Language of document : ECLI:EU:T:2009:520

Rechtssache T-58/01

Solvay SA

gegen

Europäische Kommission

„Wettbewerb – Kartelle – Sodamarkt in der Gemeinschaft – Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen Art. 81 EG festgestellt wird – Vereinbarung, mit der einem Unternehmen eine Mindestabsatzmenge in einem Mitgliedstaat und der Aufkauf der Fehlmengen garantiert werden – Verjährung der Befugnis der Kommission, Geldbußen oder Sanktionen zu verhängen – Angemessene Verfahrensdauer – Wesentliche Formvorschriften – Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten – Recht auf Akteneinsicht – Geldbuße – Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung – Erschwerende und mildernde Umstände“

Leitsätze des Urteils

1.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Verfolgungsverjährung – Ruhen – Entscheidung der Kommission, die Gegenstand eines Verfahrens vor dem Gerichtshof ist – Tragweite

(Verordnung Nr. 2988/74 des Rates, Art. 3)

2.      Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer – Geltungsbereich – Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Gerichtliches Verfahren – Unterscheidung für die Zwecke der Beurteilung der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer

(Verordnung Nr. 17 des Rates)

3.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Verpflichtungen der Kommission – Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer

(Verordnung Nr. 17 des Rates)

4.      Kommission – Kollegialprinzip – Tragweite – Wettbewerbsrechtliche Entscheidung

(Fusionsvertrag, Art. 17)

5.      Einrede der Rechtswidrigkeit – Tragweite – Handlungen, deren Rechtswidrigkeit geltend gemacht werden kann – Geschäftsordnung eines Organs

(Art. 241 EG)

6.      Handlungen der Organe – Feststellung der gefassten Beschlüsse – Modalitäten

(Geschäftsordnung der Kommission von 1999, Art. 16 Abs. 1)

7.      Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Geltungsbereich – Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Tragweite des Grundsatzes nach Nichtigerklärung einer ersten Entscheidung der Kommission

(Art. 81 Abs. 1 EG)

8.      Wettbewerb – Kartelle – Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten

(Art. 81 Abs. 1 EG)

9.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Akteneinsicht – Umfang – Weigerung, ein Dokument zu übermitteln – Folgen

10.    Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Akteneinsicht – Zweck – Unterbliebene Offenlegung von Schriftstücken, die sich im Besitz der Kommission befinden – Würdigung durch das Gericht im Hinblick auf die Wahrung der Verteidigungsrechte im jeweiligen Fall

11.    Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Verletzung der Verteidigungsrechte – Nicht ordnungsgemäße Akteneinsicht – Gewährung der Einsicht im Gerichtsverfahren

12.    Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt und eine Geldbuße verhängt wird – Nichtigerklärung wegen eines Verfahrensfehlers

(Verordnung Nr. 17 des Rates)

13.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Beurteilung – Aufteilung des Marktes – Zuwiderhandlung, die unabhängig von ihrem geheimen Charakter als schwerwiegend eingestuft werden kann

(Art. 81 Abs. 1 EG; Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2)

14.    Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Beweislast der Kommission für die Zuwiderhandlung und ihre Dauer

(Art. 81 Abs. 1 EG; Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2)

15.    Wettbewerb – Beherrschende Stellung – Kennzeichnung durch das Innehaben eines besonders hohen Marktanteils

(Art. 82 EG)

16.    Verfahren – Klageschrift – Formerfordernisse – Kurze Darstellung der Klagegründe

(Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 44 § 1 Buchst. c)

17.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Mildernde Umstände – Zusammenarbeit des Unternehmens bei Nachprüfungen durch Bedienstete der Kommission – Ausschluss

(Art. 81 Abs. 1 EG; Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 14)

18.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Abschreckender Charakter

(Art. 81 Abs. 1 EG; Verordnung Nr. 17 des Rates, Art. 15 Abs. 2)

1.      Nach Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/74 über die Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung im Wettbewerbsrecht ruht die Verfolgungsverjährung, solange wegen einer Entscheidung der Kommission „ein Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhängig ist“. Diese Bezugnahme ist so zu verstehen, dass damit seit der Errichtung des Gerichts erster Instanz in erster Linie ein bei diesem anhängiges Verfahren gemeint ist, da Klagen gegen Sanktionen oder Geldbußen im Bereich des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft in seine Zuständigkeit fallen.

