Language of document : ECLI:EU:C:2014:2306

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 21. Oktober 2014(1)

Verbundene Rechtssachen C‑503/13 und C‑504/13

Boston Scientific Medizintechnik GmbH

gegen

AOK Sachsen-Anhalt – Die Gesundheitskasse (C‑503/13),

Betriebskrankenkasse RWE (C‑504/13)

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs [Deutschland])

„Vorlage – Richtlinie 85/374/EWG – Haftung für fehlerhafte Produkte – Produktfehler – Charakterisierung – Herzschrittmacher und Cardioverte Defibrillatoren, die in den menschlichen Körper implantiert werden – Zu einer Produktgruppe gehörende Geräte, die ein nennenswert höheres als das normale Ausfallrisiko haben oder von denen eine signifikante Anzahl bereits ausgefallen ist“





1.        Mit den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen wird der Gerichtshof aufgefordert, über die Auslegung der Art. 1, 6 Abs. 1 und 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte(2) zu entscheiden.

2.        Insbesondere ersucht der Bundesgerichtshof (Deutschland) den Gerichtshof um Präzisierung der Konturen der Begriffe „Fehlerhaftigkeit des Produkts“ und „ersatzfähiger Schaden“ im Sinne dieser Richtlinie im Kontext von Rechtsstreitigkeiten, die im Anschluss an chirurgische Operationen zur Explantation von Herzschrittmachern und eines Herzdefibrillators entstanden sind.

3.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich erstens die Ansicht vertreten, dass ein in den Körper eines Patienten implantiertes medizinisches Gerät als fehlerhaft im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 zu betrachten ist, wenn es die gleichen Merkmale aufweist wie andere Geräte, von denen erwiesen ist, dass sie ein nennenswert höheres als das normale Ausfallrisiko haben oder es bei einer beträchtlichen Anzahl von ihnen bereits zu Ausfällen gekommen ist. Die Zugehörigkeit eines bestimmten Produkts zu einer Gruppe fehlerhafter Produkte lässt nämlich die Annahme zu, dass es selbst ein Ausfallpotenzial hat, das der berechtigten Sicherheitserwartung der Patienten nicht entspricht.

4.        Zweitens werde ich darlegen, dass Schäden im Zusammenhang mit einer präventiven chirurgischen Operation zur Explantation eines fehlerhaften medizinischen Geräts und zur Implantation eines neuen Geräts einen durch Körperverletzungen verursachten Schaden im Sinne von Art. 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374 darstellen und der Hersteller des fehlerhaften Produkts für diese Schäden haftet, wenn sie in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Fehler stehen, was das nationale Gericht unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu prüfen hat, wobei insbesondere zu ermitteln ist, ob die chirurgische Operation erforderlich war, um die Verwirklichung des sich aus dem Produktfehler ergebenden Ausfallrisikos zu verhindern.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Richtlinie 85/374

5.        In Art. 1 der Richtlinie 85/374 wird der Grundsatz aufgestellt, dass „[d]er Hersteller eines Produkts … für den Schaden [haftet], der durch einen Fehler dieses Produkts verursacht worden ist“, während es in Art. 4 dieser Richtlinie heißt, dass „[d]er Geschädigte … den Schaden, den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden zu beweisen [hat]“.

6.        Art. 6 Abs. 1 der genannten Richtlinie bestimmt:

„Ein Produkt ist fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die man unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere

a)      der Darbietung des Produkts,

b)      des Gebrauchs des Produkts, mit dem billigerweise gerechnet werden kann,

c)      des Zeitpunkts, zu dem das Produkt in den Verkehr gebracht wurde,

zu erwarten berechtigt ist.“

7.        Art. 9 der Richtlinie 85/374 sieht außerdem vor:

„Der Begriff ‚Schaden‘ im Sinne des Artikels 1 umfasst

a)      den durch Tod und Körperverletzungen verursachten Schaden;

b)      die Beschädigung oder Zerstörung einer anderen Sache als des fehlerhaften Produktes …

Dieser Artikel berührt nicht die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend immaterielle Schäden.“

B –    Deutsches Recht

8.        Die Richtlinie 85/374 ist durch das Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte vom 15. Dezember 1989(3) in geänderter Fassung(4) in deutsches Recht umgesetzt worden.

