere dann zu einer differenzierten Behandlung führen soll, wenn mehrere Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt sind.

(vgl. Randnrn. 153-154, 156)

8.      Bei der Beurteilung der konkreten Auswirkung einer Zuwiderhandlung auf den Markt muss sich die Kommission auf den Wettbewerb beziehen, der normalerweise ohne die Zuwiderhandlung geherrscht hätte.

Im Fall einer Preisabsprache darf die Kommission annehmen, dass die Zuwiderhandlung Auswirkungen hatte, wenn die Kartellmitglieder Maßnahmen zur Anwendung der vereinbarten Preise trafen, indem sie diese z. B. den Kunden ankündigten, ihre Mitarbeiter anwiesen, sie als Verhandlungsgrundlage zu benutzen, und die Anwendung durch ihre Konkurrenten sowie ihren eigenen Vertrieb überwachten. Um auf eine Auswirkung auf den Markt schließen zu können, genügt es nämlich, dass die vereinbarten Preise als Grundlage für die Festlegung individueller Transaktionspreise dienten und damit den Verhandlungsspielraum der Kunden einschränkten.

Dagegen kann, wenn die Umsetzung eines Kartells erwiesen ist, von der Kommission nicht verlangt werden, systematisch darzulegen, dass die Vereinbarungen es den betreffenden Unternehmen tatsächlich ermöglichten, ein höheres Niveau der Transaktionspreise als ohne Kartell zu erzielen. Insoweit kann der These, bei der Ermittlung der Schwere der Zuwiderhandlung könne nur berücksichtigt werden, dass ohne Absprache ein anderes Niveau der Transaktionspreise bestanden hätte, nicht gefolgt werden. Im Übrigen wäre es unverhältnismäßig, eine solche Darlegung zu verlangen, die beträchtliche Ressourcen in Anspruch nehmen würde, weil sie den Rückgriff auf hypothetische Berechnungen anhand wirtschaftlicher Modelle erfordern würde, deren Genauigkeit nur schwer gerichtlich nachprüfbar und deren Unfehlbarkeit keineswegs erwiesen ist.

Bei der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung ist entscheidend, ob die Kartellmitglieder alles in ihrer Macht Stehende taten, damit ihre Pläne konkrete Auswirkungen hatten. Sie können externe Faktoren, die ihre Bemühungen durchkreuzten, nicht zu ihren Gunsten anführen und zu Umständen umdeuten, die eine Herabsetzung der Geldbuße rechtfertigen.

Die Kommission ist somit berechtigt, aus der Umsetzung des Kartells auf das Vorliegen einer Auswirkung auf den Markt zu schließen, ohne dass diese Auswirkung genau quantifiziert werden müsste.

Die Einstufung einer Zuwiderhandlung als „besonders schwerwiegend“ kann auch dann noch angemessen sein, wenn die Kommission eine konkrete Auswirkung des Kartells nicht in rechtlich hinreichender Weise nachweist. Die drei Aspekte, die nach den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 § 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, bei der Bewertung der Schwere des Verstoßes zu berücksichtigen sind – die Art des Verstoßes, seine konkreten Auswirkungen auf den Markt, sofern diese messbar sind, sowie der Umfang des betreffenden räumlichen Markts –, haben nämlich im Rahmen der Gesamtprüfung nicht das gleiche Gewicht. Die Art der Zuwiderhandlung spielt insbesondere bei der Einstufung der Zuwiderhandlungen als „besonders schwer“ eine vorrangige Rolle. Insoweit ergibt sich aus der Beschreibung der besonders schweren Verstöße in den genannten Leitlinien, dass Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen, die insbesondere auf die Festsetzung der Preise abzielen, allein schon aufgrund ihrer Natur als „besonders schwerwiegend“ eingestuft werden können, ohne dass diese Verhaltensweisen durch eine besondere Auswirkung oder einen besonderen räumlichen Umfang gekennzeichnet zu sein brauchen. Dieses Ergebnis wird dadurch bestätigt, dass zwar in der Beschreibung der schweren Verstöße ausdrücklich erwähnt wird, dass sie Auswirkungen auf den Markt haben und in einem größeren Teil des Gemeinsamen Markts zum Tragen kommen, die Beschreibung der besonders schweren Verstöße aber kein Erfordernis konkreter Auswirkungen auf den Markt oder auf ein besonderes geografisches Gebiet enthält.

(vgl. Randnrn. 165-169, 171)

9.      Die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 § 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, sehen für die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung im Rahmen der Festsetzung der Höhe der Geldbuße die Berücksichtigung zahlreicher Faktoren vor, darunter die Art der Zuwiderhandlung, ihre konkreten Auswirkungen, der räumliche Umfang des betroffenen Marktes und die erforderliche Abschreckungskraft der Geldbuße. Auch wenn die Leitlinien nicht vorsehen, dass die Geldbußen anhand des Gesamtumsatzes oder des relevanten Umsatzes berechnet werden, schließen sie nicht aus, dass diese Umsätze bei der Bemessung der Geldbuße berücksichtigt werden, damit die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts gewahrt bleiben und wenn die Umstände es erfordern.

Nach Nr. 1 Teil A Abs. 4 und 6 der Leitlinien kann die Kommission bei einem rechtswidrigen Kartell angesichts der beträchtlichen Größenunterschiede zwischen den beteiligten Unternehmen zu dem Zweck, das Gewicht jedes einzelnen Unternehmens und damit die tatsächliche Auswirkung der individuellen Zuwiderhandlung auf den Wettbewerb zu berücksichtigen, zwischen den an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen differenzieren. Sie kann sie hierzu in mehrere Kategorien einteilen und dabei den Umsatz heranziehen, den jedes Unternehmen mit den in Rede stehenden Produkten erzielte, und insbesondere den Wert des Eigenverbrauchs einbeziehen. Hieraus ergibt sich ein Marktanteil, der die Bedeutung der Beteiligung der einzelnen Unternehmen an der Zuwiderhandlung erkennen lässt und Aufschluss über ihre tatsächliche wirtschaftliche Fähigkeit gibt, den Wettbewerb erheblich zu schädigen.

(vgl. Randnrn. 176-177)

10.    Die in Art. 15 der Verordnung Nr. 17 vorgesehenen Sanktionen dienen sowohl dazu, unerlaubte Verhaltensweisen zu ahnden, als auch dazu, ihrer Wiederholung vorzubeugen. Da die Abschreckung somit einen Zweck der Geldbußen wegen Verletzung der Wettbewerbsregeln darstellt, ist das Erfordernis ihrer Gewährleistung ein allgemeines Erfordernis, von dem sich die Kommission bei der gesamten Bußgeldberechnung leiten lassen muss, so dass diese Berechnung nicht zwingend einen speziellen Abschnitt umfassen muss, der zur Gesamtbeurteilung aller für die Verwirklichung dieses Zweckes relevanten Umstände dient.

Die Kommission hat für die Berücksichtigung des Abschreckungszwecks in den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 § 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, keine individualisierten Methoden oder Kriterien festgelegt, deren Einzeldarstellung verbindlich sein könnte. In Nr. l Teil A Abs. 4 der Leitlinien heißt es im Kontext der Ausführungen über die Bewertung der Schwere eines Verstoßes nur, dass es nötig sei, die Geldbuße auf einen Betrag festzusetzen, der eine hinreichend abschreckende Wirkung entfalte.

(vgl. Randnrn. 191-193)

11.    Die Ausübung der Befugnisse der mit dem Schutz des freien Wettbewerbs betrauten Behörden von Drittstaaten im Rahmen ihrer örtlichen Zuständigkeit muss den dort bestehenden Anforderungen genügen. Die den Rechtsordnungen anderer Staaten im Bereich des Wettbewerbs zugrunde liegenden Elemente enthalten nämlich nicht nur spezielle Zwecke und Zielsetzungen, sondern führen auch zum Erlass besonderer materieller Vorschriften sowie zu ganz unterschiedlichen Rechtsfolgen im Bereich des Verwaltungs-, Straf- oder Zivilrechts, wenn die Behörden der genannten Staaten das Vorliegen von Zuwiderhandlungen gegen die anwendbaren Wettbewerbsregeln festgestellt haben. Ganz anders ist die Rechtslage dagegen, wenn auf ein Unternehmen im Bereich des Wettbewerbs ausschließlich das Gemeinschaftsrecht und das Recht eines oder mehrerer Mitgliedstaaten zur Anwendung kommt, d. h., wenn sich ein Kartell ausschließlich auf den räumlichen Anwendungsbereich der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft beschränkt.

Daraus folgt, dass die Kommission, wenn sie das rechtswidrige Verhalten eines Unternehmens ahndet – auch wenn dieses Verhalten seinen Ursprung in einem Kartell mit internationalem Charakter hat –, zum Schutz des freien Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Markts tätig wird, der nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. g EG ein grundlegendes Ziel der Gemeinschaft darstellt. Aufgrund des speziellen Charakters des auf Gemeinschaftsebene geschützten Rechtsguts können die Beurteilungen, die die Kommission kraft ihrer einschlägigen Befugnisse vornimmt, erheblich von den Beurteilungen durch die Behörden von Drittstaaten abweichen.

Erwägungen, die auf der Existenz der von den Behörden eines Drittstaats verhängten Geldbußen beruhen, können nur im Rahmen des Ermessens berücksichtigt werden, über das die Kommission bei der Festsetzung von Geldbußen wegen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft verfügt. Folglich kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass die Kommission Geldbußen berücksichtigt, die zuvor von den Behörden von Drittstaaten verhängt wurden, doch ist sie dazu nicht verpflichtet.

Das Abschreckungsziel, das die Kommission bei der Bemessung einer Geldbuße verfolgen darf, besteht nämlich darin, zu gewährleisten, dass die Unternehmen die im EG-Vertrag für ihre Tätigkeiten innerhalb des Gemeinsamen Markts festgelegten Wettbewerbsregeln beachten. Folglich ist die Kommission bei der Beurteilung der Abschreckungswirkung einer wegen eines Verstoßes gegen diese Regeln zu verhängenden Geldbuße nicht verpflichtet, etwaige Sanktionen zu berücksichtigen, die gegen ein Unternehmen wegen Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln von Drittstaaten verhängt wurden.

(vgl. Randnrn. 205-209)

12.    Der Kommission steht hinsichtlich der Methode für die Berechnung von Geldbußen wegen Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft ein weites Ermessen zu; sie kann insoweit eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigen, zu denen auch die Kooperationsbeiträge der betroffenen Unternehmen während der von den Dienststellen der Kommission durchgeführten Untersuchungen gehören. Außerdem verfügt die Kommission bei der Beurteilung der Qualität und der Nützlichkeit des Kooperationsbeitrags eines Unternehmens, insbesondere im Vergleich zu den Beiträgen anderer Unternehmen, über einen weiten Wertungsspielraum.

Die Herabsetzung von Geldbußen im Fall der Kooperation von Unternehmen beruht auf der Erwägung, dass eine solche Kooperation der Kommission die Aufgabe erleichtert, eine Zuwiderhandlung festzustellen und ihr gegebenenfalls ein Ende zu setzen.

Im Rahmen einer Gesamtwürdigung kann die Kommission den Umstand berücksichtigen, dass ein Unternehmen ihr erst nach Erhalt eines Auskunftsverlangens Unterlagen zur Verfügung gestellt hat, wobei sie diesen Umstand jedoch nicht als ausschlaggebend dafür ansehen darf, die Kooperation eines Unternehmens gemäß Abschnitt D Nr. 2 erster Gedankenstrich der Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen geringer zu bewerten.

(vgl. Randnrn. 211-212, 225, 234)

13.    Das Gericht hat im Rahmen der ihm durch Art. 229 EG und Art. 17 der Verordnung Nr. 17 eingeräumten Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung zu beurteilen, ob die Höhe der Geldbußen wegen Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft angemessen ist. Im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung kann der Gemeinschaftsrichter nämlich nicht nur, wie in Art. 231 EG vorgesehen, die angefochtene Entscheidung für nichtig erklären, sondern er kann auch die darin verhängte Sanktion abändern. Der Gemeinschaftsrichter ist daher befugt, über die reine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Sanktion hinaus die Beurteilung der Kommission durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen und demgemäß die verhängte Geldbuße oder das verhängte Zwangsgeld aufzuheben, herabzusetzen oder zu erhöhen.

Auch wenn die Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung meist von den Klägern beantragt wird, um eine Herabsetzung der Geldbuße zu erreichen, kann die Kommission den Gemeinschaftsrichter ebenfalls mit der Frage der Höhe der Geldbuße befassen und deren Erhöhung beantragen, zumal eine solche Möglichkeit in Abschnitt E Nr. 4 der Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen ausdrücklich vorgesehen ist.

Die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung kann von den Gemeinschaftsgerichten nur im Rahmen der Kontrolle von Handlungen der Gemeinschaftsorgane, insbesondere im Rahmen der Nichtigkeitsklage, ausgeübt werden, da Art. 229 EG nur eine Erweiterung des Umfangs der Befugnisse des Gemeinschaftsrichters in Verfahren nach Art. 230 EG zur Folge hat. Ein Antrag der Kommission auf Erhöhung der Geldbuße ist daher nicht mit Art. 230 EG unvereinbar.

In Anbetracht der Befugnis des Gemeinschaftsrichters zur Erhöhung einer Geldbuße ist ein Gegenantrag der Kommission, die einem Unternehmen wegen seiner Zusammenarbeit im Verwaltungsverfahren gewährte Herabsetzung der Geldbuße aufzuheben, weil es den in der Mitteilung der Beschwerdepunkte dargelegten Sachverhalt erstmals vor Gericht bestritten habe, für zulässig zu erklären.

Ein solcher Antrag ist jedoch insbesondere deshalb zurückzuweisen, weil die Höhe der Geldbuße nur anhand der Schwere und der Dauer eines Verstoßes festgesetzt werden kann und der Umstand, dass die Kommission gezwungen ist, eine Verteidigung gegen das Bestreiten von Tatsachen auszuarbeiten, von denen sie mit gutem Grund angenommen hatte, dass sie nicht mehr in Frage gestellt würden, nicht als Grundlage für eine Erhöhung der Geldbuße dienen kann. Die der Kommission durch das gerichtliche Verfahren entstandenen Kosten sind kein Kriterium für die Bemessung der Geldbuße und dürfen nur im Rahmen der Anwendung der Vorschriften der Verfahrensordnung des Gerichts über die Kostenerstattung berücksichtigt werden.

(vgl. Randnrn. 242-247, 251, 259, 262)