Die Verjährung ruht auch während der Dauer eines Rechtsmittelverfahrens vor dem Gerichtshof. Da Art. 60 der Satzung des Gerichtshofs und Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/74 einen unterschiedlichen Anwendungsbereich haben, kann der Umstand, dass ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat, Art. 3 der genannten Verordnung, der Situationen betrifft, in denen die Kommission die Entscheidung des Gemeinschaftsrichters abwarten muss, nicht jede Wirksamkeit nehmen. Außerdem schützt Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/74 die Kommission vor dem Eintritt der Verjährung in Situationen, in denen sie im Rahmen von Verfahren, deren Ablauf sie nicht steuern kann, die Entscheidung des Gemeinschaftsrichters abwarten muss, bevor sie erfährt, ob die angefochtene Handlung rechtswidrig ist. Das Argument, dass die Errichtung von zwei Rechtszügen es nicht erlaube, den Zeitraum des Ruhens der Verjährung auszudehnen, greift daher nicht durch. Das Ruhen der Verjährung ermöglicht der Kommission nur, eventuell eine neue Entscheidung zu erlassen, falls das Rechtsmittel gegen ein Urteil des Gerichts, mit dem eine Entscheidung der Kommission für nichtig erklärt wird, zurückgewiesen wird. Es wirkt sich in keiner Weise auf die Entscheidung aus, die mit dem Urteil des Gerichts für nichtig erklärt worden ist. Im Fall der Einlegung eines Rechtsmittels ist die Kommission zwar formell nicht daran gehindert, nach der Nichtigerklärung der ursprünglichen Entscheidung durch das Gericht tätig zu werden und eine neue Entscheidung zu erlassen. Jedoch ruht bei einer Klage gegen eine mit Sanktionen verbundene Entscheidung die Verfolgungsverjährung, bis der Gemeinschaftsrichter endgültig über diese Klage entschieden hat. Müsste die Kommission nach der Nichtigerklärung einer Entscheidung durch das Gericht eine neue Entscheidung erlassen, ohne das Urteil des Gerichtshofs abzuwarten, bestünde die Gefahr, dass zwei Entscheidungen mit demselben Gegenstand nebeneinander bestehen, falls der Gerichtshof das Urteil des Gerichts aufheben sollte. Es widerspricht offensichtlich den Erfordernissen der Ökonomie des Verwaltungsverfahrens, die Kommission, nur um den Eintritt der Verjährung zu verhindern, zum Erlass einer neuen Entscheidung zu verpflichten, bevor sie weiß, ob die ursprüngliche Entscheidung rechtswidrig ist.

Schließlich kann, da die Verjährung gemäß Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/74 während der gesamten Dauer des Rechtsmittelverfahrens vor dem Gerichtshof ruht, der Kommission eine Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer nicht allein deswegen vorgeworfen werden, weil sie das Urteil des Gerichtshofs im Rahmen dieses Rechtsmittels abwartet, bevor sie eine neue Entscheidung erlässt.

(vgl. Randnrn. 73, 79-80, 83-84, 86-89, 102)

2.      Im Rahmen der Prüfung der Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer ist zwischen dem im Bereich des Wettbewerbs gemäß der Verordnung Nr. 17 eingeleiteten Verwaltungsverfahren und dem gerichtlichen Verfahren im Fall einer Klage gegen die Entscheidung der Kommission zu unterscheiden. Der Zeitraum, in dem der Gemeinschaftsrichter die Rechtmäßigkeit der Entscheidung und, im Fall des Rechtsmittels, die Gültigkeit des Urteils im ersten Rechtszug geprüft hat, kann bei der Bestimmung der Dauer des Verfahrens vor der Kommission nicht berücksichtigt werden.

