Language of document : ECLI:EU:T:2024:45

Rechtssache T745/20

Symphony Environmental Technologies plc
und
Symphony Environmental Ltd

gegen

Europäisches Parlament u. a.

 Urteil des Gerichts (Erste erweiterte Kammer) vom 31. Januar 2024

„Außervertragliche Haftung – Umwelt – Richtlinie (EU) 2019/904 – Verbot des Inverkehrbringens von Artikeln aus oxo-abbaubarem Kunststoff – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Keine Unterscheidung zwischen Artikeln aus oxo-abbaubarem Kunststoff und Artikeln aus oxo-biologisch abbaubarem Kunststoff – Folgenabschätzung – Gleichbehandlung – Verhältnismäßigkeit“

1.      Gerichtliches Verfahren – Öffentlichkeit von Entscheidungen – Pflicht des Unionsgerichts, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Öffentlichkeit von Entscheidungen und dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten und des Geschäftsgeheimnisses zu gewährleisten – Antrag auf Weglassung öffentlich zugänglicher Angaben – Zurückweisung

(Art. 15 AEUV)

(vgl. Rn. 20, 22, 23)

2.      Schadensersatzklage – Selbständigkeit gegenüber der Nichtigkeits- und der Untätigkeitsklage – Umfang

(Art. 263 Abs. 4, Art. 268 und Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 31)

3.      Schadensersatzklage – Gegenstand – Ersatz des Schadens, der aufgrund einer Bestimmung in einer vom Parlament und dem Rat erlassenen Richtlinie entstanden sein soll – Auch gegen die Kommission gerichtete Klage – Von der Kommission im Hinblick auf ihre Rolle im Gesetzgebungsprozess erhobene Rüge – Keine Auswirkungen auf die Beurteilung der Zulässigkeit der gegen die Kommission gerichteten Klage

(Art. 268 und 294 AEUV; Richtlinie 2019/904 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5)

(vgl. Rn. 32-38)

4.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht – Verstoß des Unionsgesetzgebers im Bereich der Umwelt – Anforderung einer offenkundigen und erheblichen Überschreitung der Grenzen des weiten Ermessens des Unionsgesetzgebers in diesem Bereich – Gerichtliche Nachprüfung – Umfang

(Art. 191, 192 und 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 39-43, 114, 115, 250)

5.      Umwelt – Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffartikel auf die Umwelt – Richtlinie 2019/904 – Verbot des Inverkehrbringens von Artikeln aus oxo-abbaubarem Kunststoff – Pflicht der Unionsorgane, dieses Verbot nach dem in der REACH-Verordnung vorgesehenen Beschränkungsverfahren zu erlassen – Fehlen – Pflicht, den Ausgang eines bei der Europäischen Agentur für chemische Stoffe (ECHA) laufenden Beschränkungsverfahrens abzuwarten – Fehlen

(Art. 14 Abs. 1, Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 EUV; Art. 289 AEUV; Verordnung Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 68 bis 73; Richtlinie 2019/904 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5)

(vgl. Rn. 50-55, 59-65)

6.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts anhand eines anderen Rechtsakts derselben normativen Ebene – Nicht in Anwendung des zuletzt genannten Rechtsakts erlassener Rechtsakt – Nichtvorliegen einer Bestimmung, die den Vorrang eines Rechtsakts vor dem anderen Rechtsakt vorsieht – Unzulässigkeit der Beurteilung

(Art. 289 Abs. 1 und 3, Art. 294 und Art. 340 Abs. 2 AEUV; Verordnung Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates; Richtlinie 2019/904 des Europäischen Parlaments und des Rates)

(vgl. Rn. 66-70)

7.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Begriff – Bestimmungen, die eine öffentliche Anhörung über die Einführung neuer Beschränkungen für die Herstellung, die Verwendung oder das Inverkehrbringen eines chemischen Stoffs vorsehen – Ausschluss

(Verordnung Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 69 Abs. 6 Buchst. a und Art. 71 Abs. 1)

(vgl. Rn. 73-77)

