Language of document :

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

1. August 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Sechste Richtlinie 77/388/EWG – Art. 2 Abs. 1 – Anwendungsbereich – Steuerbare Umsätze – Art. 9 Abs. 2 Buchst. b – Ort einer Beförderungsleistung – Touristische Fahrten auf der Mosel – Fluss mit dem Status eines Kondominiums“

In der Rechtssache C‑294/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Luxemburg) mit Entscheidung vom 6. Mai 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Mai 2021, in dem Verfahren

État luxembourgeois,

Administration de l’enregistrement, des domaines et de la TVA

gegen

Navitours Sàrl

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richterin I. Ziemele sowie der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen:

–        der Navitours Sàrl, vertreten durch C. Kaufhold, Avocat,

–        der luxemburgischen Regierung, vertreten durch A. Germeaux und T. Uri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Kremer, Avocat,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und P.‑L. Krüger als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und V. Uher als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. April 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 (ABl. 1991, L 376, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem État luxembourgeois (luxemburgischer Staat) und der Administration de l’enregistrement, des domaines et de la TVA (Einregistrierungs‑, Domänen- und Mehrwertsteuerverwaltung, Luxemburg) (im Folgenden: luxemburgische Steuerverwaltung) einerseits und der Navitours Sàrl andererseits über die mehrwertsteuerliche Behandlung der von Navitours auf der Mosel erbrachten Dienstleistungen der touristischen Schifffahrt.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Art. 1 Abs. 1 des am 19. Dezember 1984 in Luxemburg unterzeichneten Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg über den Verlauf der gemeinsamen Staatsgrenze (im Folgenden: Vertrag vom 19. Dezember 1984) lautet:

„Wo Mosel, Sauer und Our nach dem Vertrag vom 26. Juni 1816 die Grenze bilden, sind sie gemeinschaftliches Hoheitsgebiet beider Vertragsstaaten.“

4        Art. 5 Abs. 1 dieses Vertrags bestimmt:

„Die Vertragsstaaten regeln die Fragen des im gemeinschaftlichen Hoheitsgebiet anzuwendenden Rechts durch eine zusätzliche Vereinbarung.“

 Unionsrecht

5        Die Sechste Richtlinie wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben und durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) ersetzt. In Anbetracht des Zeitpunkts des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits ist jedoch für ihn die Sechste Richtlinie maßgeblich.

6        Nach Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie unterliegen der Mehrwertsteuer „Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt“.

7        Art. 3 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie sah vor:

„(1)      Im Sinne dieser Richtlinie ist zu verstehen unter

‚Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats‘ das Inland, wie es für jeden Mitgliedstaat in den Absätzen 2 und 3 definiert ist;

(2)      Für die Anwendung dieser Richtlinie ist unter ‚Inland‘ der Anwendungsbereich des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu verstehen, wie er in Artikel 227 für jeden Mitgliedstaat definiert ist.

(3)      Folgende Hoheitsgebiete gelten nicht als Inland:

–        Bundesrepublik Deutschland:

die Insel Helgoland;

das Gebiet von Büsingen;

…“

8        Art. 9 der Sechsten Richtlinie bestimmte:

„(1)      Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort.

(2)      Es gilt jedoch

b)      als Ort einer Beförderungsleistung der Ort, an dem die Beförderung nach Maßgabe der zurückgelegten Beförderungsstrecke jeweils stattfindet;

…“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

9        Die luxemburgische Gesellschaft Navitours bietet Dienstleistungen der touristischen Schifffahrt auf demjenigen Abschnitt der Mosel an, über den die Bundesrepublik Deutschland und das Großherzogtum Luxemburg gemäß Art. 1 des Vertrags vom 19. Dezember 1984 die Hoheitsgewalt gemeinsam ausüben (im Folgenden: deutsch-luxemburgisches Kondominium). In Anbetracht dieses Status ist die luxemburgische Steuerverwaltung für die fragliche Geschäftstätigkeit viele Jahre lang davon ausgegangen, dass diese Tätigkeit nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer falle, so dass von der genannten Steuerverwaltung keine Mehrwertsteuer auf von Navitours verkaufte Fahrkarten erhoben wurde.

10      Am 5. August 2015 erließ die Steuerverwaltung von Amts wegen Steuerbescheide, die sich auf die Umsätze von Navitours für die Jahre 2004 und 2005 bezogen und in denen die von Navitours erbrachten Beförderungsleistungen als mehrwertsteuerpflichtig betrachtet wurden.

