Language of document : ECLI:EU:C:2024:179

Rechtssache C606/21

Doctipharma SAS

gegen

Union des Groupements de pharmaciens d’officine (UDGPO)
und
Pictime Coreyre

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour d’appel de Paris)

 Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 29. Februar 2024

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Humanarzneimittel – Richtlinie 2001/83/EG – Art. 85c – Anwendungsbereich – Verkauf von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit im Fernabsatz – Nicht verschreibungspflichtige Humanarzneimittel – Personen, die zum Verkauf von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit im Fernabsatz ermächtigt oder befugt sind – Befugnis der Mitgliedstaaten, aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigte Bedingungen für den auf ihrem Hoheitsgebiet durchgeführten Einzelhandelsvertrieb von Arzneimitteln, die online verkauft werden, aufzustellen – Dienste der Informationsgesellschaft – Richtlinie 98/34/EG – Richtlinie (EU) 2015/1535 – Dienst, der in der Zusammenführung von Apothekern und Kunden für den Online-Verkauf von Arzneimitteln besteht“

1.        Rechtsangleichung – Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft – Richtlinien 98/34 und 2015/1535 – Dienst der Informationsgesellschaft – Begriff – Dienst, der in der Zusammenführung von Apothekern und Kunden für den Online-Verkauf nicht verschreibungspflichtiger Humanarzneimittel besteht – Einbeziehung

(Richtlinie 98/34 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Richtlinie 98/48 geänderten Fassung, Art. 1 Nr. 2; Richtlinie 2000/31, Art. 2 Buchst. a; Richtlinie 2015/1535, Art. 1 Abs. 1 Buchst. b)

(vgl. Rn. 27, 29-33, 35, 38, Tenor 1)

2.        Rechtsangleichung – Humanarzneimittel – Richtlinie 2001/83 – Nicht verschreibungspflichtige Humanarzneimittel – Personen, die zum Verkauf von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit im Fernabsatz ermächtigt oder befugt sind – Möglichkeit der Mitgliedstaaten, die Erbringung eines Dienstes zu verbieten, der in der Zusammenführung von Apothekern und Kunden für den Verkauf nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel mittels einer Website besteht – Zulässigkeit – Voraussetzung

(Richtlinie 2001/83 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Richtlinie 2011/62 geänderten Fassung, Art. 85c)

(vgl. Rn. 45, 48-55, 57, Tenor 2)


Zusammenfassung

Der Gerichtshof, der von der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) um Vorabentscheidung ersucht worden ist, erläutert die Bedeutung des Begriffs „Dienst der Informationsgesellschaft“ und gibt Hinweise zur Auslegung, anhand deren sich beurteilen lässt, ob das von einem Mitgliedstaat aufgestellte Verbot eines mittels einer Website erbrachten Dienstes, der darin besteht, Apotheker und Kunden für den Online-Verkauf nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel zusammenzuführen (im Folgenden: erbrachter Dienst), mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Doctipharma richtete die Website www.doctipharma.fr ein, auf der Internetnutzer über Websites von Apotheken rezeptfrei pharmazeutische Erzeugnisse und Arzneimittel kaufen konnten.

Auf dieser Website abonnierten die Apotheker über eine an Doctipharma gezahlte monatliche Abonnementgebühr den Zugang zu einer Online-Verkaufsplattform, und die Kunden mussten ein Kundenkonto einrichten, um Zugang zu den Websites der Apotheker ihrer Wahl zu erhalten.

Da die Union des Groupements de pharmaciens d’officine (UDGPO) der Ansicht war, dass Doctipharma durch diese Praxis am elektronischen Arzneimittelhandel teilnehme, erhob sie Klage gegen diese beim Tribunal de commerce de Nanterre (Handelsgericht Nanterre, Frankreich), das die Rechtswidrigkeit der Website feststellte und Doctipharma aufgab, ihre Tätigkeit einzustellen. Die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) hob das Urteil der Cour d’appel de Versailles (Berufungsgericht Versailles, Frankreich), mit dem das erstinstanzliche Urteil aufgehoben worden war, auf. Sie war der Ansicht, dass Doctipharma, indem sie Apotheker und potenzielle Patienten zusammengeführt habe, beim rezeptfreien Verkauf von Arzneimitteln eine Vermittlerrolle gespielt und am elektronischen Handel mit Arzneimitteln beteiligt gewesen sei, ohne die nach den nationalen Rechtsvorschriften erforderliche Eigenschaft eines Apothekers zu haben. Sie verwies die Rechtssache an die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich), das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache, zurück.

Angesichts der unterschiedlichen Auffassungen der französischen Gerichte hat das vorlegende Gericht beschlossen, dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Es ersucht den Gerichtshof um Auslegung der Richtlinie 98/34(1), um festzustellen, ob der erbrachte Dienst unter den Begriff „Dienst der Informationsgesellschaft“ fällt, und von Art. 85c der Richtlinie 2001/83(2), um in Erfahrung zu bringen, ob die Mitgliedstaaten auf der Grundlage dieser Bestimmung die Erbringung des in Rede stehenden Dienstes verbieten können.