(vgl. Randnr. 105)

3.      Ein Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer beim Erlass einer Entscheidung nach Abschluss eines Verwaltungsverfahrens im Bereich des Wettbewerbs rechtfertigt die Nichtigerklärung einer von der Kommission erlassenen Entscheidung nur, soweit damit auch die Verteidigungsrechte des betroffenen Unternehmens verletzt wurden. Wenn nämlich nicht erwiesen ist, dass die übermäßig lange Verfahrensdauer die Möglichkeit für die betroffenen Unternehmen, sich wirksam zu verteidigen, beeinträchtigt hat, wirkt sich die Nichtbeachtung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer nicht auf die Rechtsgültigkeit des Verwaltungsverfahrens aus.

(vgl. Randnr. 113)

4.      Das Kollegialprinzip beruht auf der Gleichheit der Mitglieder der Kommission bei der Mitwirkung an der Entscheidungsfindung und bedeutet insbesondere, dass die Entscheidungen gemeinsam beraten werden und dass alle Mitglieder des Kollegiums für sämtliche erlassenen Entscheidungen politisch gemeinsam verantwortlich sind. Die Beachtung dieses Prinzips und insbesondere das Erfordernis, dass die Entscheidungen gemeinsam beraten werden, ist für die von den Rechtswirkungen dieser Entscheidungen betroffenen Rechtssubjekte zwangsläufig insoweit von Interesse, als sie die Gewähr dafür haben müssen, dass die Entscheidungen tatsächlich vom Kollegium getroffen sind und dessen Willen genau entsprechen. Dies gilt insbesondere für die ausdrücklich als Entscheidungen gekennzeichneten Rechtsakte, die die Kommission gegenüber Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen im Interesse der Einhaltung der Wettbewerbsregeln erlässt und mit denen eine Zuwiderhandlung gegen diese Regeln festgestellt, Anordnungen gegenüber diesen Unternehmen erlassen und ihnen finanzielle Sanktionen auferlegt werden können.

Die bloße Tatsache, dass in einer Pressemitteilung, die nicht von der Kommission stammt und keinerlei offiziellen Charakter hat, eine Erklärung eines Sprechers der Kommission erwähnt wird, in der der Zeitpunkt des Erlasses einer Wettbewerbsentscheidung und ihr Inhalt angekündigt werden, kann nicht genügen, um davon auszugehen, dass die Kommission gegen das Kollegialprinzip verstoßen hat. Da eine solche Erklärung das Kollegium der Mitglieder der Kommission nicht bindet, kann es nach einer gemeinsamen Beratung den Beschluss fassen, keine solche Entscheidung zu erlassen.

(vgl. Randnrn. 132-136)

5.      Art. 241 EG ist u. a. auf die Bestimmungen einer Geschäftsordnung eines Organs anzuwenden, die zwar nicht die Rechtsgrundlage der angefochtenen Entscheidung bilden und keine gleichartigen Wirkungen wie die Bestimmungen einer Verordnung im Sinne dieses Artikels entfalten, aber die wesentlichen Formvorschriften festlegen, deren Beachtung für den Erlass dieser Entscheidung erforderlich ist und die deshalb die Rechtssicherheit für die Adressaten dieser Entscheidung gewährleisten. Jeder Adressat einer Entscheidung kann nämlich inzidenter die Rechtswidrigkeit des Rechtsakts geltend machen, von dem die formelle Gültigkeit dieser Entscheidung abhängt, auch wenn der betreffende Rechtsakt nicht die Rechtsgrundlage der Entscheidung ist, sofern der Betroffene nicht die Möglichkeit hatte, die Nichtigerklärung dieses Rechtsakts vor der Mitteilung der streitigen Entscheidung zu beantragen. Infolgedessen kann gegenüber den Bestimmungen der Geschäftsordnung der Kommission eine Einrede der Rechtswidrigkeit erhoben werden, sofern sie dem Schutz des Einzelnen dienen. Die Einrede der Rechtswidrigkeit ist auf das zu beschränken, was für die Entscheidung des Rechtsstreits unerlässlich ist. Da Art. 241 EG nicht den Zweck hat, einer Partei zu gestatten, die Unanwendbarkeit eines Rechtsakts allgemeinen Charakters mit jeder beliebigen Klage geltend zu machen, muss der allgemeine Rechtsakt, dessen Rechtswidrigkeit geltend gemacht wird, zudem unmittelbar oder mittelbar auf den streitgegenständlichen Fall anwendbar sein, und es muss ein unmittelbarer rechtlicher Zusammenhang zwischen der angegriffenen Einzelfallentscheidung und dem betreffenden allgemeinen Rechtsakt bestehen.

(vgl. Randnrn. 146-148)

6.      Art. 16 Abs. 1 der Geschäftsordnung der Kommission von 1999 sieht vor, dass die von der Kommission in einer Sitzung gefassten Beschlüsse in der Sprache oder in den Sprachen, in denen sie verbindlich sind, untrennbar mit der Zusammenfassung verbunden werden müssen, die unmittelbar nach dem Ende der Kommissionssitzung, in der sie angenommen wurden, erstellt wird, und dass diese Beschlüsse durch die Unterschrift des Präsidenten und des Generalsekretärs auf der letzten Seite der Zusammenfassung festgestellt werden. Diese Bestimmung ist nicht rechtswidrig. Die darin festgelegten Förmlichkeiten stehen mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Einklang.

(vgl. Randnrn. 151, 156-157)

7.      Wenn die Kommission nach der Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der Sanktionen gegen Unternehmen verhängt wurden, die gegen Art. 81 Abs. 1 EG verstoßen haben, wegen eines Verfahrensfehlers, der ausschließlich die Modalitäten ihrer endgültigen Annahme durch das Kollegium der Mitglieder der Kommission betrifft, aufgrund der gleichen Beschwerdepunkte eine neue Entscheidung mit einem im Wesentlichen identischen Inhalt erlässt, ist sie nicht verpflichtet, eine erneute Anhörung der betroffenen Unternehmen durchzuführen.

Sie ist auch nicht verpflichtet, eine erneute Anhörung des Beratenden Ausschusses für Kartell- und Monopolfragen durchzuführen, auch wenn zwischen der Anhörung dieses Ausschusses und dem Erlass der neuen Entscheidung mehrere Mitgliedstaaten der Gemeinschaft beigetreten sind und sich die Zusammensetzung des Ausschusses deshalb geändert hat. Eine Änderung in der Zusammensetzung eines Organs lässt nämlich die Kontinuität des Organs selbst unberührt, dessen endgültige oder vorbereitende Handlungen grundsätzlich alle ihre Wirkungen beibehalten. Außerdem gibt es im Gemeinschaftsrecht keinen allgemeinen Grundsatz der Kontinuität der Zusammensetzung des Verwaltungsorgans, das mit einer Sache befasst ist, die zur Verhängung einer Geldbuße führen kann.

Die übrigen Rechtsfragen, die sich im Rahmen der Anwendung von Art. 233 EG stellen können – wie die Fragen nach dem Zeitablauf, der Möglichkeit weiterer Verfolgungsmaßnahmen, einer mit der Wiederaufnahme des Verfahrens verbundenen Akteneinsicht, dem Tätigwerden des Anhörungsbeauftragten sowie etwaigen Auswirkungen von Art. 20 der Verordnung Nr. 17 –, machen ebenfalls keine erneuten Anhörungen erforderlich, da sie den Inhalt der Beschwerdepunkte nicht ändern, die allein gegebenenfalls Gegenstand einer späteren gerichtlichen Überprüfung sein können.

(vgl. Randnrn. 165-166, 183, 188-190)

8.      Eine Vereinbarung zwischen Unternehmen ist geeignet, den innergemeinschaftlichen Handel zu beeinträchtigen, wenn sich anhand einer Gesamtheit objektiver rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen lässt, dass sie die Handelsströme zwischen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell in einem für die Erreichung der Ziele eines einheitlichen zwischenstaatlichen Marktes nachteiligen Sinne beeinflussen kann. Somit liegt im Allgemeinen eine Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Handels vor, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt sind, die für sich allein genommen nicht unbedingt entscheidend sind.

In dieser Hinsicht ist es von geringer Bedeutung, ob der Einfluss eines Kartells auf den Handel ungünstig, neutral oder günstig ist. Eine Handelsbeschränkung beeinträchtigt nämlich den Handel zwischen Mitgliedstaaten, wenn sie geeignet ist, die Handelsströme von der Richtung abzulenken, die sie andernfalls genommen hätten.

Außerdem reicht die Eignung eines Kartells zur Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten, d. h. seine potenzielle Wirkung, aus, damit es in den Anwendungsbereich von Art. 81 EG fällt, und es bedarf keines Nachweises einer tatsächlichen Beeinträchtigung des Handelsverkehrs. Es ist jedoch erforderlich, dass die potenzielle Wirkung des Kartells auf den zwischenstaatlichen Handel spürbar ist, oder mit anderen Worten, dass es nicht geringfügig ist.

Eine Vereinbarung über eine garantierte jährliche Mindestabsatzmenge auf einem nationalen Markt kann definitionsgemäß die Handelsströme von der Richtung ablenken, die sie andernfalls genommen hätten. Sie führt nämlich dazu, dass ein Teil der Produktion, die in andere Mitgliedstaaten hätte exportiert werden können, vom Markt genommen wird.

(vgl. Randnrn. 208-210, 215)

9.      Als Ausfluss des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte bedeutet das Recht auf Akteneinsicht in einem Verwaltungsverfahren zur Anwendung der Wettbewerbsregeln, dass die Kommission dem betroffenen Unternehmen die Möglichkeit gibt, alle Schriftstücke in der Ermittlungsakte zu prüfen, die möglicherweise für seine Verteidigung erheblich sind. Zu ihnen gehören sowohl belastende als auch entlastende Schriftstücke mit Ausnahme von Geschäftsgeheimnissen anderer Unternehmen, internen Schriftstücken der Kommission und anderen vertraulichen Informationen.

In Bezug auf belastende Elemente muss das betroffene Unternehmen dartun, dass das Ergebnis, zu dem die Kommission in ihrer Entscheidung gekommen ist, anders ausgefallen wäre, wenn ein nicht übermitteltes Schriftstück, auf das die Kommission ihre Vorwürfe gegen dieses Unternehmen gestützt hat, als belastendes Beweismittel ausgeschlossen werden müsste. Bei entlastenden Elementen muss das betroffene Unternehmen nachweisen, dass das Unterbleiben ihrer Offenlegung den Verfahrensablauf und den Inhalt der Entscheidung der Kommission zu seinen Ungunsten beeinflussen konnte. Es genügt, dass das Unternehmen dartut, dass es die fraglichen entlastenden Schriftstücke zu seiner Verteidigung hätte einsetzen können, und zwar in dem Sinne, dass das Unternehmen, wenn es sich im Verwaltungsverfahren auf diese Schriftstücke hätte berufen können, Gesichtspunkte hätte geltend machen können, die nicht mit den in diesem Stadium von der Kommission gezogenen Schlüssen übereinstimmten und daher, in welcher Weise auch immer, die von der Kommission in ihrer etwaigen Entscheidung vorgenommenen Beurteilungen zumindest in Bezug auf Schwere und Dauer des dem Unternehmen zur Last gelegten Verhaltens und damit die Höhe der Geldbuße hätten beeinflussen können. Die Möglichkeit, dass ein nicht übermitteltes Schriftstück Einfluss auf den Verfahrensablauf und den Inhalt der Entscheidung der Kommission hätte haben können, kann nur nach einer vorläufigen Prüfung bestimmter Beweismittel nachgewiesen werden, die zeigt, dass die nicht übermittelten Schriftstücke eine Bedeutung – für diese Beweismittel – hätten haben können, die nicht hätte unberücksichtigt bleiben dürfen.

