Language of document : ECLI:EU:C:2024:192

Rechtssache C222/22

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl

gegen

JF

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs [Österreich])

 Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 29. Februar 2024

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asylpolitik – Richtlinie 2011/95/EU – Voraussetzungen für einen Anspruch auf internationalen Schutz – Inhalt des zu gewährenden Schutzes – Art. 5 – Aus Nachfluchtgründen entstehender Bedarf an internationalem Schutz – Folgeantrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Art. 5 Abs. 3 – Begriff der ‚Umstände, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat‘ – Missbrauchsabsicht und Absicht, das anwendbare Verfahren zu instrumentalisieren – Aktivitäten im Aufnahmemitgliedstaat, die nicht Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind – Religionswechsel“

Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus – Richtlinie 2011/95 – Folgeantrag – Aus Nachfluchtgründen entstehender Bedarf an internationalem Schutz – Umstände, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat – Möglichkeit der Mitgliedstaaten, die Anerkennung als Flüchtling auszuschließen – Voraussetzung – Umstände, die von einer Missbrauchsabsicht oder einer Absicht zeugen, das Verfahren zu instrumentalisieren – Automatischer Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling außer bei Vorliegen von Umständen, die Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung sind – Unzulässigkeit

(Richtlinie 2011/95 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 3 und Art. 5 Abs. 3)

(vgl. Rn. 28, 32, 34, 36-37, 40, 44, 46 und Tenor)

Zusammenfassung

Der vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) um Vorabentscheidung ersuchte Gerichtshof erläutert die Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95(1) die Anerkennung eines Bedürfnisses nach internationalem Schutz infolge von Aktivitäten eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen nach Verlassen des Herkunftslands beschränken können.

2015 stellte JF, ein iranischer Staatsangehöriger, in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde im Jahr 2018 endgültig abgewiesen.

2019 stellte JF einen Folgeantrag im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32(2), in dem er geltend machte, dass er zwischenzeitlich zum Christentum konvertiert sei und fürchte, aus diesem Grund in seinem Herkunftsland verfolgt zu werden. Mit Bescheid vom Juni 2020 verweigerte die zuständige österreichische Behörde ihm die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, da die geltend gemachte Verfolgungsgefahr einen Nachfluchtgrund darstelle und vom Antragsteller selbst geschaffen worden sei. Da JF im Fall der Rückkehr in den Iran aufgrund seiner Konversion der Gefahr einer individuellen Verfolgung ausgesetzt sei, erkannte ihm die zuständige Behörde den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

Im September 2020 gab das Bundesverwaltungsgericht (Österreich) der von JF gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde statt. Es vertrat die Ansicht, dass der Antrag nicht missbräuchlich sei, und dass das Fehlen von Anhaltspunkten dafür, dass die Konversion von JF Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung gewesen sei, nicht ausreiche, um die Verweigerung der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zu rechtfertigen. Die zuständige österreichische Behörde erhob gegen dieses Erkenntnis eine ordentliche Amtsrevision an das vorlegende Gericht.

Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht beschlossen, dem Gerichtshof die Frage zu stellen, ob Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95(3) einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten aufgrund eines Folgeantrags, der auf eine Verfolgungsgefahr gestützt wird, die auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, von der doppelten Voraussetzung abhängig macht, dass es sich bei diesen Umständen einerseits um im betreffenden Mitgliedstaat erlaubte Aktivitäten handelt und sie andererseits Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung sind.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 im Verhältnis zu dem in den ersten beiden Absätzen dieses Artikels(4) aufgestellten Grundsatz Ausnahmecharakter hat, da er zulässt, dass eine Verfolgungsgefahr, die einem Folgeantrag zugrunde liegt und auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, „in der Regel“ zum Ausschluss der Anerkennung als Flüchtling führt. Die den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis ist daher eng zu fassen.

