Language of document : ECLI:EU:T:2011:738

Rechtssache T‑52/09

Nycomed Danmark ApS

gegen

Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA)

„Humanarzneimittel – Genehmigung für das Inverkehrbringen – Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 – Antrag auf Freistellung von der Pflicht zur Vorlage eines pädiatrischen Prüfkonzepts − Ablehnende Entscheidung der EMA − Ermessensmissbrauch“

Leitsätze des Urteils

1.      Rechtsangleichung – Humanarzneimittel – Genehmigung für das Inverkehrbringen – Kinderarzneimittel – Diagnostische Arzneimittel – Entscheidung der Europäischen Arzneimittel-Agentur, mit der eine Freistellung von der Pflicht zur Vorlage eines pädiatrischen Prüfkonzepts abgelehnt wird

(Verordnung Nr. 1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates)

2.      Rechtsangleichung – Humanarzneimittel – Genehmigung für das Inverkehrbringen – Kinderarzneimittel – Diagnostische Arzneimittel – Entscheidung der Europäischen Arzneimittel-Agentur, mit der eine Freistellung von der Pflicht zur Vorlage eines pädiatrischen Prüfkonzepts abgelehnt wird

(Verordnung Nr. 1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates)

3.      Rechtsangleichung – Humanarzneimittel – Genehmigung für das Inverkehrbringen – Kinderarzneimittel – Diagnostische Arzneimittel – Entscheidung der Europäischen Arzneimittel-Agentur, mit der eine Freistellung von der Pflicht zur Vorlage eines pädiatrischen Prüfkonzepts abgelehnt wird

(Verordnung Nr. 1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates)

4.      Rechtsangleichung – Humanarzneimittel – Genehmigung für das Inverkehrbringen – Kinderarzneimittel – Diagnostische Arzneimittel – Entscheidung der Europäischen Arzneimittel-Agentur, mit der eine Freistellung von der Pflicht zur Vorlage eines pädiatrischen Prüfkonzepts abgelehnt wird

(Verordnung Nr. 1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates)

1.      Eine Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), mit der ein Antrag eines Unternehmens auf Freistellung von der Pflicht zur Vorlage eines pädiatrischen Prüfkonzepts im Rahmen des Zulassungsverfahrens für das Inverkehrbringen eines diagnostischen Arzneimittels gemäß der Verordnung Nr. 1901/2006 über Kinderarzneimittel abgelehnt wird, ist abzuweisen, soweit sie sich auf eine Rüge der fehlerhaften Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung stützt, da nach der in der angefochtenen Entscheidung vertretenen Auslegung dieser Vorschrift die Zweckbestimmung eines Arzneimittels objektiv allein anhand seiner Eigenschaften zu beurteilen ist.

Diese Bestimmung stellt auf die Krankheit oder den Zustand ab, für deren Behandlung (oder bei diagnostischen Arzneimitteln: Diagnose) das betreffende Arzneimittel „vorgesehen“ ist, ohne dass der Ausdruck „Indikation“ verwendet würde, obwohl dieser Ausdruck in der Verordnung Nr. 1901/2006, u. a. in deren Art. 11 Abs. 2, in anderen Zusammenhängen durchaus verwendet wird.

In teleologischer Hinsicht ist festzustellen, dass sich die Pharmaunternehmen bei der gegenteiligen Auslegung, wonach ein Arzneimittel nicht als ein Mittel angesehen werden könnte, das für die Diagnose anderer Krankheiten und Zustände vorgesehen ist als derjenigen, die der von seinem Sponsor festgelegten Indikation entsprechen, leicht ihren Verpflichtungen aus der Verordnung Nr. 1901/2006 entziehen könnten. Um eine Freistellung von diesen Verpflichtungen zu erhalten, müssten sie nämlich lediglich das Anwendungsgebiet der von ihnen entwickelten Arzneimittel hinreichend einschränken. So müsste ein Unternehmen, das ein Arzneimittel entwickelt hat, mit dem sich ein Symptom, das auf Krankheiten hindeutet, feststellen lässt, die sowohl bei der adulten als auch bei der pädiatrischen Bevölkerungsgruppe auftreten, einfach nur ein Anwendungsgebiet angeben, das die pädiatrische Bevölkerungsgruppe nicht betrifft, um mit Sicherheit eine Freistellung zu erhalten. In einem solchen Fall würde aber dem Mangel an für die pädiatrische Bevölkerungsgruppe geeigneten Arzneimitteln, zumindest von diagnostischen, nicht abgeholfen, obwohl dies eines der Ziele der Verordnung Nr. 1901/2006 darstellt.