11      Diese Steuerbescheide ergingen im Nachgang eines Urteils der Cour d’appel (Appellationsgerichtshof, Luxemburg) vom 10. Juli 2014, das im Rahmen eines Gerichtsverfahrens zwischen Navitours und der genannten Steuerverwaltung über die steuerliche Behandlung des Erwerbs eines Schiffes durch Navitours erlassen worden war. Diesem Urteil zufolge kann Mehrwertsteuer auf Personenbeförderungsleistungen im deutsch-luxemburgischen Kondominium entweder vom Großherzogtum Luxemburg oder von der Bundesrepublik Deutschland erhoben werden. In Ermangelung einer Besteuerung durch die deutsche Steuerverwaltung bestehe keine Gefahr einer Doppelbesteuerung.

12      Nachdem die von Navitours gegen die Steuerbescheide vom 5. August 2015 eingelegte Beschwerde zurückgewiesen worden war, erhob Navitours beim Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg) Nichtigkeitsklage.

13      Mit Urteil vom 23. Mai 2018 gab dieses Gericht der Klage statt und entschied, dass sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch das Großherzogtum Luxemburg potenziell Mehrwertsteuer erheben könnten, soweit die in Rede stehenden Beförderungsleistungen im deutsch-luxemburgischen Kondominium stattfänden, dass aber der besondere Ort der Tätigkeit von Navitours die Schaffung eines Mechanismus erfordere, der es ermögliche, die Erhebung der Mehrwertsteuer bei gleichzeitiger Vermeidung einer Doppelbesteuerung sicherzustellen. In Ermangelung eines solchen Mechanismus sei die Frage der steuerlichen Zuordnung der von Navitours ausgeübten Tätigkeiten zu einem bestimmten Staat nicht geregelt, so dass die luxemburgische Steuerverwaltung keine Steuern auf die entsprechenden Umsätze dieses Unternehmens erheben dürfe.

14      Nachdem der luxemburgische Staat und die luxemburgische Steuerverwaltung gegen dieses Urteil Berufung eingelegt hatten, wurde es von der Cour d’appel (Appellationsgerichtshof) mit Urteil vom 11. Dezember 2019 bestätigt. Der luxemburgische Staat und die luxemburgische Steuerverwaltung erhoben gegen das letztgenannte Urteil Kassationsbeschwerde.

15      Im Rahmen ihres Rechtsmittels machen der luxemburgische Staat und die luxemburgische Steuerverwaltung geltend, dass die Sechste Richtlinie und insbesondere ihr Art. 2 auf die in Rede stehenden Beförderungsleistungen Anwendung fänden.

16      Da die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Luxemburg) Zweifel hinsichtlich der Auslegung dieser Richtlinie hegt, hat sie beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind/ist Art. 2 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie und/oder Art. 9 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie anwendbar und führen sie/führt er zur Belegung der von einem in Luxemburg ansässigen Dienstleistenden erbrachten Personenbeförderungsdienstleistungen mit Mehrwertsteuer in Luxemburg, wenn diese Dienstleistungen innerhalb eines Kondominiums erbracht werden, das im Vertrag vom 19. Dezember 1984 als ein gemeinsames Gebiet unter der gemeinsamen Hoheit des Großherzogtums Luxemburg und der Bundesrepublik Deutschland definiert ist und in Bezug auf das die beiden Staaten, was die Erhebung der Mehrwertsteuer auf Beförderungsdienstleistungen angeht, keine Vereinbarung geschlossen haben, wie sie in Art. 5 Abs. 1 dieses Vertrags vorgesehen ist?

 Zur Vorlagefrage

17      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat Dienstleistungen der touristischen Schifffahrt besteuern kann, die von einem in diesem Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden in einem Gebiet erbracht werden, das aufgrund eines zwischen diesem Staat und einem anderen Mitgliedstaat geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags ein gemeinschaftliches Hoheitsgebiet unter gemeinsamer Hoheitsgewalt dieser Mitgliedstaaten bildet.

18      Hierbei ist daran zu erinnern, dass nach Art. 2 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt, der Mehrwertsteuer unterliegen.

19      Als Ort einer Dienstleistung gilt gemäß Art. 9 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort.

20      Nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. b gilt als Ort einer Beförderungsleistung jedoch der Ort, an dem die Beförderung nach Maßgabe der zurückgelegten Beförderungsstrecke jeweils stattfindet.

21      Im vorliegenden Fall steht es fest, dass es sich bei den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Leistungen um „Dienstleistungen“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie handelt und dass sie von einem Steuerpflichtigen als solchem gegen Entgelt ausgeführt werden.

