Language of document : ECLI:EU:T:2021:594

(Rechtssachen T337/18 und T347/18)

Laboratoire Pareva
und
Biotech3D Ltd & Co. KG

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 15. September 2021

„Biozidprodukte – Wirkstoff PHMB (1415; 4.7) – Nichtgenehmigung für die Produktarten 1, 5 und 6 – Bedingte Genehmigung für die Produktarten 2 und 4 – Risiken für Mensch und Umwelt – Verordnung (EU) Nr. 528/2012 – Art. 6 Abs. 7 Buchst. a und b der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 1062/2014 – Harmonisierte Einstufung des Wirkstoffs aufgrund der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 – Vorherige Konsultation der ECHA – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Analogiekonzept – Anspruch auf rechtliches Gehör“

1.      Rechtsangleichung – Biozidprodukte – Verordnung Nr. 528/2012 – Verfahren zur Genehmigung eines Wirkstoffs im Hinblick auf seine Verwendung in Biozidprodukten – Verpflichtung der bewertenden zuständigen Behörde zur Vorlage eines Vorschlags für eine harmonisierte Einstufung – Verfahren zur Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen – Unterschiedliche Verfahren

(Verordnungen Nr. 1272/2008 und Nr. 528/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates; Verordnung Nr. 1062/2014 der Kommission, Art. 6 Abs. 7 Buchst. a)

(Rn. 65, 68, 69)

2.      Rechtsangleichung – Biozidprodukte – Verordnung Nr. 528/2012 – Verfahren zur Genehmigung eines Wirkstoffs im Hinblick auf seine Verwendung in Biozidprodukten – Verpflichtung der bewertenden zuständigen Behörde, die ECHA vor Einreichung des Entwurfs des Bewertungsberichts zu konsultieren –Fehlen – Verpflichtung der ECHA, die Expertengruppe für persistente, bioakkumulierbare und toxische Stoffe zu befassen – Fehlen

(Verordnung Nr. 528/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates; Verordnung Nr. 62/2014 der Kommission, Art. 6 Abs. 7 Buchst. b)

(Rn. 96-98)

3.      Rechtsangleichung – Biozidprodukte – Verordnung Nr. 528/2012 – Verfahren zur Genehmigung eines Wirkstoffs im Hinblick auf seine Verwendung in Biozidprodukten – Möglichkeit des Antragstellers, sein Dossier nach der Validierung seines Antrags zu vervollständigen oder nach der Übermittlung des Entwurfs des Bewertungsberichts neue Informationen vorzulegen – Fehlen – Ausnahme – Voraussetzungen

(Verordnung Nr. 528/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates; Verordnung Nr. 1062/2014 der Kommission)

(Rn. 173-178)

Zusammenfassung

Laboratoire Pareva ist Herstellerin des Wirkstoffs Polyhexamethylenbiguanidhydrochlorid (im Folgenden: PHMB), der zur Verwendung in Bioziden als Desinfektions- und Schutzmittel produziert wird. Im Rahmen des durch die Richtlinie 98/8(1) aufgestellten Programms zur Bewertung alter Wirkstoffe meldete Laboratoire Pareva bei der Europäischen Kommission PHMB (1415; 4.7) im Zusammenhang mit verschiedenen Produktarten an, um eine Genehmigung für diesen Wirkstoff zu erhalten.

Der von der bewertenden zuständigen Behörde vorgelegte Bewertungsbericht wurde vom Ausschuss für Biozidprodukte der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) erörtert. Im Einklang mit der Stellungnahme des Ausschusses lehnte die Kommission die Genehmigung von PHMB als alten Wirkstoff zur Verwendung in Biozidprodukten der Produktarten 1, 5 und 6 ab(2), da unannehmbare Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt bestünden. Hingegen genehmigte sie diesen Stoff vorbehaltlich bestimmter Spezifikationen und Bedingungen für die Produktarten 2 und 4(3). Gegen diese Rechtsakte der Kommission reichte Pareva zwei Nichtigkeitsklagen beim Gericht ein.

Das Gericht hat die Klagen abgewiesen und die Verordnung Nr. 528/2012(4) erstmals im Kontext eines Antrags auf Genehmigung eines Wirkstoffs angewandt. Dabei hat es wichtige Hinweise u. a. zu der Möglichkeit erteilt, im Lauf des Verfahrens zur Bewertung eines solchen Stoffs neue Studien vorzulegen.

Würdigung durch das Gericht

Erstens hat das Gericht darauf hingewiesen, dass nach Art. 6 Abs. 7 Buchst. a der Delegierten Verordnung Nr. 1062/2014(5) die bewertende zuständige Behörde erst dann einen Vorschlag für eine harmonisierte Einstufung vorlegen muss, wenn sie den betreffenden alten Wirkstoff geprüft und auf der Grundlage des vom Antragsteller vorgelegten vollständigen Dossiers festgestellt hat, welche Wirkungen dieser Stoff hat und welche Gefahren von ihm unter Berücksichtigung der Produktarten, in denen er verwendet werden soll, und der vorgeschlagenen Verwendungsszenarien insbesondere für die menschliche Gesundheit und die Umwelt ausgehen. Hierzu hat das Gericht festgestellt, dass sich das Bewertungsverfahren, das die Genehmigung eines Wirkstoffs im Hinblick auf seine Verwendung in Biozidprodukten zum Gegenstand hat, ein anderes Sachgebiet betrifft und durch ein anderes Verfahren geregelt ist als die Harmonisierung der Kriterien für die Einstufung solcher Stoffe sowie der Vorschriften über deren Kennzeichnung und Verpackung(6). Außerdem ist das Genehmigungsverfahren für einen alten Wirkstoff nicht vom Verfahren zur Harmonisierung der Einstufung und Kennzeichnung eines solchen Stoffes abhängig. Die Verpflichtung der bewertenden zuständigen Behörde zur Vorlage eines Vorschlags für eine harmonisierte Einstufung eines als Biozid verwendeten Wirkstoffs stellt vielmehr eine Vorstufe zu dem Verfahren zur Einstufung und Kennzeichnung dar.

Zweitens hat das Gericht in Bezug auf Art. 6 Abs. 7 Buchst. b der Delegierten Verordnung Nr. 1062/2014 klargestellt, dass die bewertende zuständige Behörde nicht verpflichtet ist, die ECHA zu konsultieren, bevor sie ihren Bewertungsbericht einreicht. Eine solche Konsultation hat spätestens zum Zeitpunkt der Einreichung dieses Berichts bei der ECHA zu erfolgen. Des Weiteren hat das Gericht anerkannt, dass die ECHA über ein gewisses Ermessen verfügt, soweit es um die Frage geht, ob es erforderlich ist, ihre Expertengruppe zur Persistenz, Bioakkumulierbarkeit und Toxizität (im Folgenden: PBT) eines Stoffs, die eine informelle Einrichtung ist, im Rahmen einer solchen Konsultation(7) zu befassen. Zwar ist eine solche Befassung äußerst wünschenswert und wird dringend empfohlen(8), sie ist jedoch Sache der internen Organisation der ECHA. Um die Arbeiten im Rahmen der Bewertung eines Wirkstoffs nicht unnötig zu verzögern, wird diese Expertengruppe außerdem nur in den Fällen eingeschaltet, in denen kein Konsens über die PBT‑Eigenschaften dieses Stoffes besteht.

Drittens schließlich hat das Gericht unterstrichen, dass im Rahmen der Bewertung eines Wirkstoffs weder die bewertende zuständige Behörde noch die ECHA verpflichtet ist, neue Studien oder zusätzliche Daten entgegenzunehmen, die ein Antragsteller ihnen auf eigene Initiative vorlegen möchte, nachdem sein Dossier von der bewertenden zuständigen Behörde für vollständig erachtet und somit validiert wurde.

Im Übrigen eröffnet die bloße Behauptung, dass sich der Stand der wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse geändert habe, den Antragstellern, die einen Wirkstoff angemeldet haben, nicht die Möglichkeit, neue Studien und Daten vorzulegen, solange Zweifel an der Unbedenklichkeit dieses Wirkstoffs bestehen. Eine solche Möglichkeit liefe dem Ziel eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit von Mensch und Tier sowie für die Umwelt insofern zuwider, als diesen Antragstellern ein Vetorecht gegen den Erlass einer etwaigen Entscheidung, den Wirkstoff nicht zu genehmigen, eingeräumt würde. Zwar könnte es unter besonderen Umständen erforderlich sein, vom Antragsteller vorgelegte neue Dokumente oder Daten zu berücksichtigen, die zum Zeitpunkt der Validierung des von ihm eingereichten Dossiers nicht verfügbar waren. Meint dieser Antragsteller, nach der Validierung seines Dossiers vorgelegte neue Daten oder Studien hätten bei der Bewertung des betreffenden Stoffes berücksichtigt werden müssen, hat er jedoch aufgrund der Beweislast für die Voraussetzungen für die Genehmigung eines Wirkstoffs den Nachweis zu erbringen, dass diese Daten oder Studien vor der Validierung seines Dossiers nicht vorgelegt werden konnten, dass sie erforderlich sind und dass sie das Ergebnis des Bewertungsverfahrens offensichtlich in Frage stellen.


1      Richtlinie 98/8/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 über das Inverkehrbringen von Biozid-Produkten (ABl. 1998, L 123, S. 1).


2      Durchführungsbeschluss (EU) 2018/619 der Kommission vom 20. April 2018 zur Nichtgenehmigung von PHMB (1415; 4.7) als alten Wirkstoff zur Verwendung in Biozidprodukten der Produktarten 1, 5 und 6 (ABl. 2018, L 102, S. 21).


3      Durchführungsverordnung (EU) 2018/613 der Kommission vom 20. April 2018 über die Genehmigung von PHMB (1415; 4.7) als alten Wirkstoff zur Verwendung in Biozidprodukten der Produktarten 2 und 4 (ABl. 2018, L 102, S. 1).


4      Verordnung (EU) Nr. 528/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung von Biozidprodukten (ABl. 2012, L 167, S. 1).


5      Delegierte Verordnung (EU) Nr. 1062/2014 der Kommission vom 4. August 2014 über das Arbeitsprogramm zur systematischen Prüfung aller in Biozidprodukten enthaltenen alten Wirkstoffe gemäß der Verordnung (EU) Nr. 528/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2014, L 294, S. 1).


6      Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen, zur Änderung und Aufhebung der Richtlinien 67/548/EWG und 1999/45/EG und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (ABl. 2008, L 353, S. 1).


7      Art. 6 Abs. 7 Buchst. b der Delegierten Verordnung Nr. 1062/2014.


8      Gemäß dem Kommissionsdokument „Review Programme of active substances: establishment of a work programme to meet the 2024 deadline“ (Programm zur Überprüfung von Stoffen: Erstellung eines Arbeitsprogramms zur Einhaltung des Termins 2024).