Ein Verstoß gegen das Recht auf Akteneinsicht könnte nur dann eine völlige oder teilweise Nichtigerklärung einer Entscheidung der Kommission nach sich ziehen, wenn die nicht ordnungsgemäße Einsicht in die Ermittlungsakte im Verwaltungsverfahren das betroffene oder die betroffenen Unternehmen daran gehindert hätte, Unterlagen, die für ihre Verteidigung hätten nützlich sein können, zur Kenntnis zu nehmen, und auf diese Weise ihre Verteidigungsrechte verletzt hätte. Dies wäre der Fall, wenn durch die Offenlegung eines Schriftstücks eine, sei es auch nur entfernte, Möglichkeit bestanden hätte, dass das Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, falls das betroffene Unternehmen das Schriftstück in diesem Verfahren hätte heranziehen können.

(vgl. Randnrn. 224-226, 237)

10.    Die Akteneinsicht gehört zu den Verfahrensgarantien, die die Verteidigungsrechte schützen sollen, und die Verletzung des Rechts auf Einsicht in die Akten der Kommission im Verfahren vor dem Erlass der Entscheidung kann grundsätzlich deren Nichtigerklärung nach sich ziehen, wenn die Verteidigungsrechte des betroffenen Unternehmens beeinträchtigt worden sind.

Ob eine Verletzung der Verteidigungsrechte vorliegt, ist anhand der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu prüfen, da ihre Verletzung im Wesentlichen von den Rügen abhängt, die die Kommission bei der Feststellung der dem betroffenen Unternehmen zur Last gelegten Zuwiderhandlung erhoben hat. Daher sind die Sachrügen kurz zu prüfen, die die Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte und in der angefochtenen Entscheidung geltend gemacht hat, wobei das konkrete Vorbringen des betroffenen Unternehmens gegen die angefochtene Entscheidung zu berücksichtigen ist.

In einem Fall, in dem die Kommission im Verwaltungsverfahren, das dem Erlass der Entscheidung, mit der gegen ein Unternehmen eine Sanktion verhängt wurde, vorausging, kein Verzeichnis der Schriftstücke, die zur Akte gehören, erstellt hat und dem betreffenden Unternehmen nicht alle ihr zur Verfügung stehenden Aktenstücke, sondern nur die belastenden Schriftstücke übermittelt hat, ohne das Unternehmen aufzufordern, in ihren Räumlichkeiten alle Schriftstücke einzusehen, ist das Verwaltungsverfahren rechtswidrig. Die Endentscheidung ist jedoch nicht für nichtig zu erklären, wenn nicht erwiesen ist, dass das Unternehmen nicht die Möglichkeit hatte, sämtliche Schriftstücke in der Akte, die für seine Verteidigung sachdienlich sein konnten, zu prüfen, auch wenn sich im Rahmen der Klage gegen diese Entscheidung im Anschluss an prozessleitende Maßnahmen zur Gewährleistung einer vollständigen Akteneinsicht herausstellt, dass ein Teil der Akten fehlt.

