Language of document : ECLI:EU:C:2024:181

Rechtssache C299/22

M. D.

gegen

„Tez Tour“ UAB

(Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos Aukščiausiasis Teismas)

 Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 29. Februar 2024

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Pauschalreisen und verbundene Dienstleistungen – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Art. 12 Abs. 2 – Recht eines Reisenden, von einem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten – Unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände – Ausbreitung von Covid‑19 – Fehlen einer amtlichen Empfehlung, von Reisen abzusehen – Berücksichtigung persönlicher Umstände, die sich auf die individuelle Situation des betreffenden Reisenden beziehen – Erhebliche Beeinträchtigung der Durchführung der Pauschalreise oder der Beförderung von Personen an den Bestimmungsort – Zum Zeitpunkt des Abschlusses des betreffenden Pauschalreisevertrags bestehende oder vorhersehbare Umstände – Möglichkeit, die Beeinträchtigung zu berücksichtigen, die sich am Abreise- oder Rückreiseort und an anderen Orten ergibt“

1.        Rechtsangleichung – Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen – Richtlinie 2015/2302 – Rücktritt vom Pauschalreisevertrag – Recht, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurückzutreten – Feststellung, dass am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten – Voraussetzung – Veröffentlichung einer amtlichen Empfehlung, von Reisen abzusehen, oder eines amtlichen Beschlusses, durch den das betreffende Gebiet als Risikogebiet eingestuft wird – Fehlen

(Richtlinie 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 Nr. 12 und Art. 12 Abs. 2)

(vgl. Rn. 31-36, 40, 44, Tenor 1)

2.        Rechtsangleichung – Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen – Richtlinie 2015/2302 – Rücktritt vom Pauschalreisevertrag – Recht, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurückzutreten – Unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände, die die Durchführung einer Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen – Begriff – Umstände, die die Durchführung der Pauschalreise unmöglich machen – Umstände, die dazu führen, dass bei Durchführung der Pauschalreise die Gesundheit und Sicherheit der Reisenden gefährdet wäre – Berücksichtigung persönlicher Faktoren, die sich auf die individuelle Situation der Reisenden beziehen – Einbeziehung – Zeitpunkt der Beurteilung, ob die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigt wird – Normal informierter, angemessen aufmerksamer und verständiger Durchschnittsreisender

(Richtlinie 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 12 Abs. 2)

(vgl. Rn. 48, 53-62, 65-72, Tenor 2)

3.        Rechtsangleichung – Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen – Richtlinie 2015/2302 – Rücktritt vom Pauschalreisevertrag – Recht, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurückzutreten – Unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände – Begriff – Situation, die ein Reisender zum Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalreisevertrags kannte oder vorhersehen konnte – Nichteinbeziehung – Situation, die sich nach Vertragsabschluss geändert hat – Neue Situation – Einbeziehung

(Richtlinie 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 12 Abs. 2)

(vgl. Rn. 74-76, 79-81, 83, Tenor 3)

4.        Rechtsangleichung – Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen – Richtlinie 2015/2302 – Rücktritt vom Pauschalreisevertrag – Recht, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Vertrag zurückzutreten – Unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände, die am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe auftreten – Erhebliche Beeinträchtigung der Durchführung der Pauschalreise oder der Beförderung von Personen an den Bestimmungsort – Beurteilungskriterien – Berücksichtigung einer Beeinträchtigung, die am Abreiseort oder an den Orten, die mit dem Beginn der Reise und mit der Rückreise verbunden sind, auftritt – Voraussetzung – Beeinträchtigung, die sich auf die Durchführung der Pauschalreise auswirkt

(Richtlinie 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 12 Abs. 2)

(vgl. Rn. 90-95, Tenor 4)

Zusammenfassung

Der Gerichtshof, der vom Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) um Vorabentscheidung ersucht wurde, erläutert im Kontext der Covid‑19-Pandemie das Recht(1) der Reisenden, von einem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten, wenn unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände vorliegen.

Am 10. Februar 2020 schloss M. D. mit Tez Tour einen Pauschalreisevertrag, in dem sich diese verpflichtete, für M. D. und seine Familie eine Reise in die Vereinigten Arabischen Emirate vom 1. bis zum 8. März 2020 zu organisieren. Die betreffende Pauschalreise umfasste u. a. einen Flug von Vilnius (Litauen) nach Dubai (Vereinigte Arabische Emirate) und zurück sowie sieben Übernachtungen in einem Hotel.