8.      Handlungen der Organe – Verfahren des Zustandekommens – Von einer interinstitutionellen Vereinbarung zwischen dem Parlament, dem Rat und der Kommission vorgesehene Folgenabschätzung – Pflicht zur Aktualisierung der Folgenabschätzung im Hinblick auf den Gesetzgebungsprozess – Fehlen

(Art. 192 Abs. 1 AEUV; Richtlinie 2019/904 des Europäischen Parlaments und des Rates)

(vgl. Rn. 87-92)

9.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht – Voraussetzung einer offenkundigen und erheblichen Überschreitung der Grenzen des Ermessens durch die Organe – Verbot des Inverkehrbringens von Artikeln aus oxo-abbaubarem Kunststoff – Verbot, das für Artikel aus Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff gilt – Verbot auf der Grundlage einer umfassenden wissenschaftlichen Bewertung der mit dieser Kunststoffart verbundenen Risiken – Kein hinreichend qualifizierter Verstoß

(Richtlinie 2019/904 des Europäischen Parlaments und des Rates, 15. Erwägungsgrund und Art. 5)

(vgl. Rn. 116-120, 127-151, 201-209, 217-226, 234-241, 249)

10.    Umwelt – Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffartikel auf die Umwelt – Richtlinie 2019/904 – Verbot des Inverkehrbringens von Artikeln aus oxo-abbaubarem Kunststoff – Verbot, das für Artikel aus Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff gilt – Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Fehlen

(Art. 5 Abs. 4 EUV; Richtlinie 2019/904 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5)

(vgl. Rn. 254, 255, 258, 259, 262-269, 273, 274, 276, 278, 279)

11.    Umwelt – Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffartikel auf die Umwelt – Richtlinie 2019/904 – Verbot des Inverkehrbringens von Artikeln aus oxo-abbaubarem Kunststoff – Verbot, das für Artikel aus Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff gilt – Verbot, das nicht für Artikel aus herkömmlichem Kunststoff oder für als kompostierbar vermarkteter Kunststoff gilt – Nicht vergleichbare Sachverhalte – Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung – Fehlen

(Richtlinie 2019/904 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5)

(vgl. Rn. 287-294, 300-304, 306-308)

12.    Umwelt – Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffartikel auf die Umwelt – Richtlinie 2019/904 – Verbot des Inverkehrbringens von Artikeln aus oxo-abbaubarem Kunststoff – Verbot, das für Artikel aus Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff gilt – Beschränkung der unternehmerischen Freiheit und der Rechte des geistigen Eigentums der Gesellschaften, die an der Herstellung und der Vermarktung dieses Zusatzstoffs beteiligt sind – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 16, Art. 17 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 1; Richtlinie 2019/904 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5)

(vgl. Rn. 315-320, 325)

13.    Umwelt – Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffartikel auf die Umwelt – Richtlinie 2019/904 – Verbot des Inverkehrbringens von Artikeln aus oxo-abbaubarem Kunststoff – Verbot, das für Artikel aus Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff gilt – Verletzung des Eigentumsrechts der Gesellschaften, die am Inverkehrbringen dieses Zusatzstoffs beteiligt sind – Fehlen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 17)

(vgl. Rn. 322, 323)

14.    Grundrechte – Charta der Grundrechte – Recht auf eine gute Verwaltung – Unanwendbarkeit auf das Verfahren zur Ausarbeitung eines Gesetzgebungsakts

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41)

(vgl. Rn. 332)

Zusammenfassung

Das mit einer Klage aus außervertraglicher Haftung befasste Gericht, das als Erste erweiterte Kammer tagt, stellt fest, dass das in Art. 5 der Richtlinie 2019/904(1) vorgesehene Verbot des Inverkehrbringens von Artikeln aus oxo-abbaubarem Kunststoff mit Art. 191 AEUV, der eine Reihe von Zielen, Grundsätzen und Kriterien vorsieht, die der Unionsgesetzgeber bei der Durchführung der Umweltpolitik zu beachten hat, sowie mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung vereinbar ist.