(vgl. Randnrn. 242, 246, 248, 250, 257, 259-260, 263-264)

11.    Es steht dem Gericht frei, im Rahmen einer Klage gegen eine Entscheidung der Kommission, mit der gegen ein Unternehmen wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft Sanktionen verhängt werden, prozessleitende Maßnahmen zur Gewährleistung einer vollständigen Akteneinsicht anzuordnen, um zu klären, ob die Weigerung der Kommission, ein Schriftstück offenzulegen oder zu übermitteln, die Verteidigung des betreffenden Unternehmens beeinträchtigen konnte. Da sich diese Prüfung auf eine gerichtliche Kontrolle der geltend gemachten Klagegründe beschränkt, wird mit ihr ein Ersatz für die umfassende Sachverhaltsermittlung im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens weder bezweckt noch bewirkt. Die verspätete Kenntnisnahme von bestimmten Aktenstücken versetzt das Unternehmen, das Klage erhoben hat, nicht in die Lage, in der es sich befunden hätte, wenn es sich bei der Abgabe seiner schriftlichen und mündlichen Erklärungen gegenüber dem Gemeinschaftsorgan auf diese Schriftstücke hätte berufen können. Wurde darüber hinaus die Akteneinsicht im Stadium des Gerichtsverfahrens gewährt, so braucht das betroffene Unternehmen nicht zu beweisen, dass die Entscheidung der Kommission anders gelautet hätte, wenn es Einsicht in die nicht übermittelten Unterlagen erhalten hätte, sondern lediglich, dass es die fraglichen Schriftstücke zu seiner Verteidigung hätte einsetzen können.

(vgl. Randnrn. 250-251)

12.    Wird eine Wettbewerbsentscheidung der Kommission wegen eines Verfahrensfehlers für nichtig erklärt, so ist die Kommission ohne Einleitung eines neuen Verwaltungsverfahrens zum Erlass einer neuen Entscheidung berechtigt. Ist der Inhalt der neuen Entscheidung nahezu identisch mit dem der früheren Entscheidung, und stützen sich die beiden Entscheidungen auf die gleichen Gründe, so unterliegt die neue Entscheidung bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße den Regeln, die beim Erlass der früheren Entscheidung galten. Die Kommission nimmt nämlich das Verfahren in dem Stadium wieder auf, in dem der Verfahrensfehler begangen wurde, und erlässt, ohne den Fall im Licht der Regeln, die beim Erlass der ersten Entscheidung nicht existierten, neu zu beurteilen, eine neue Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 270-272)

13.    Eine Vereinbarung, mit der sich Unternehmen darüber verständigen, den Absatz der von ihnen produzierten Waren auf dem Markt eines Mitgliedstaats zu regulieren, stellt eine Marktaufteilungsvereinbarung dar. Derartige Vereinbarungen bilden Beispiele von Kartellen, die Art. 81 Abs. 1 Buchst. c EG ausdrücklich für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt, und sind offenkundige Beschränkungen des Wettbewerbs, die die Kommission bei der Festsetzung von Geldbußen auf jeden Fall als schwer einstufen kann. Auch wenn die Kommission den geheimen Charakter einer solchen Vereinbarung nicht aus dem bloßen Umstand ableiten kann, dass es keine offiziellen Sitzungsprotokolle gibt, kann sie eine solche Zuwiderhandlung doch in Anbetracht der Tatsache als schwer einstufen, dass die Vereinbarung eine offenkundige Einschränkung des Wettbewerbs darstellt.

(vgl. Randnrn. 279-280, 284-286)

14.    Für die Berechnung der Dauer einer Zuwiderhandlung, die eine Einschränkung des Wettbewerbs bezweckt, braucht nur bestimmt zu werden, wie lange die Vereinbarung bestanden hat, d. h. der Zeitraum von ihrem Abschluss bis zu ihrer Beendigung. Die Dauer der Zuwiderhandlung ist ein Tatbestandsmerkmal des Begriffs „Zuwiderhandlung“ im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EG, für das hauptsächlich die Kommission beweispflichtig ist. Soweit es an Beweisen fehlt, mit denen die Dauer der Zuwiderhandlung direkt belegt werden kann, muss die Kommission zumindest Beweise beibringen, die sich auf Fakten beziehen, die zeitlich so nahe beieinander liegen, dass sie vernünftigerweise den Schluss zulassen, dass die Zuwiderhandlung zwischen zwei konkreten Zeitpunkten ohne Unterbrechung erfolgt ist. Diese Beweislastverteilung kann jedoch Änderungen unterliegen, soweit die tatsächlichen Gesichtspunkte, auf die sich eine Partei beruft, die andere Partei zu einer Erläuterung oder Rechtfertigung zwingen können, weil sonst der Schluss zulässig ist, dass der Beweis erbracht wurde. Selbst wenn man annimmt, dass besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen können, aufgrund deren eine Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Dauer einer Zuwiderhandlung vorgenommen werden könnte, folgt daraus nicht, dass die Kommission in einer Entscheidung, in der ein Verstoß gegen Art. 81 Abs. 1 EG festgestellt wird, davon absehen kann, unter Anführung von Belegen das Ende der Zuwiderhandlung anzugeben und Informationen zur Dauer der Zuwiderhandlung zu liefern, über die sie gegebenenfalls verfügt.