Würdigung durch den Gerichtshof

Was erstens die Voraussetzungen betrifft, die erfüllt sein müssen, um einen Dienst als unter den Begriff „Dienst der Informationsgesellschaft“ im Sinne der Richtlinien 98/34 und 2015/1535(3) fallend einzustufen, führt der Gerichtshof zunächst aus, dass es unerheblich ist, dass zum einen Doctipharma von den Apothekern, die den Zugang zu ihrer Plattform abonnierten, auf der Grundlage einer Pauschale vergütet wurde und dass zum anderen für den von Doctipharma erbrachten Dienst von den Apothekern eine monatliche Abonnementgebühr an Doctipharma gezahlt und ein Prozentsatz des Verkaufsbetrags durch die Plattform einbehalten wurde, da diese Umstände – wenn sie erwiesen wären – bedeuten würden, dass davon auszugehen ist, dass der in Rede stehende Dienst die Voraussetzung erfüllt, gegen Entgelt erbracht worden zu sein. Sodann ergibt sich die Einstufung des in Rede stehenden Dienstes als „Dienst der Informationsgesellschaft“ auch daraus, dass er über eine Website erfolgt, die nicht die gleichzeitige Anwesenheit des Diensteanbieters und des Kunden oder Apothekers erfordert, sowie daraus, dass der Dienst auf individuellen Abruf der Apotheker und der Kunden erbracht wird.

Der Gerichtshof schließt daraus, dass ein Dienst, der auf einer Website erbracht wird und in der Zusammenführung von Apothekern und Kunden für den Verkauf nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel über Websites von Apotheken besteht, die diesen Dienst abonniert haben, unter den Begriff „Dienst der Informationsgesellschaft“ fällt.

Was zweitens die Möglichkeit der Mitgliedstaaten betrifft, einen solchen Vermittlungsdienst nach Art. 85c der Richtlinie 2001/83 zu verbieten, weist der Gerichtshof darauf hin, dass allein die Mitgliedstaaten dafür zuständig sind, die natürlichen oder juristischen Personen zu bestimmen, die zur Abgabe von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit im Fernabsatz durch Dienste der Informationsgesellschaft ermächtigt oder befugt sind.

Er ist der Ansicht, dass Art. 85c Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2001/83 das vorlegende Gericht dazu verpflichtet, zu prüfen, ob davon auszugehen ist, dass sich der Anbieter des in Rede stehenden Dienstes durch eine eigene und vom Verkauf unabhängige Leistung darauf beschränkt, Verkäufer mit Kunden zusammenzuführen, oder ob dieser Anbieter selbst als Verkäufer anzusehen ist.

Sollte im vorliegenden Fall Doctipharma aufgrund dieser Prüfung selbst als Verkäuferin anzusehen sein, stünde Art. 85c Abs. 1 Buchst. a dem Verbot dieses Dienstes durch den Mitgliedstaat, in dem Doctipharma ihren Sitz hat, nicht entgegen. Tatsächlich kann ein Mitgliedstaat den rezeptfreien Verkauf von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit im Fernabsatz durch Dienste der Informationsgesellschaft allein Personen vorbehalten, die die Eigenschaft eines Apothekers haben.

Sollte sich dagegen herausstellen, dass Doctipharma eine eigene und vom Verkauf unabhängige Dienstleistung erbringt, könnte der erbrachte Dienst nicht auf der Grundlage von Art. 85c Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 verboten werden und würde nicht unter den Begriff der „Bedingungen für den Einzelhandelsvertrieb“ von Arzneimitteln, die im Fernabsatz an die Öffentlichkeit verkauft werden, fallen. Der erbrachte Dienst muss nämlich als „Dienst der Informationsgesellschaft“ eingestuft werden. Art. 85c Abs. 1 sieht jedoch ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten, unbeschadet der nationalen Rechtsvorschriften, mit denen das Angebot verschreibungspflichtiger Arzneimittel an die Öffentlichkeit zum Verkauf im Fernabsatz verboten wird, sicherstellen, dass der Öffentlichkeit Arzneimittel zum Verkauf im Fernabsatz durch Dienste der Informationsgesellschaft angeboten werden. Es wäre daher nicht schlüssig, anzunehmen, dass die Mitgliedstaaten es verbieten könnten, einen solchen Dienst in Anspruch zu nehmen.


1      Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft (ABl. 1998, L 204, S. 37) in der durch die Richtlinie 98/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juli 1998 (ABl. 1998, L 217, S. 18) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 98/34).


2      Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. 2001, L 311, S. 67) in der durch die Richtlinie 2011/62/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2011 (ABl. 2011, L 174, S. 74) geänderten Fassung.


3      Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 98/34 und Art. 1 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/1535 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft (ABl. 2015, L 241, S. 1) haben den gleichen Wortlaut. In diesen Artikeln wird der Begriff „Dienst der Informationsgesellschaft“ ausgehend von vier Voraussetzungen definiert: „jede in der Regel gegen Entgelt elektronisch im Fernabsatz und auf individuellen Abruf eines Empfängers erbrachte Dienstleistung“.