Im Übrigen berücksichtigt der Pädiatrieausschuss nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 dieser Verordnung sämtliche ihm vorliegenden Informationen, was ebenfalls gegen eine solche Auslegung spricht. Die in der angefochtenen Entscheidung vertretene Auslegung steht in Einklang mit der Rolle und den Befugnissen, die die Verordnung Nr. 1901/2006 dem Pädiatrieausschuss einräumt. Sie bieten ihm die Möglichkeit, durch eine begründete und auf wissenschaftlich fundierte objektive Daten gestützte Stellungnahme festzustellen, dass sich mit dem in Rede stehenden diagnostischen Arzneimittel ein Symptom feststellen lässt, das nicht nur den Krankheiten und Zuständen zugeordnet werden kann, auf die die vom Sponsor angegebene Indikation abzielt, sondern auch einer oder mehreren Krankheiten oder Zuständen, die insbesondere in der pädiatrischen Bevölkerungsgruppe auftreten. In einem solchen Fall ist die EMA verpflichtet, den Freistellungsantrag zurückzuweisen, es sei denn, dem Antragsteller gelingt es im Rahmen des Verwaltungsverfahrens gemäß der Verordnung Nr. 1901/2006, diese These zu widerlegen, indem er vor dem Pädiatrieausschuss anhand objektiver Daten nachweist, dass sich mit dem betreffenden Arzneimittel nur Symptome feststellen lassen, die Krankheiten oder Zuständen zuzuordnen sind, die nur bei der adulten Bevölkerungsgruppe auftreten.

(vgl. Randnrn. 52-53, 62-64, 67)

2.      Eine Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung der Europäischen Arzneimittel-Agentur, mit der ein Antrag eines Unternehmens auf Freistellung von der Pflicht zur Vorlage eines pädiatrischen Prüfkonzepts im Rahmen des Zulassungsverfahrens für das Inverkehrbringen eines diagnostischen Arzneimittels gemäß der Verordnung Nr. 1901/2006 über Kinderarzneimittel abgelehnt wird, ist abzuweisen, soweit sie sich auf eine Verletzung der Grundsätze der unternehmerischen Freiheit und der Verhältnismäßigkeit aufgrund einer angeblich fehlerhaften Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung stützt, da nach der in der angefochtenen Entscheidung vertretenen Auslegung dieser Vorschrift die Zweckbestimmung eines Arzneimittels objektiv allein anhand seiner Eigenschaften zu beurteilen ist.

Zwar schränkt diese Auslegung die Möglichkeiten ein, eine Freistellung von der Pflicht zur Vorlage eines pädiatrischen Prüfkonzepts zu erhalten, und stellt somit letztlich eine Beschränkung des Rechts der Pharmaunternehmen auf freie Berufsausübung dar. Jedoch wird durch diese Beschränkung, mit der ein von der Verordnung Nr. 1901/2006 verfolgtes dem Gemeinwohl dienendes Ziel gewährleistet werden soll, nämlich die Verbesserung der ärztlichen Behandlung der pädiatrischen Bevölkerungsgruppe, der Wesensgehalt des beschränkten Rechts nicht angetastet; die Aussicht, eine Genehmigung für das Inverkehrbringen zu erhalten, wird nämlich weder vereitelt noch übermäßig geschmälert.

Dies gilt umso mehr, als die Nachteile der in dieser Entscheidung vertretenen Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1901/2006 durch Art. 20 Abs. 1, Art. 22 und Art. 36 Abs. 1 dieser Verordnung abgemildert werden.

(vgl. Randnrn. 91-96)

3.      Eine Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), mit der ein Antrag eines Unternehmens auf Freistellung von der Pflicht zur Vorlage eines pädiatrischen Prüfkonzepts im Rahmen des Zulassungsverfahrens für das Inverkehrbringen eines diagnostischen Arzneimittels gemäß der Verordnung Nr. 1901/2006 über Kinderarzneimittel abgelehnt wird, ist abzuweisen, soweit sie sich auf eine Verletzung der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Rechtsstaatlichkeit aufgrund einer angeblich fehlerhaften Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung stützt, da nach der in der angefochtenen Entscheidung vertretenen Auslegung dieser Vorschrift die Zweckbestimmung eines Arzneimittels objektiv allein anhand seiner Eigenschaften zu beurteilen ist.

Bei den Entscheidungen, die die EMA gemäß dieser Bestimmung zu erlassen hat, handelt es sich um gebundene Entscheidungen und nicht um Ermessensentscheidungen. Nach Berücksichtigung der begründeten Stellungnahme des Pädiatrieausschusses, der auf der Grundlage wissenschaftlich fundierter objektiver Daten lediglich Tatsachen feststellt, ist die EMA nämlich verpflichtet, die beantragte Freistellung zu gewähren, wenn die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind. Andernfalls hat sie den Antrag zurückzuweisen.

Folgt man der in der angefochtenen Entscheidung vertretenen Auslegung, sind die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Rechtsstaatlichkeit also in keiner Weise verletzt. Die Zurückweisung eines Antrags auf Freistellung von der Pflicht zur Vorlage eines pädiatrischen Prüfkonzepts ist dann nämlich auf wissenschaftliche objektive Gründe gestützt, die dem Betroffenen bekannt sind. Zudem hat er die Möglichkeit, diese Tatsachen im Rahmen des Verwaltungsverfahrens gemäß den Art. 13 und 25 der Verordnung Nr. 1901/2006 vor dem Erlass einer endgültigen Entscheidung zu widerlegen.

(vgl. Randnrn. 98-100)

4.      Eine Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), mit der ein Antrag eines Unternehmens auf Freistellung von der Pflicht zur Vorlage eines pädiatrischen Prüfkonzepts im Rahmen des Zulassungsverfahrens für das Inverkehrbringen eines diagnostischen Arzneimittels gemäß der Verordnung Nr. 1901/2006 über Kinderarzneimittel abgelehnt wird, ist abzuweisen, soweit sie sich auf das Vorliegen eines Ermessensmissbrauchs stützt.

Mit dem Begriff des Ermessensmissbrauchs ist gemeint, dass eine Verwaltungsbehörde ihre Befugnisse zu einem anderen Zweck als demjenigen ausübt, zu dem sie ihr übertragen worden sind. Eine Entscheidung ist nur dann ermessensmissbräuchlich, wenn aufgrund objektiver, schlüssiger und übereinstimmender Indizien anzunehmen ist, dass sie zu anderen als den angegebenen Zwecken getroffen wurde. Die Gefahr eines Ermessensmissbrauchs besteht mithin nur dann, wenn das betreffende Organ über einen weiten Ermessensspielraum verfügt. Bei gebundenen Entscheidungen kommt ein Ermessensmissbrauch hingegen überhaupt nicht in Betracht.

Bei den Interventionen des Pädiatrieausschusses, die sich auf die Abgabe von Stellungnahmen beschränken, mit denen auf der Grundlage wissenschaftlich fundierter objektiver Daten Tatsachen festgestellt werden, und bei den Entscheidungen der EMA über Anträge auf Freistellung von der Pflicht zur Vorlage eines pädiatrischen Prüfkonzepts gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1901/2006 handelt es sich aber gerade um gebundene Entscheidungen. Mithin kommt bei ihnen ein Ermessensmissbrauch nicht in Betracht.

(vgl. Randnrn. 103-105)