Am 27. Februar 2020 teilte M. D. Tez Tour mit, dass er wegen des Gesundheitsrisikos im Zusammenhang mit der Ausbreitung von Covid‑19 vom Vertrag zurücktreten wolle. Dies lehnte Tez Tour ab. Daher rief M. D die zuständigen Gerichte an und machte geltend, dass am Bestimmungsort der Pauschalreise oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände aufgetreten seien, die die sichere – d. h. insbesondere ohne Unannehmlichkeiten oder Gesundheitsrisiken – Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort der Reise hätten unmöglich machen können. Dieses Vorbringen wurde sowohl im ersten Rechtszug als auch im Berufungsverfahren zurückgewiesen.

Das mit einer von M. D. eingelegten Kassationsbeschwerde befasste vorlegende Gericht hat beschlossen, den Gerichtshof um Auslegung der Pauschalreiserichtlinie und insbesondere um Klärung zu ersuchen, unter welchen Voraussetzungen sich ein Reisender auf das Vorliegen „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie(2) berufen kann, wenn die zuständigen nationalen Behörden erst am 12. März 2020, also nach dem Rücktritt, für Reisende die Empfehlung ausgegeben haben, aufgrund der Covid‑19-Pandemie in den kommenden Monaten alle Reisen ins Ausland, einschließlich der Vereinigten Arabischen Emirate, zu verschieben.

Würdigung durch den Gerichtshof

Als Erstes führt der Gerichtshof aus, dass die Feststellung, dass am Bestimmungsort einer Reise oder in dessen unmittelbarer Nähe „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“(3) im Sinne der Pauschalreiserichtlinie(4) auftreten, nicht von der Voraussetzung abhängt, dass die zuständigen Behörden Reisenden offiziell davon abraten, sich in das betreffende Gebiet zu begeben, oder das betreffende Gebiet offiziell als „Risikogebiet“ einstufen. Zunächst stünde ein solches Erfordernis im Widerspruch zum ureigenen Wesen entsprechender Empfehlungen und Beschlüsse, die grundsätzlich erst dann erlassen werden, wenn bereits Gesundheits- oder andere Risiken vorliegen, die sich unter den Begriff „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“(5) subsumieren lassen. Sodann ist ein solches Erfordernis geeignet, das mit der Pauschalreiserichtlinie verfolgte Ziel der Harmonisierung zu gefährden, da die Voraussetzungen für den Erlass solcher Empfehlungen oder Beschlüsse in den verschiedenen Mitgliedstaaten nicht einheitlich sind. Schließlich könnte das Erfordernis, dass einschlägige amtliche Empfehlungen oder Beschlüsse ausgesprochen bzw. getroffen worden sind, die Ausübung des Rechts auf kostenfreien Rücktritt(6) unmöglich machen, da gerade unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände unabhängig davon vorliegen können, ob amtliche Empfehlungen oder Beschlüsse erlassen worden sind.

Als Zweites äußert sich der Gerichtshof erstens zu der Frage, welche Art von Umständen unter die Wendung „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände …, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“(7) fallen. So weist er darauf hin, dass das Recht, von einem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten, nicht davon abhängt, dass Umstände aufgetreten sind, die die Durchführung der betreffenden Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort objektiv unmöglich machen. In diesem Sinne kann bei einer Gesundheitskrise wie der Ausbreitung von Covid‑19 in Anbetracht des erheblichen Risikos, das sie für die menschliche Gesundheit darstellt, davon ausgegangen werden, dass sie eine „erhebliche Beeinträchtigung der Durchführung der Pauschalreise oder der Beförderung von Personen an den Bestimmungsort“ darstellt, auch wenn sie die Durchführung der Reise nicht zwangsläufig objektiv unmöglich macht.

Zur Beurteilung, ob eine solche Beeinträchtigung vorliegt, führt der Gerichtshof aus, dass persönliche Faktoren, die sich auf die individuelle Situation der Reisenden beziehen – wie beispielsweise, ob die Reise von Erwachsenen mit Kindern unter 14 Jahren unternommen wird, oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit erhöhtem Risiko –, sich auf die Schwere der Beeinträchtigung, die sich aus den von einem Reisenden geltend gemachten unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umständen ergibt, auswirken können, sofern sie objektiver Natur sind. Solche Faktoren können sich nämlich auf die Möglichkeit auswirken, die betreffende Pauschalreise zufriedenstellend zu erbringen. Solche persönlichen Faktoren allein können jedoch keine Rechtfertigung dafür sein, dass ein Reisender von dem Recht Gebrauch macht, von einem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten. Vielmehr sind diese Faktoren nur dann relevant, wenn sie sich auf die Beurteilung der mit dem Auftreten „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ objektiv zusammenhängenden Beeinträchtigung auswirken können.