(vgl. Randnrn. 293-295, 302)

15.    Mit dem Begriff der beherrschenden Stellung ist die wirtschaftliche Machtstellung eines Unternehmens gemeint, die dieses in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen Wettbewerbern, seinen Abnehmern und letztlich den Verbrauchern gegenüber in nennenswertem Umfang unabhängig zu verhalten. Eine Einheit mit einem Marktanteil von über 50 % kann eine solche Unabhängigkeit ohne Rücksicht darauf besitzen, ob es sich um eine individuelle oder eine kollektive Einheit handelt.

Die Rüge, dass in einer Entscheidung der Kommission eine Begründung hinsichtlich der beherrschenden Stellung eines Unternehmens fehle, ist daher zurückzuweisen, wenn es in der Entscheidung u. a. heißt, dass das Unternehmen einen Anteil von fast 60 % am gesamten Gemeinschaftsmarkt halte.

(vgl. Randnrn. 314-316)

16.    Ein Klagegrund, mit dem das Gericht auf die Ausführungen im Rahmen einer anderen Klage hingewiesen wird, die am selben Tag von demselben Kläger erhoben worden ist und deren maßgebliche Seiten der Klageschrift beigefügt sind, ist unzulässig, da sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die er sich stützt, nicht unmittelbar aus der Klageschrift ergeben. Diese kann zwar in einzelnen Punkten durch Verweisungen auf bestimmte Stellen beigefügter Schriftstücke untermauert und ergänzt werden, doch kann eine pauschale Bezugnahme auf andere Schriftstücke, auch wenn sie der Klageschrift als Anlagen beigefügt sind, nicht das Fehlen wesentlicher Bestandteile in der Klageschrift ausgleichen.

(vgl. Randnrn. 317-318)

17.    Die Zusammenarbeit eines Unternehmens mit der Kommission bei Besuchen in seinen Geschäftsräumen gehört zu den Pflichten des Unternehmens und kann daher keinen mildernden Umstand darstellen, der eine Herabsetzung der wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft verhängten Geldbuße rechtfertigt.

(vgl. Randnrn. 331, 333)

18.    Bei der Ermittlung des Betrags der Geldbußen wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft muss die Kommission nicht nur die Schwere der Zuwiderhandlung und die besonderen Umstände des Einzelfalls, sondern auch den Kontext der Zuwiderhandlung berücksichtigen und sicherstellen, dass ihr Vorgehen vor allem in Bezug auf solche Zuwiderhandlungen, die die Verwirklichung der Ziele der Gemeinschaft besonders beeinträchtigen, abschreckende Wirkung hat. Somit kann eine Geldbuße ihren Sanktionscharakter und ihre abschreckende Wirkung nicht verlieren, wenn erwiesen ist, dass das betroffene Unternehmen gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen hat, insbesondere wenn es sich um einen schweren Verstoß handelt; dies gilt auch dann, wenn die Geldbuße mit einer Entscheidung verhängt wird, die nach gewisser Zeit im Anschluss an die Nichtigerklärung einer ersten Entscheidung ergeht.

(vgl. Randnrn. 344-345)