Die auf diese Bestimmung gestützte Weigerung, aufgrund eines Folgeantrags die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, zielt darauf ab, eine Missbrauchsabsicht des Antragstellers zu ahnden, der die Umstände, auf denen die Verfolgungsgefahr beruht, der er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre, „durch eigenes Zutun erzeugt“ und damit das anwendbare Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes instrumentalisiert hat.

Die Frage, ob die geltend gemachten Umstände von einer Missbrauchsabsicht und einer Absicht zeugen, das anwendbare Verfahren zu instrumentalisieren, erfordert eine individuelle Prüfung des Antrags anhand aller in Rede stehenden Umstände durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95. Hierzu weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Umsetzung von Art. 5 Abs. 3 dieser Richtlinie es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt, eine Vermutung aufzustellen, wonach jeder Folgeantrag, der auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, auf eine Missbrauchsabsicht und die Absicht zurückzuführen ist, das Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes zu instrumentalisieren. Eine gegenteilige Auslegung würde nämlich Art. 4 der Richtlinie 2011/95, der für alle Anträge auf internationalen Schutz gilt, und zwar unabhängig von den Verfolgungsgründen, auf die diese Anträge gestützt werden, die praktische Wirksamkeit nehmen.

In Fällen, in denen nach einer individuellen Prüfung des Folgeantrags festgestellt wird, dass die vom Antragsteller geltend gemachten Umstände von einer Missbrauchsabsicht des Antragstellers sowie der Absicht zeugen, das anwendbare Verfahren zu instrumentalisieren, ermöglicht Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 es dem betreffenden Mitgliedstaat folglich, vorzusehen, dass diesem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie(5) grundsätzlich nicht zuerkannt wird. Der Ausdruck „unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention(6)“ in Art. 5 Abs. 3 dieser Richtlinie gebietet jedoch, dass der Antragsteller im betreffenden Mitgliedstaat trotzdem die durch die Genfer Flüchtlingskonvention gewährleisteten Rechte – die keinem Vorbehalt unterliegen dürfen – in Anspruch nehmen kann, falls die zuständige nationale Behörde feststellt, dass der Antragsteller für den Fall der Rückkehr in sein Herkunftsland wahrscheinlich einer Verfolgung ausgesetzt ist. Zu diesen Rechten zählt insbesondere der Grundsatz der Nichtzurückweisung gemäß Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention.

Schließlich führt der Gerichtshof aus, dass der Ausdruck „unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“ einer im nationalen Recht vorgesehenen Voraussetzung, nach der die Aktivitäten, auf die der Antragsteller die Verfolgungsgefahr stützt, im Aufnahmemitgliedstaat erlaubt sein müssen, nicht entgegensteht. Nach Art. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention hat „[j]eder Flüchtling … gegenüber dem Land, in dem er sich befindet, Pflichten, zu denen insbesondere [die] Verpflichtung gehört, die Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften sowie die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung getroffenen Maßnahmen zu beachten“.

Nach alledem steht Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 einer nationalen Regelung entgegen, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund eines Folgeantrags, der auf eine Verfolgungsgefahr gestützt wird, die auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, von der Voraussetzung abhängig macht, dass diese Umstände Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung des Antragstellers sind.


1      Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9, berichtigt in ABl. 2017, L 167, S. 58).


2      Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60). Nach Art. 2 Buchst. q dieser Richtlinie ist ein „Folgeantrag“ ein weiterer Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller abgelehnt hat.


3      Nach dieser Bestimmung „[können die Mitgliedstaaten] unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention … festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat“.


4      Art. 5 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95 bestimmt: „(1) Die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, kann auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Antragsteller das Herkunftsland verlassen hat. (2) Die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, kann auf Aktivitäten des Antragstellers nach Verlassen des Herkunftslandes beruhen, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind.“


5      Nach dieser Bestimmung bezeichnet „Flüchtlingseigenschaft“ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder eines Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat.


6      Am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnetes Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), das am 22. April 1954 in Kraft trat und durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat, ergänzt wurde (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention).