Language of document : ECLI:EU:C:2024:176

Rechtssache C437/22

Strafverfahren

gegen

R. M.
und
E. M.

(Vorabentscheidungsersuchen des Riigikohus)

 Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 29. Februar 2024

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Landwirtschaft – Gemeinsame Agrarpolitik – Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) – Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union – Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 – Art. 7 – Verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen – Verordnung Nr. 1306/2013 – Art. 54 und 56 – Delegierte Verordnung (EU) Nr. 640/2014 – Art. 35 – Wiedereinziehung zu Unrecht gezahlter Beträge von Personen, die an der Begehung der Unregelmäßigkeit mitgewirkt haben – Begriff ‚Begünstigter‘“

1.        Landwirtschaft – Finanzierung durch den ELER – Rechnungsabschluss – Wiedereinziehung zu Unrecht gezahlter Beträge – Zur Erstattung verpflichtete Schuldner – Personen, die, ohne als Begünstigte dieser Beihilfe angesehen werden zu können, vorsätzlich falsche Angaben gemacht haben, um sie zu erhalten – Einbeziehung

(Verordnung Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, 39. Erwägungsgrund, Art. 54 Abs. 1 und Art. 56 Abs. 1; Verordnung Nr. 2988/95, Art. 7; Verordnung Nr. 640/2014 der Kommission, Art. 35 Abs. 6)

(vgl. Rn. 49-54, 60-63, Tenor 1)

2.        Landwirtschaft – Gemeinsame Agrarpolitik – Finanzierung durch den ELER – Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums – Ablehnung oder Rücknahme einer Beihilfe – Begünstigter, der falsche Nachweise vorgelegt hat, um die Förderung zu erhalten – Begriff „Begünstigter“ – Vertreter einer juristischen Person, der betrügerische Handlungen begangen hat, um eine Beihilfe für diese juristische Person zu erhalten – Ausschluss – Vertreter, dem die von der juristischen Person erwirtschafteten Gewinne zufließen – Keine Auswirkung

(Verordnung Nr. 640/2014 der Kommission, Art. 35 Abs. 6)

(vgl. Rn. 67, 68, Tenor 2)

Zusammenfassung

Der vom Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland) um Vorabentscheidung ersuchte Gerichtshof bestätigt, dass ein Mitgliedstaat eine aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) finanzierte Beihilfe, die zu Unrecht an eine begünstigte Gesellschaft gezahlt wurde, unmittelbar von den natürlichen Personen, die ihre gesetzlichen Vertreter sind, zurückfordern kann, wenn diese betrügerische Handlungen begangen haben, um diese Beihilfe zu erhalten, auch wenn sie selbst nicht als Empfänger der Beihilfe angesehen werden können.

Die Gesellschaft X OÜ, die mit der Gesellschaft Y OÜ fusioniert hatte, erhielt Beihilfen im Rahmen der Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums Estlands für die Jahre 2007 bis 2013 und für die Jahre 2014 bis 2020.

R. M. und seine Ehefrau E. M. waren nacheinander Vertreter dieser Gesellschaft.

Im Rahmen eines Strafverfahrens gegen R. M. und E. M. wurde R. M. zunächst vom Viru Maakohus (Gericht erster Instanz Viru, Estland), dann vom Tartu Ringkonnakohus (Bezirksgericht Tartu, Estland) des Subventionsbetrugs in drei Fällen zugunsten der Gesellschaft X und E. M. als Mittäterin in zwei dieser Betrugsfälle für schuldig befunden, weil sie der zuständigen estnischen Behörde vorsätzlich falsche Angaben gemacht hätten, um die in Rede stehenden Beihilfen zu erhalten.

Außerdem verurteilten diese Gerichte R. M. und E. M. zur Rückzahlung dieser von der Gesellschaft X zu Unrecht erhaltenen Beihilfen an die Republik Estland.

R. M. und E. M. legten beim Obersten Gericht, dem vorlegenden Gericht, mit der Begründung Kassationsbeschwerden ein, dass die Wiedereinziehung einer zu Unrecht erhaltenen Beihilfe wirksam nur zulasten des Begünstigten erfolgen könne, d. h. zulasten der Gesellschaft Y, die der Gesellschaft X aufgrund der Fusion dieser beiden Gesellschaften in ihren Rechten und Pflichten nachgefolgt sei.

Das vorlegende Gericht bestätigte zwar die Verurteilungen von R. M. und E. M. wegen Subventionsbetrugs, äußert jedoch Zweifel an der Möglichkeit, die in Rede stehenden Beihilfen von ihnen zurückzufordern.

Im Einzelnen möchte das vorlegende Gericht erstens wissen, ob die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts(1) es erlauben, dass die Wiedereinziehung einer infolge betrügerischer Handlungen zu Unrecht erhaltenen, aus dem ELER finanzierten Beihilfe nicht nur zulasten des Begünstigten, sondern auch zulasten von Personen fortgesetzt werden kann, die, ohne als Begünstigte dieser Beihilfe angesehen werden zu können, an der Begehung der Unregelmäßigkeit mitgewirkt haben, die zu ihrer rechtsgrundlosen Zahlung geführt hat.