Die Klägerinnen, die im Vereinigten Königreich ansässigen Symphony Environmental Technologies plc und Symphony Environmental Ltd, sind in der Entwicklung, der Herstellung und dem Vertrieb bestimmter spezialisierter Kunststoffprodukte sowie der bei der Herstellung dieser Produkte verwendeten Zusatzstoffe und Masterbatches(2) tätig.

Einer der von den Klägerinnen hergestellten Masterbatches enthält einen prooxidativen Zusatzstoff, der es ihren Angaben zufolge ermöglicht, dass sich der Kunststoff, dem er beigemischt sei, viel schneller biologisch abbaue als oxo-abbaubarer Kunststoff(3). Der diesen Zusatzstoff enthaltende Kunststoff, den sie als oxo-biologisch abbaubar bezeichnen, sei daher von herkömmlichem Kunststoff zu unterscheiden.

Mit ihrer Klage begehren die Klägerinnen somit Ersatz des Schadens, der ihnen durch das in Art. 5 der Richtlinie 2019/904 vorgesehene Verbot des Inverkehrbringens von Artikeln aus oxo-abbaubarem Kunststoff entstanden sein soll, soweit dieses Verbot für oxo-abbaubaren Kunststoff gilt.

Würdigung durch das Gericht

Zunächst weist das Gericht darauf hin, dass die Begründung der außervertraglichen Haftung der Union von der Erfüllung dreier kumulativer Voraussetzungen abhängt, nämlich einem hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, dem tatsächlichen Bestehen des Schadens sowie einem Kausalzusammenhang zwischen dem gerügten Verstoß und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden.

Zur ersten dieser Voraussetzungen führt das Gericht aus, dass im vorliegenden Fall ein etwaiger hinreichend qualifizierter Verstoß gegen die in Rede stehenden Rechtsnormen auf einer offenkundigen und erheblichen Überschreitung der Grenzen des weiten Ermessens beruhen muss, über das der Unionsgesetzgeber bei der Ausübung der Befugnisse im Umweltbereich gemäß den Art. 191 und 192 AEUV verfügt. Bei der Ausübung dieses Ermessens geht es nämlich darum, dass der Unionsgesetzgeber zum einen komplexe und ungewisse ökologische, wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Entwicklungen vorhersehen und bewerten und zum anderen die in Art. 191 AEUV genannten verschiedenen Ziele, Grundsätze und Interessen gegeneinander abwägen und miteinander versöhnen muss.

Im vorliegenden Fall kommt das Gericht im Rahmen von Art. 191 AEUV zunächst zu dem Ergebnis, dass das Parlament, der Rat und die Kommission (im Folgenden: drei betroffene Organe) keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen haben, indem sie das Verbot des Inverkehrbringens von Artikeln aus Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff(4) erlassen haben, da sie über eine möglichst erschöpfende wissenschaftliche Bewertung der mit dieser Kunststoffart verbundenen Risiken für die Umwelt und die menschliche Gesundheit verfügten. Nach der Richtlinie 2019/904(5) ist dieses Verbot dadurch gerechtfertigt, dass sich der Kunststoff nicht hinreichend biologisch abbaut, nicht kompostierbar ist, sich negativ auf das Recycling von herkömmlichen Kunststoffen auswirkt und nicht zu einem nachgewiesenen Umweltnutzen führt.

Was als Erstes die Behauptung betrifft, dass sich Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff nicht hinreichend biologisch abbaut, geht aus den wissenschaftlichen Studien, die den drei betroffenen Organen bei der Ausarbeitung und dem Erlass der Richtlinie 2019/904 zur Verfügung standen, hervor, dass der bei diesem Kunststoff erreichte biologische Abbau in freier Natur, auf Deponien oder in der Meeresumwelt gering ist oder gar nicht stattfindet. Nach diesen Studien ist nur im Rahmen von Laborversuchen ein zufriedenstellender biologischer Abbau erzielt worden, aber nie unter realen Gegebenheiten. Die Umweltbedingungen sind jedoch variabel und erschweren es, den Zeitraum und die Zerfallsrate einzuschätzen, die für einen biologischen Abbau dieser Kunststoffart erforderlich sind.

Als Zweites geht aus den wissenschaftlichen Daten, die im Gesetzgebungsverfahren verfügbar waren, hervor, dass Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff für keine Form der Kompostierung geeignet ist(6). Denn der betreffende Kunststoff erfüllt weder die verschiedenen Normen für die industrielle Kompostierung oder die Heimkompostierung noch die geltenden Normen für kompostierbare Verpackungen, weil sein biologischer Abbau zu lange dauert und sich die durch diesen Prozess erzeugten Kunststoffpartikel auf die Qualität des Komposts auswirken oder sogar in der Umwelt ausbreiten können. Außerdem beweist der Umstand, dass im Labor eine bestimmte biologische Abbaurate erzielt wurde, nicht, dass dieselbe Rate innerhalb desselben Zeitraums unter realen Gegebenheiten erzielt wird.

Was als Drittes die Behauptung betrifft, dass sich Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff negativ auf das Recycling von herkömmlichen Kunststoffen auswirke, geht aus den wissenschaftlichen Studien, auf die sich die drei betroffenen Organe beim Erlass der Richtlinie 2019/904 nach eigenen Angaben gestützt haben, hervor, dass die derzeit verfügbaren Technologien den Wiederaufbereitungsunternehmen nicht die Möglichkeit bieten, Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff zu erkennen und von anderen Kunststoffarten zu isolieren, so dass er zwangsläufig mit herkömmlichem Kunststoff vermischt recycelt wird. Das Vorhandensein von prooxidativen Zusatzstoffen in dem Rezyklat wird dessen Abbau beschleunigen und sich somit negativ auf die Vermarktungsfähigkeit des recycelten Kunststoffs sowie auf seine Qualität und seinen Preis auswirken. Zwar würde es die Verwendung stabilisierender Verbindungen in bestimmten Fällen ermöglichen, eine Verschlechterung der Qualität des recycelten Kunststoffs zu vermeiden, doch wäre es schwierig, die erforderliche Menge an Stabilisatoren zu bestimmen, da diese von der Konzentration und der Art des verwendeten prooxidativen Zusatzstoffs abhängt.

Als Viertes geht aus den zum Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie 2019/904 verfügbaren Informationen kein erwiesener Vorteil von Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff auf der Umweltebene hervor.

Sodann stellt das Gericht nach einem Hinweis auf das weite Ermessen, über das der Unionsgesetzgeber bei der Festlegung von Art und Umfang der Maßnahmen verfügt, die in einem komplexen technischen und sich ständig weiterentwickelnden Rahmen zu erlassen sind, fest, dass das Verbot des Inverkehrbringens von Artikeln aus Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. Zum einen ist dieses Verbot in Anbetracht der mit Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff verbundenen Risiken geeignet, das mit der Richtlinie 2019/904 verfolgte Ziel des Schutzes der Umwelt und der menschlichen Gesundheit zu erreichen. Zum anderen überschreitet das fragliche Verbot nicht die Grenzen dessen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, da mit keiner der von den Klägerinnen vorgeschlagenen Alternativen die Erreichung dieses Ziels sichergestellt werden kann. Dieses Verbot kann auch nicht deshalb als unverhältnismäßig angesehen werden, weil es keinen Übergangszeitraum vorsieht, insbesondere im Hinblick auf die nicht komplexen Verwendungen des betreffenden Kunststoffs. Das Gericht unterstreicht im Übrigen die Bedeutung des Schutzes der menschlichen Gesundheit und der Umwelt, die negative wirtschaftliche Folgen selbst beträchtlichen Ausmaßes für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen kann.

Schließlich haben die drei betroffenen Organe nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung dadurch verstoßen, dass sie das Inverkehrbringen von Artikeln aus Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff verboten haben, nicht aber – abgesehen von einigen Ausnahmen – das Inverkehrbringen von Artikeln aus herkömmlichem Kunststoff und auch nicht das Inverkehrbringen von Artikeln aus einem Kunststoff, der als „kompostierbar“ vermarktet wird.

Als Erstes ist festzustellen, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich Artikel aus Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff in einer Situation befinden, die mit der von Artikeln aus herkömmlichem Kunststoff vergleichbar ist, deren Inverkehrbringen die Richtlinie 2019/904 mit Ausnahme von neun Einwegartikeln nicht verbietet. Zum einen kann auf der Grundlage der vor dem Erlass der Richtlinie 2019/904 verfügbaren wissenschaftlichen Risikobewertung nicht ausgeschlossen werden, dass Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff zumindest unter bestimmten Aspekten, die u. a. sein Recycling und seinen biologischen Abbau auf einer Deponie betreffen, problematischer als herkömmlicher Kunststoff ist. Insoweit könnte der schnellere Zerfall von Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff als herkömmlicher Kunststoff stärker negative Auswirkungen auf die Umwelt haben, weil sich diese Auswirkungen auf einen kürzeren Zeitraum konzentrieren. Zum anderen ist das Ziel der Richtlinie 2019/904 zu berücksichtigen, das insbesondere darin besteht, die Auswirkungen von bestimmten Einwegkunststoffartikeln auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit zu verhindern und zu verringern, indem die Maßnahmen auf die Bereiche konzentriert werden, in denen sie am meisten benötigt werden. Unter Berücksichtigung dieses Ziels kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich diese beiden Kunststoffarten in einer vergleichbaren Situation befinden. Was die aus herkömmlichem Kunststoff hergestellten Einwegartikel, deren Inverkehrbringen die Richtlinie 2019/904 verbietet(7), anbelangt, kann im Hinblick auf das Ziel der Richtlinie nicht davon ausgegangen werden, dass sie sich in einer Situation befinden, die mit der Situation von Artikeln aus Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff vergleichbar ist.

Als Zweites ist festzustellen, dass sich auch Artikel aus Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff und Artikel aus einem Kunststoff, der als „kompostierbar“ vermarktet wird, nicht in einer vergleichbaren Situation befinden. Zum einen konnten die drei betroffenen Organe frei von offensichtlichen Beurteilungsfehlern davon ausgehen, dass ein Risiko vorliegt, dass Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff nicht kompostierbar ist, und zum anderen werden Artikel aus Kunststoff, der als „kompostierbar“ vermarktet wird, weder vom Gegenstand noch vom Ziel der Richtlinie 2019/904 erfasst.

Insbesondere in Anbetracht dieser Erwägungen weist das Gericht die Klage der Klägerinnen in vollem Umfang ab.


1      Richtlinie (EU) 2019/904 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 über die Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffprodukte auf die Umwelt (ABl. 2019, L 155, S. 1).


2      Ein Masterbatch ist eine einem Polymerträger beigegebene Verbindung aus mehreren chemischen Stoffen, die in Form von Granulat an Hersteller von Kunststoffprodukten geliefert wird, die diese Verbindung den zur Herstellung ihrer Produkte verwendeten Polymeren beimischen.


3      Nach Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2019/904 bezeichnet der Begriff „oxo-abbaubarer Kunststoff“ Kunststoff, der Zusatzstoffe enthält, die durch Oxidation einen Zerfall des Kunststoffs in Mikropartikel oder einen chemischen Abbau herbeiführen.


4      Da die Parteien den Kunststoff, dem ein Pro-oxidant-Zusatzstoff zugesetzt wurde, mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnen, verwendet das Gericht den möglichst neutralen Begriff „Kunststoff mit einem prooxidativen Zusatzstoff“.


5      15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2019/904.


6      Die Kompostierung ist ein verbesserter biologischer Abbau unter kontrollierten Bedingungen, der vor allem durch Zwangsbelüftung und natürliche Wärmebildung infolge der in dem Material ablaufenden biologischen Aktivität gekennzeichnet ist.


7      Art. 9 der Richtlinie 2019/904.