22      Ausgehend von der Prämisse, dass es sich bei den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Leistungen um „Beförderungsleistungen“ im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie handelt, deren Ort das deutsch-luxemburgische Kondominium ist, äußert das vorlegende Gericht jedoch Zweifel daran, ob die in diesem Kondominium erbrachten Beförderungsleistungen vom Großherzogtum Luxemburg besteuert werden können, da nicht sicher ist, dass sie im Sinne von Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie als „im Inland“ erbracht angesehen werden können.

23      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass es sich bei den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Leistungen namentlich um die Veranstaltung von touristischen Schifffahrten handelt, die am selben Ort enden, an dem sie auch begonnen haben. Unter diesen Umständen ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob solche Leistungen tatsächlich als Beförderungsleistungen vom Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie umfasst sind.

24      Hierzu ist festzustellen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff der „Beförderungsleistungen“ in der Sechsten Richtlinie nicht definiert wird.

25      Wie sich aus ständiger Rechtsprechung ergibt, sind Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem üblichen Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden, zu bestimmen (Urteil vom 1. Oktober 2020, Entoma, C‑526/19, EU:C:2020:769, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Zum üblichen Sinn des Ausdrucks „Beförderungsleistungen“ nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch ist festzustellen, dass sich dieser auf Leistungen bezieht, die darin bestehen, Personen oder Güter von einem Ort zu einem anderen Ort zu bringen. Dieser Begriff ist weit genug, um Leistungen zu umfassen, deren wesentliches Element darin besteht, Personen über nicht unerhebliche Strecken zu befördern, auch wenn diese Leistung am selben Ort beginnt und endet und auch wenn sie touristischen Zwecken dient.

27      Diese Auslegung wird durch das mit Art. 9 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie verfolgte Ziel bestätigt.

28      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sollen mit den Bestimmungen von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Sechsten Richtlinie zum einen Kompetenzkonflikte, die zu einer Doppelbesteuerung führen könnten, und zum anderen die Nichtbesteuerung von Einnahmen verhindert werden (Urteil vom 8. Mai 2019, Geelen, C‑568/17, EU:C:2019:388, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Konkret zu Art. 9 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie hat der Gerichtshof entschieden, dass die durch diese Bestimmung festgelegte Regel geboten ist, da schon die Art der Bewirkung dieser spezifischen Dienstleistung der Beförderung, die sich auf das Gebiet mehrerer Mitgliedstaaten erstrecken kann, ein anderes Kriterium erfordert, das im Wesentlichen eine Abgrenzung der jeweiligen Kompetenzen der einzelnen Mitgliedstaaten für die Zwecke der Besteuerung erlauben muss. Diese besondere Anknüpfungsregelung für Beförderungsleistungen soll daher gewährleisten, dass jeder Mitgliedstaat Beförderungsleistungen für diejenigen Teilstrecken besteuert, die in seinem Gebiet zurückgelegt werden (Urteil vom 6. November 1997, Reisebüro Binder, C‑116/96, EU:C:1997:520, Rn. 13 und 14).

30      Diese Erwägungen gelten auch dann, wenn eine Leistung, deren wesentliches Element in der Beförderung von Personen besteht, am selben Ort beginnt und endet und wenn sie touristischen Zwecken dient.

31      Die in Rn. 26 des vorliegenden Urteils dargelegte Auslegung wird im Übrigen nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 1. Oktober 2015, Trijber und Harmsen (C‑340/14 und C‑341/14, EU:C:2015:641), entschieden hat, dass eine Tätigkeit, die darin besteht, für Fahrgäste entgeltliche, geführte Bootsrundfahrten durch eine Stadt durchzuführen, keine vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36) ausgenommene „Verkehrsdienstleistung“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie darstellt.

32      Insoweit genügt der Hinweis, dass sich, wie vom Generalanwalt im Wesentlichen in den Nrn. 21 bis 23 seiner Schlussanträge ausgeführt, in Anbetracht der unterschiedlichen Zwecke von Art. 9 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie zum einen und von Art. 2 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2006/123 zum anderen die Begriffe „Beförderungsleistungen“ im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie und „Verkehrsdienstleistungen“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2006/123 nicht decken. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass Dienstleistungen, die nicht unter den zweiten Begriff fallen, zwangsläufig auch außerhalb der Reichweite des ersten liegen.

33      Folglich fallen Leistungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die namentlich in der Veranstaltung von touristischen Schifffahrten bestehen, die am selben Ort beginnen und enden, als Beförderungsleistungen unter Art. 9 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie.

34      Da, wie in Rn. 20 dieses Urteils ausgeführt, nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie der Ort der Beförderungsleistungen derjenige ist, an dem die Beförderung nach Maßgabe der zurückgelegten Beförderungsstrecke jeweils stattfindet, ist daher davon auszugehen, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Leistungsort das deutsch-luxemburgische Kondominium ist.