Zweitens möchte es im Wesentlichen wissen, ob die Vertreter einer juristischen Person, wenn diese juristische Person infolge eines ihren Vertretern zuzurechnenden Betrugs eine Agrarbeihilfe erhalten hat, als „Begünstigte“ im Sinne des Unionsrechts angesehen werden können, sofern die von der juristischen Person erwirtschafteten Gewinne tatsächlich diesen Vertretern zufließen(2).

Würdigung durch den Gerichtshof

Zur Beantwortung dieser Fragen prüft der Gerichtshof insbesondere den Zusammenhang und die Ziele der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts.

Zum einen sollten die Mitgliedstaaten nach dem 39. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1306/2013 Unregelmäßigkeiten verhindern, aufdecken bzw. wirksam bekämpfen und zu diesem Zweck die Verordnung Nr. 2988/95 anwenden. Zudem würde Art. 54 Abs. 3 Buchst. b dieser Verordnung, der es den Mitgliedstaaten gestattet, die Wiedereinziehung einer infolge einer Unregelmäßigkeit zu Unrecht erhaltenen Beihilfe nicht fortzusetzen, wenn die Wiedereinziehung wegen der Zahlungsunfähigkeit insbesondere „der für die Unregelmäßigkeit rechtlich verantwortlichen Personen“ unmöglich ist, die praktische Wirksamkeit genommen, wenn es nicht möglich wäre, die Wiedereinziehung der betreffenden Beihilfe auch zulasten dieser Personen fortzusetzen.

Zum anderen trägt die Möglichkeit, die Wiedereinziehung einer zu Unrecht erhaltenen Beihilfe nicht nur zulasten des Begünstigten, sondern auch zulasten von Personen fortzusetzen, die vorsätzlich falsche Angaben gemacht haben, um diese Beihilfe zu erhalten, zum Ziel des Schutzes der finanziellen Interessen der Union(3) bei, insbesondere wenn der Begünstigte eine juristische Person ist, die nicht mehr existiert oder nicht über ausreichende Mittel verfügt, um die Beihilfe zurückzuzahlen.

Ferner verstößt es nicht gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, wenn eine solche zu Unrecht erhaltene Beihilfe von diesen Personen zurückgefordert wird, soweit die einschlägige Regelung insoweit hinreichend klar ist.

Zwar sieht Art. 56 der Verordnung Nr. 1306/2013 eine solche Verpflichtung zur Rückzahlung der Beihilfe nicht ausdrücklich vor, doch ist dieser Artikel im Licht des 39. Erwägungsgrundes dieser Verordnung zu lesen. Außerdem verweist Art. 2 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 1306/2013 hinsichtlich der Definition des Begriffs „Unregelmäßigkeit“ ausdrücklich auf die Verordnung Nr. 2988/95. Nach Art. 7 der Verordnung Nr. 2988/95 kann aber die Rückerstattung der Beihilfe auch von Personen verlangt werden, die an der Begehung der in Rede stehenden Unregelmäßigkeit mitgewirkt haben.

Schließlich ergänzt der Gerichtshof, dass aus einer solchen Analyse nicht abgeleitet werden kann, dass die Vertreter einer juristischen Person, die betrügerisch gehandelt haben, um es dieser zu ermöglichen, eine Agrarbeihilfe zu erhalten, selbst als „Begünstigte“ der Beihilfe eingestuft werden können. Sie können nämlich nicht als „Begünstigte“ dieser Beihilfe im Sinne der Delegierten Verordnung Nr. 640/2014 angesehen werden, wenn sie zu keiner der drei in Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 2 Nr. 1(4) genannten Personengruppen gehören, und zwar auch dann nicht, wenn die von der juristischen Person erwirtschafteten Gewinne tatsächlich ihnen zufließen.


1      Es handelt sich um Art. 56 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über die Finanzierung, die Verwaltung und das Kontrollsystem der gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 352/78, (EG) Nr. 165/94, (EG) Nr. 2799/98, (EG) Nr. 814/2000, (EG) Nr. 1200/2005 und (EG) Nr. 485/2008 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 549, berichtigt in ABl. 2016, L 130, S. 13) in Verbindung mit Art. 54 dieser Verordnung und Art. 35 Abs. 6 Satz 1 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 640/2014 der Kommission vom 11. März 2014 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf das integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem und die Bedingungen für die Ablehnung oder Rücknahme von Zahlungen sowie für Verwaltungssanktionen im Rahmen von Direktzahlungen, Entwicklungsmaßnahmen für den ländlichen Raum und der Cross-Compliance (ABl. 2014, L 181, S. 48, berichtigt in ABl. 2015, L 209, S. 48), ausgelegt im Licht von Art. 7 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1).


2      Insbesondere im Sinne von Art. 35 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 2 Nr. 1 der Delegierten Verordnung Nr. 640/2014.


3      Wie in Art. 58 Abs. 1 Buchst. e der Verordnung Nr. 1306/2013 vorgesehen. Vgl. auch das im vierten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2988/95 genannte Ziel der wirksamen Betrugsbekämpfung.


4      D. h. ein Betriebsinhaber, wie er in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit Vorschriften über Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe im Rahmen von Stützungsregelungen der gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 637/2008 des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 608) definiert ist, ein Begünstigter, der der Cross-Compliance nach Maßgabe von Art. 92 der Verordnung Nr. 1306/2013 unterliegt, und/oder ein Begünstigter, der im Sinne von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds, mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 320) Unterstützung im Rahmen der Entwicklung des ländlichen Raums erhält.