Somit kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Wendung „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände …, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“ auch Umstände erfasst, die die Durchführung zwar nicht verhindern, aber dazu führen, dass die Gesundheit und Sicherheit der Reisenden – gegebenenfalls unter Berücksichtigung persönlicher Faktoren, die sich auf die individuelle Situation der Reisenden beziehen – gefährdet wäre.

Zweitens führt der Gerichtshof zu der Beurteilung, ob die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigt wird, zum einen aus, dass sich diese Beurteilung hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände, auf die sich der betreffende Reisende beruft, die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen werden, auf eine „Prognose“ stützen muss. Da sich diese Beeinträchtigung nämlich erst bei der Durchführung der Pauschalreise endgültig zeigt, ist sie zum Zeitpunkt des Rücktritts zwangsläufig vorausschauend zu beurteilen. Zum anderen ist die Beurteilung, ob eine erhebliche Beeinträchtigung vorliegt, aus der Sicht eines normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsreisenden zum Zeitpunkt des Rücktritts vom betreffenden Pauschalreisevertrag vorzunehmen.

Als Drittes stellt der Gerichtshof fest, dass die Tatsache, dass auf „unvermeidbare, außergewöhnliche“(8) Umstände abgestellt wird, für sich genommen darauf hindeutet, dass der Begriff „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ nur Situationen erfasst, die zum einen zum Zeitpunkt des Abschlusses eines Pauschalreisevertrags nicht bestanden und zum anderen unvorhersehbar waren. Somit können Umstände, die ein Reisender zu diesem Zeitpunkt bereits kannte oder vorhersehen konnte, von ihm für diesen Begriff nicht herangezogen werden und folglich nicht die Ausübung des Rechts rechtfertigen, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr von einem solchen Vertrag zurückzutreten. Was die Beurteilung einer Situation betrifft, die zum Zeitpunkt des Abschlusses eines Pauschalreisevertrags bestand oder vorhersehbar war, sich aber ständig änderte, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich eine solche Situation nach Abschluss dieses Vertrags erheblich verändert hat, so dass sie sich von derjenigen unterscheidet, die der betreffende Reisende kannte oder vernünftigerweise vorhersehen konnte, als er den Vertrag abschloss. In einem solchen Fall könnten diese Veränderungen zu einer neuen Situation führen, die als solche unter die Definition des Begriffs „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ fallen könnte.

Als Viertes und Letztes führt der Gerichtshof in Bezug auf den Ort, an dem die durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände verursachte Beeinträchtigung eintreten muss, aus, dass diese Beeinträchtigung, wenn sie über den Bestimmungsort hinausgeht, um u. a. den Abreise- oder Rückreiseort oder Orte von Zwischenstationen sowie Anschlussverbindungen zu erreichen, geeignet ist, sich auf die Durchführung der betreffenden Pauschalreise auszuwirken. Sie muss daher für die Zwecke der Anwendung von Art. 12 Abs. 2 der Pauschalreiserichtlinie berücksichtigt werden können. Insoweit ist es insbesondere möglich, dass am Abreiseort als Folge der am Bestimmungsort herrschenden Umstände Maßnahmen – wie etwa Beschränkungen für an den Abreiseort zurückkehrende Reisende – ergriffen werden, die dann in die Beurteilung, ob die Durchführung des betreffenden Pauschalreisevertrags erheblich beeinträchtigt wird, einfließen könnten.


1      Verankert in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG (ABl. 2015, L 326, S. 1, im Folgenden: Pauschalreiserichtlinie).


2      In dieser Bestimmung heißt es: „Ungeachtet des Absatzes 1 hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen.“


3      Dieser Begriff wird in Art. 3 Nr. 12 der Pauschalreiserichtlinie definiert als „Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die eine solche Situation geltend macht, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären“.


4      Insbesondere Art. 3 Nr. 12 und Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie.


5      Im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Pauschalreiserichtlinie.


6      Im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Pauschalreiserichtlinie.


7      Im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Pauschalreiserichtlinie.


8      Als Teil des Begriffs „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Pauschalreiserichtlinie.