35      Sodann ist zu prüfen, ob die Beförderungsleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher in diesem Kondominium gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegen, weil sie im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie „im Inland“ erbracht werden.

36      Der Ausdruck „Inland“ wird in Art. 3 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie definiert und entspricht „de[m] Anwendungsbereich des [EWG‑]Vertrages, wie er in Artikel 227 für jeden Mitgliedstaat definiert ist“. Im Übrigen werden in Art. 3 Abs. 3 diejenigen Hoheitsgebiete aufgelistet, die nicht als Inland gelten.

37      Hierzu ist zum einen festzustellen, dass nach Art. 299 Abs. 1 des EG-Vertrags, der an die Stelle von Art. 227 des EWG-Vertrags getreten ist, der Vertrag u. a. für die Bundesrepublik Deutschland und das Großherzogtum Luxemburg gilt. In seinem Art. 299 Abs. 2 bis 6 sind bestimmte Besonderheiten und Ausnahmen vorgesehen, die diese beiden Mitgliedstaaten jedoch nicht betreffen. Zum anderen zählt das deutsch-luxemburgische Kondominium gemäß Art. 3 Abs. 3 der Sechsten Richtlinie nicht zu den Hoheitsgebieten, die nicht als Inland gelten.

38      Soweit der Gerichtshof in diesem Zusammenhang außerdem entschieden hat, dass die Vorschriften der Sechsten Richtlinie mit unbedingter Verbindlichkeit für das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gelten und dass die Festlegung der Ausdehnung und der Grenzen dieses Gebiets im Einklang mit den Regeln des Völkerrechts Sache jedes Mitgliedstaats ist (Urteil vom 29. März 2007, Aktiebolaget NN, C‑111/05, EU:C:2007:195, Rn. 54 und 55 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), ist auch noch darauf hinzuweisen, dass die deutsche und die luxemburgische Regierung in ihren Erklärungen jeweils geltend machen, dass das Gebiet des deutsch-luxemburgischen Kondominiums sowohl von der Bundesrepublik Deutschland als auch vom Großherzogtum Luxemburg als „Inland“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie betrachtet wird.

39      Unter diesen Umständen werden die Beförderungsleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im deutsch-luxemburgischen Kondominium gegen Entgelt erbringt, im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie „im Inland“ erbracht und unterliegen damit der Mehrwertsteuer.

40      Unter Berücksichtigung des Status eines Kondominiums wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als gemeinschaftliches Hoheitsgebiet unter gemeinsamer Hoheitsgewalt zweier Mitgliedstaaten – und da die Sechste Richtlinie keine konkreten Angaben zu den Modalitäten der Besteuerung von Leistungen enthält, deren Ort in einem solchen Kondominium liegt –, können diese Leistungen im Übrigen grundsätzlich von jedem dieser beiden Mitgliedstaaten besteuert werden.

41      Wie der Generalanwalt im Wesentlichen in den Nrn. 68 und 69 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und wie vom Gerichtshof bereits entschieden, widerspricht indessen die Doppelbesteuerung derselben Umsätze dem Grundsatz der Steuerneutralität, der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. September 2003, Cookies World, C‑155/01, EU:C:2003:449, Rn. 60, sowie vom 23. November 2017, CHEZ Elektro Bulgaria und FrontEx International, C‑427/16 und C‑428/16, EU:C:2017:890, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Besteuerung von Leistungen, die in einem solchen Kondominium erbracht werden, durch einen der Mitgliedstaaten, die sich die Hoheitsgewalt über dieses Gebiet teilen, hat somit zur Folge, dass der andere Mitgliedstaat daran gehindert wird, diese Leistungen seinerseits zu besteuern. Dies gilt unbeschadet der Möglichkeit dieser Mitgliedstaaten, die Besteuerung der in diesem Kondominium erbrachten Leistungen im Rahmen einer Vereinbarung anders zu regeln, wie dies im vorliegenden Fall in Art. 5 Abs. 1 des Vertrags vom 19. Dezember 1984 vorgesehen ist, sofern die Nichtbesteuerung von Einnahmen und die Doppelbesteuerung vermieden werden.

42      Die deutsche Regierung macht jedoch geltend, dass die allgemeinen völkerrechtlichen Prinzipien, die ihrer Ansicht nach die einseitige Staatsgewalt innerhalb eines Kondominiums wie des deutsch-luxemburgischen Kondominiums beschränken und unter den Vorbehalt einer Einigung mit dem anderen beteiligten Staat stellen, bei der Anwendung und Auslegung der Sechsten Richtlinie zu beachten seien. Vor diesem Hintergrund sei eine Ausübung der Mehrwertsteuerzuständigkeit durch das Großherzogtum Luxemburg und die Bundesrepublik Deutschland in ihrem gemeinschaftlichen Hoheitsgebiet ohne eine auf der Grundlage von Art. 5 des Vertrags vom 19. Dezember 1984 geschlossene Vereinbarung nicht möglich. Zudem hindere diese Richtlinie die betreffenden Mitgliedstaaten nicht daran, im Einklang mit diesen Grundsätzen vorläufig von einer Besteuerung Abstand zu nehmen.

43      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass grundsätzlich jede Leistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt und Ausnahmen von diesem Grundsatz eng auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2021, Dubrovin & Tröger – Aquatics, C‑373/19, EU:C:2021:873, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung). Jeder Mitgliedstaat ist verpflichtet, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten (Urteil vom 21. November 2018, Fontana, C‑648/16, EU:C:2018:932, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Folgte man der in Rn. 42 dieses Urteils dargelegten Argumentation der deutschen Regierung, so hätten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ein Gebiet zu schaffen, in dem die dort erbrachten Leistungen jeglicher Mehrwertsteuerbelastung entgingen, obwohl die betreffenden Mitgliedstaaten dieses Gebiet im Sinne des Mehrwertsteuerrechts der Union als „Inland“ betrachten und für dieses Gebiet keine Ausnahme besteht.

45      Folgte man dieser Argumentation, so zöge dies auch einen Verstoß gegen den Grundsatz der Steuerneutralität nach sich, nach dem Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen (Urteil vom 16. März 2017, Identi, C‑493/15, EU:C:2017:219, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung), da auf Leistungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden dann keine Mehrwertsteuer erhoben würde, wohingegen die gleichen Dienstleistungen, wenn sie anderswo von anderen Wirtschaftsteilnehmern erbracht werden, sehr wohl der Mehrwertsteuer unterliegen.

46      Dass im vorliegenden Fall zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg hinsichtlich des deutsch-luxemburgischen Kondominiums keine Vereinbarung über die Erhebung der Mehrwertsteuer besteht, kann daher der Besteuerung von innerhalb dieses Kondominiums erbrachten Leistungen nicht entgegenstehen.

47      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat Dienstleistungen der touristischen Schifffahrt, die von einem in diesem Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden innerhalb eines Gebiets erbracht werden, das aufgrund eines zwischen diesem Staat und einem anderen Mitgliedstaat geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags ein gemeinschaftliches Hoheitsgebiet unter gemeinsamer Hoheitsgewalt dieser beiden Mitgliedstaaten bildet und für das im Unionsrecht keine Ausnahme vorgesehen ist, zu besteuern hat, sofern diese Leistungen nicht bereits durch den anderen Mitgliedstaat besteuert wurden. Die Besteuerung dieser Leistungen durch einen dieser Mitgliedstaaten hindert den anderen Mitgliedstaat daran, diese Leistungen seinerseits zu besteuern, unbeschadet der Möglichkeit dieser beiden Mitgliedstaaten, die Besteuerung von Leistungen, die in diesem Gebiet erbracht werden, anders zu regeln, insbesondere durch eine Vereinbarung, sofern die Nichtbesteuerung von Einnahmen und die Doppelbesteuerung vermieden werden.

 Kosten

48      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 geänderten Fassung

sind dahin auszulegen, dass

ein Mitgliedstaat Dienstleistungen der touristischen Schifffahrt, die von einem in diesem Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden innerhalb eines Gebiets erbracht werden, das aufgrund eines zwischen diesem Staat und einem anderen Mitgliedstaat geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags ein gemeinschaftliches Hoheitsgebiet unter gemeinsamer Hoheitsgewalt dieser beiden Mitgliedstaaten bildet und für das im Unionsrecht keine Ausnahme vorgesehen ist, zu besteuern hat, sofern diese Leistungen nicht bereits durch den anderen Mitgliedstaat besteuert wurden. Die Besteuerung dieser Leistungen durch einen dieser Mitgliedstaaten hindert den anderen Mitgliedstaat daran, diese Leistungen seinerseits zu besteuern, unbeschadet der Möglichkeit dieser beiden Mitgliedstaaten, die Besteuerung von Leistungen, die in diesem Gebiet erbracht werden, anders zu regeln, insbesondere durch eine Vereinbarung, sofern die Nichtbesteuerung von Einnahmen und die Doppelbesteuerung vermieden werden.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.