9.        In § 1 dieses Gesetzes heißt es:

„(1)      Wird durch den Fehler eines Produkts jemand getötet, sein Körper oder seine Gesundheit verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Hersteller des Produkts verpflichtet, dem Geschädigten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Im Falle der Sachbeschädigung gilt dies nur, wenn eine andere Sache als das fehlerhafte Produkt beschädigt wird und diese andere Sache ihrer Art nach gewöhnlich für den privaten Ge- oder Verbrauch bestimmt und hierzu von dem Geschädigten hauptsächlich verwendet worden ist.

(4)      Für den Fehler, den Schaden und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden trägt der Geschädigte die Beweislast …“

10.      § 3 des genannten Gesetzes bestimmt:

„Ein Produkt hat einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere

a)      seiner Darbietung,

b)      des Gebrauchs, mit dem billigerweise gerechnet werden kann,

c)      des Zeitpunkts, in dem es in den Verkehr gebracht wurde,

berechtigterweise erwartet werden kann …“

11.      In § 8 des Gesetzes vom 15. Dezember 1989 heißt es:

„Im Falle der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit ist Ersatz der Kosten der Heilung sowie des Vermögensnachteils zu leisten, den der Verletzte dadurch erleidet, dass infolge der Verletzung zeitweise oder dauernd seine Erwerbsfähigkeit aufgehoben oder gemindert ist oder seine Bedürfnisse vermehrt sind.“

II – Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen

12.      Die B. Corporation, jetzt B. S. Corporation, ist eine Gesellschaft amerikanischen Rechts, die Herzschrittmacher und implantierbare Cardioverte Defibrillatoren (im Folgenden: ICD) herstellt und vertreibt.

13.      Die G. GmbH & Co. Medizintechnik KG(5), später fusioniert mit der Boston Scientific Medizintechnik GmbH(6), führte von der B. S. Corporation hergestellte Herzschrittmacher des Typs Guidant Pulsar 470 und Guidant Meridian 976 sowie ICDs des Typs G. CONTAK RENEWAL ® 4 AVT ® 6 ein und vertrieb sie.

A –    Sachverhalt der Rechtssache C‑503/13

14.      Mit Schreiben vom 22. Juli 2005 („Dringende Medizinprodukte- Sicherheitsinformationen und Korrekturmaßnahmen“) teilte die G. GmbH den Ärzten mit, ihr Qualitätskontrollsystem habe festgestellt, dass ein in den Schrittmachern verwendetes Bauteil zur hermetischen Versiegelung möglicherweise einem sukzessiven Verfall unterliege, der zur vorzeitigen Batterieerschöpfung mit Verlust der Telemetrie und/oder Verlust der Stimulationstherapie ohne Vorwarnung führen könne.

15.      Die G. GmbH empfahl den Ärzten daher u. a., das Austauschen von Geräten zu erwägen, und verpflichtete sich, den Patienten kostenlos Ersatzgeräte zur Verfügung zu stellen.

16.      Infolge dieser Empfehlung wurden die Schrittmacher, die B im September 1999 und W im April 2000 implantiert worden waren, am 27. September 2005 bzw. am 25. November 2005 durch andere Schrittmacher, welche die Herstellerin kostenlos zur Verfügung gestellt hatte, ersetzt.

17.      Die AOK Sachsen-Anhalt – Die Gesundheitskasse, eine Trägerin der Krankenversicherung, begehrte aus übergegangenem Recht von B und W von der BS. GmbH Ersatz der Kosten für die ursprüngliche Implantation der Schrittmacher, die sich auf 2 655,38 Euro für B und auf 5 914,07 Euro für W beliefen.

18.      Mit einer Entscheidung vom 25. Mai 2011 gab das Amtsgericht Stendal (Deutschland) dieser Klage statt. Nachdem die dagegen gerichtete Berufung der BS. GmbH vom Landgericht Stendal am 10. Mai 2012 zurückgewiesen worden war, legte die BS. GmbH beim Bundesgerichtshof Revision ein.

B –    Sachverhalt der Rechtssache C‑504/13

19.      Mit Schreiben vom Juni 2005 („Dringende Medizinprodukte- Sicherheitsinformationen und Korrekturmaßnahmen für CONTAK RENEWAL ®“) teilte die G. GmbH den Ärzten mit, ihr Qualitätskontrollsystem habe festgestellt, dass bei den Defibrillatoren ein Bauelemente-Fehler auftreten könne, der die Therapie-Verfügbarkeit einschränken könne, und die Food and Drug Administration (Nahrungs- und Arzneimittelagentur) der Vereinigten Staaten diese Maßnahme als Recall einstufen könnte. Die technische Analyse habe ergeben, dass ein Magnetschalter in der geschlossenen Position hängen bleiben könne und die Aktivierung der Gerätefunktion „Gebrauch des Magneten“ zur Folge habe, dass die Behandlung ventrikulärer und aurikulärer Arrythmien inhibiert werde. Daher empfahl die G. GmbH, den Magnetschalter der Defibrillatoren zu deaktivieren.

20.      Am 2. März 2006 wurde der Defibrillator bei F vorzeitig ausgetauscht.

21.      Die Betriebskrankenkasse RWE, eine Trägerin der Krankenversicherung, auf die die Rechte von F übergegangen waren, begehrte Ersatz der Kosten für die stationäre und ambulante Behandlung von F in Höhe von 20 315,01 Euro bzw. 122,50 Euro im Zusammenhang mit der Operation zum Austausch des Defibrillators.

22.      Mit einer Entscheidung vom 3. Februar 2011 gab das Landgericht Düsseldorf (Deutschland) dieser Klage statt. Auf die Berufung der BS. GmbH änderte das Oberlandesgericht Düsseldorf diese Entscheidung mit einem Urteil vom 20. Juni 2012 teilweise ab und verurteilte die BS. GmbH zur Zahlung eines Betrags von 5 952,80 Euro nebst Zinsen. Gegen dieses Urteil legte die BS. GmbH Revision beim vorlegenden Gericht ein und beantragte die vollumfängliche Abweisung der Klage der Betriebskrankenkasse RWE.

C –    Vorlagefragen

23.      Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 dahin auszulegen, dass ein Produkt, wenn es sich um ein in den menschlichen Körper implantiertes Medizinprodukt (hier: Herzschrittmacher und implantierbarer Cardioverter Defibrillator – ICD) handelt, bereits dann fehlerhaft ist, wenn Schrittmacher derselben Produktgruppe ein nennenswert erhöhtes Ausfallrisiko haben oder bei einer signifikanten Anzahl von Defibrillatoren derselben Serie eine Fehlfunktion aufgetreten ist, ein Fehler des im konkreten Fall implantierten Geräts aber nicht festgestellt ist?

2.      Falls die erste Frage mit ja beantwortet wird:

Handelt es sich bei den Kosten der Operation zur Explantation des Produkts und zur Implantation eines anderen Schrittmachers oder eines anderen Defibrillators um einen durch Körperverletzung verursachten Schaden im Sinne der Art. 1 und 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374?

III – Würdigung

A –    Zur ersten Vorlagefrage

24.      Der Bundesgerichtshof stellt in der Rechtssache C‑503/13 fest, dass die ursprünglich implantierten Herzschrittmacher zu einer Gruppe von Produkten gehörten, deren Ausfallwahrscheinlichkeit 17- bis 20-mal höher als die normale liege, und in der Rechtssache C‑504/13, dass der implantierte ICD zu einer Produktfamilie gehöre, bei der ein Bauelementefehler auftreten könne, der zu einer Einschränkung der Therapie-Verfügbarkeit führe. Vor diesem Hintergrund neigt das genannte Gericht zu der Annahme, dass auch die den Versicherten B und W implantierten Herzschrittmacher und der dem Versicherten F implantierte ICD als fehlerhafte Produkte zu qualifizieren seien, weil diese Geräte nicht die Sicherheit böten, die unter Berücksichtigung aller Umstände berechtigterweise habe erwartet werden können. Der Bundesgerichtshof zweifelt jedoch daran, dass auf das Vorliegen eines Fehlers geschlossen werden kann, obwohl nicht festgestellt worden ist, dass die den Versicherten B, W und F implantierten Geräte den Fehler aufwiesen, über den die G. GmbH die Ärzte informiert hatte.

25.      Aus diesem Grund hat sich das vorlegende Gericht zu der Frage veranlasst gesehen, ob ein aktives implantierbares medizinisches Gerät im Wesentlichen als fehlerhaft zu betrachten ist, wenn es zu einem Produktmodell gehört, dessen Ausfallrisiko nennenswert höher als das normale ist, oder bei einer beträchtlichen Anzahl von Produkten gleicher Bauart bereits ein Fehler aufgetreten ist.

26.      Diese Frage ist meines Erachtens zu bejahen.

27.      Der Begriff „fehlerhaftes Produkt“ ist deshalb ein grundlegender Begriff bei der Anwendung der durch die Richtlinie 85/374 eingeführten besonderen Regelung der verschuldensunabhängigen Haftung der Hersteller aufgrund von Sicherheitsmängeln ihrer Produkte, weil es sich bei ihm um den haftungsbegründenden Tatbestand handelt.

28.      Gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 ist ein fehlerhaftes Produkt ein Produkt, das nicht die Sicherheit bietet, die man unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Darbietung des Produkts, des Gebrauchs des Produkts, mit dem billigerweise gerechnet werden kann, und des Zeitpunkts, zu dem das Produkt in den Verkehr gebracht wurde, zu erwarten berechtigt ist. Im sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es: „Damit der Verbraucher in seiner körperlichen Unversehrtheit und seinem Eigentum geschützt wird, ist zur Bestimmung der Fehlerhaftigkeit eines Produkts nicht auf dessen mangelnde Gebrauchsfähigkeit, sondern auf einen Mangel an Sicherheit abzustellen, die von der Allgemeinheit berechtigterweise erwartet werden darf.“(7)

29.      Im Einklang mit der objektiven Dimension der Vorschriften der Richtlinie 85/374(8) beurteilt sich der Begriff „Fehler“, wie die Verwendung des unbestimmten Pronomens „man“ und des Partizips Perfekt „berechtigt“ bezeugt, abstrakt – nicht anhand eines einzelnen Nutzers, sondern anhand der Öffentlichkeit allgemein – unter Berücksichtigung der normalen Sicherheit, die der Verbraucher vernünftigerweise zu erwarten berechtigt ist. Die Objektivität des Fehlerbegriffs wird jedoch durch die Berücksichtigung konkreterer Umstände abgemildert, die „insbesondere“ mit dem Gebrauch des Produkts zusammenhängen, mit dem billigerweise gerechnet werden kann.

30.      Der vergleichsweise unpräzise(9) und inhaltlich unbestimmte Begriff der Sicherheit, die man zu erwarten berechtigt ist, lässt Raum für eine Auslegung, die sich allerdings innerhalb der durch die Beachtung der Ziele der Richtlinie 85/374 gezogenen Grenzen bewegen muss. Ausgelegt im Licht des im zweiten Erwägungsgrund dieser Richtlinie angeführten Ziels, das darin besteht, das Problem einer gerechten Zuweisung der mit der modernen technischen Produktion verbundenen Risiken in sachgerechter Weise zu lösen, ist dieser Begriff so zu verstehen, dass er ein Produkt betrifft, das die Sicherheit seines Nutzers beeinträchtigende, ungewöhnliche und unangemessene Risiken aufweist, die über die mit seinem Gebrauch verbundenen gewöhnlichen Risiken hinausgehen. Der Mangel an Sicherheit liegt daher nicht in der Gefahr begründet, die der Gebrauch des Produkts darstellen kann, da ein Produkt gefährlich sein kann, ohne einen Sicherheitsmangel aufzuweisen, sondern in den ungewöhnlichen Potenzialitäten eines Schadens, den das Produkt der Person oder dem Eigentum seines Nutzers verursachen kann. Mit anderen Worten handelt es sich bei einem Fehler im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 um das Risiko eines Schadens, der einen solchen Schweregrad aufweist, dass er die berechtigte Sicherheitserwartung der Öffentlichkeit verletzt(10).

31.      Im Hinblick auf diese Definition stellt die bloße Möglichkeit eines Ausfalls der B und W implantierten Schrittmacher sowie des F implantierten Defibrillators nach meinem Dafürhalten einen Fehler im Sinne des erwähnten Artikels dar, da dieses Sicherheitsdefizit die Sicherheit betrifft, die man zu erwarten berechtigt war, unabhängig davon, dass nicht konkret nachgewiesen worden ist, dass die genannten Produkte die von der Herstellerin festgestellte innewohnende Anomalie tatsächlich aufwiesen.

32.      Erstens ist diese Lösung aufgrund des Wortlauts des angeführten Artikels, aus dem hervorgeht, dass sich der Begriff „Produktfehler“ einzig und allein im Hinblick auf die Sicherheit beurteilen muss und ein solcher Fehler unabhängig von allen internen Mängeln des betreffenden Produkts vorliegen kann, meines Erachtens weitgehend vorgegeben.

33.      Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, beruht die Haftung für fehlerhafte Produkte auf einer anderen Grundlage als die Haftung für verdeckte Mängel(11). Nicht der Mangel des Produkts begründet die Haftung, sondern die Tatsache, dass dieses nicht die Sicherheit bietet, die man zu erwarten berechtigt ist. Unabhängig von der Feststellung des Vorliegens einer materiellen Abweichung: Wie könnte die Öffentlichkeit in diesem Fall nicht berechtigterweise an der Sicherheit eines Produkts zweifeln, das genau die gleichen Merkmale aufweist wie andere Produkte, von denen erwiesen ist, dass sie ein deutlich höheres als das normale Ausfallrisiko haben oder bei denen es bereits häufig zu Ausfällen gekommen ist? Aus Sicht der Nutzer versteht es sich von selbst, dass ein Produkt, das in Konzeption und Herstellung mit anderen Produkten identisch ist, diesen in Bezug auf ihr Ausfallrisiko gleichgestellt wird.

34.      Zweitens ist die von mir befürwortete Lösung auch aufgrund der Erfordernisse des Verbraucherschutzes geboten.

35.      Insoweit ist festzustellen, dass, auch wenn die Richtlinie 85/374 dem Ziel entspricht, einen unverfälschten Wettbewerb zwischen den Wirtschaftsteilnehmern sicherzustellen und den freien Warenverkehr zu erleichtern, indem sie eine harmonisierte Regelung der Haftung von Herstellern für durch fehlerhafte Produkte verursachte Schäden einführt, auch der Verbraucherschutz zu den wesentlichen Zielen dieser Richtlinie gehört, wie sich u. a. aus einer Prüfung der Materialien, die zu ihrem Erlass geführt haben, sowie aus ihrer Präambel, insbesondere aus den Erwägungsgründen 1, 4, 5, 8, 9 und 10 ergibt.

36.      Diese Feststellung kann durch den Umstand, dass die Richtlinie 85/374 Art. 100 EWG-Vertrag – später Art. 94 EG, jetzt Art. 115 AEUV – als Rechtsgrundlage hat, der die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten betrifft, die sich unmittelbar auf die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts auswirken, nicht entkräftet werden. Auch wenn die genannte Vorschrift selbst dann keine Befugnis für die Mitgliedstaaten begründet, von den Harmonisierungsmaßnahmen der Gemeinschaft abweichende Vorschriften beizubehalten oder einzuführen(12), wenn dies geschieht, um ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher sicherzustellen, bedeutet das nämlich nicht, dass die auf ihrer Grundlage ergriffenen Harmonisierungsmaßnahmen nicht die Gewährleistung des Verbraucherschutzes bezwecken.

37.      Der Schutz, den die Richtlinie 85/374 den Verbrauchern gewähren will, würde jedoch ernstlich gefährdet, wenn im Fall des Inverkehrbringens einer bestimmten Anzahl von Produkten ein und desselben Modells und des Auftretens eines Sicherheitsmangels nur bei einigen dieser Produkte die Wahrscheinlichkeit, dass der Mangel in weiteren Produkten vorhanden ist, nicht berücksichtigt werden könnte. Müsste in diesem Fall abgewartet werden, dass sich das Ausfallrisiko im Zusammenhang mit einem bei einigen Produkten nachgewiesenen Sicherheitsmangel bei den übrigen Produkten durch den Eintritt eines Schadens konkretisiert, würde in Wirklichkeit sogar die gesamte Unionsregelung für die Produktsicherheit in Frage gestellt.

38.      Würde der Nachweis des Sicherheitsmangels von der Verwirklichung des Schadens abhängig gemacht, liefe dies auf eine Verkennung der präventiven Funktion hinaus, die den Unionsvorschriften über die Sicherheit der auf dem Markt angebotenen Produkte und der sich aus der Richtlinie 85/374 ergebenden besonderen Haftungsregelung zugewiesen wird(13), die offensichtlich eine prophylaktische Funktion erfüllt, indem sie demjenigen die Haftung auferlegt, der, da er durch die Herstellung eines fehlerhaften Produkts das Risiko ganz unmittelbar geschaffen hat, am besten in der Lage ist, diesem Risiko vorzubeugen und Schäden mit dem geringsten Aufwand zu vermeiden(14).

39.      Drittens wird der von mir vorgeschlagene Ansatz durch die notwendige Einbeziehung von Gesundheitsbelangen in die Unionspolitik untermauert.

40.      Es sind nämlich Art. 168 Abs. 1 AEUV und Art. 35 Satz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu beachten, wonach bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und ‑maßnahmen ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt werden muss.

41.      Da die Erfordernisse des Gesundheitsschutzes in alle Unionspolitiken einbezogen werden müssen, ist ein solcher Schutz als ein auch zur Politik der Harmonisierung der Vorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der Haftung für fehlerhafte Produkte gehörendes Ziel anzusehen.

42.      Im Hinblick auf dieses Ziel verleiht der Sanitärzweck der für den Menschen bestimmten Gesundheitsprodukte diesen eine unbestreitbare Besonderheit, der bei der Beurteilung des Fehlerbegriffs Rechnung getragen werden muss.

43.      Auch wenn die Bestimmungen der Richtlinie 85/374 für alle Produkte, welcher Art sie auch sein mögen, gelten sollen, handelt es sich bei einem implantierbaren Herzschrittmacher oder einem implantierbaren Herzdefibrillator nicht um Produkte wie jedes andere. Diese Geräte stellen aktive implantierbare medizinische Geräte im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 90/385/EWG des Rates vom 20. Juni 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über aktive implantierbare medizinische Geräte(15) dar. Um die CE-Konformitätskennzeichnung zu erhalten, die ihr Inverkehrbringen erlaubt, müssen die Geräte den in Anhang I dieser Richtlinie aufgezählten grundlegenden Anforderungen genügen. Gemäß Anhang I Teil I Nr. 1 Satz 1 der genannten Richtlinie sind die Geräte insbesondere so auszulegen und herzustellen, dass ihre Verwendung weder den klinischen Zustand noch die Sicherheit der Patienten gefährdet, wenn sie unter den vorgesehenen Bedingungen und zu den vorgesehenen Zwecken implantiert sind.

44.      Die Besonderheit der in der Ausgangsrechtssache in Rede stehenden Geräte wird auch durch die Stellung veranschaulicht, die diese in der sich aus der Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte(16) ergebenden Klassifizierung einnehmen. Nach den Regeln in Anhang IX dieser Richtlinie fallen die erwähnten Produkte unter die Klasse III(17), die nach dem 14. Erwägungsgrund der genannten Richtlinie den kritischsten Produkten entspricht, deren Inverkehrbringen eine ausdrückliche vorherige Zulassung im Hinblick auf die Konformität erfordert.

45.      Obwohl der Begriff der berechtigten Erwartung ausgesprochen schwierig zu bestimmen und seine Wahrnehmung bis zu einem gewissen Grad subjektiv ist, kann argumentiert werden, dass der erwartete Sicherheitsgrad, der u. a. von der Art des Produkts und seiner Bestimmung abhängt, für ein in den menschlichen Körper implantiertes Gerät, bei dem im Übrigen nicht recht ersichtlich ist, inwiefern es Gegenstand einer unsachgemäßen Verwendung von Seiten des Patienten sein könnte, wichtiger sein wird als für eine Flasche Wasser oder für ein Pflegeprodukt.

46.      Entgegen dem Vorbringen der BS. GmbH in der mündlichen Verhandlung ist die berechtigte Erwartung eines Patienten, dem aufgrund der Krankheit, von der er betroffen ist, ein Herzschrittmacher oder ein ‑defibrillator in den Körper implantiert worden ist, meines Erachtens offensichtlich nicht mit der berechtigten Erwartung des Nutzers eines Mobiltelefons vergleichbar, dessen Akku möglicherweise vorzeitig verschleißt.

47.      Aufgrund der von der BS. GmbH in der mündlichen Verhandlung entwickelten Argumentation sehe ich mich veranlasst, kurz auf die nicht wegzudenkende Besonderheit in den menschlichen Körper implantierter medizinischer Geräte einzugehen. Um sich eine etwas präzisere Vorstellung davon machen zu können, welche therapeutischen Funktionen Herzschrittmacher und ‑defibrillatoren haben, werde ich mich auf die von der französischen Gesellschaft für Kardiologie ausgearbeiteten Informationsblätter und Einwilligungserklärungen beziehen(18).

48.      Der Herzschrittmacher wird dort dargestellt als „ein kleines Gehäuse, das von einer Batterie gespeiste elektronische Schaltkreise enthält[,] je nach Fall durch eine, zwei oder drei Sonden mit dem Herzen verbunden [sowie] fähig ist, den Herzrhythmus, insbesondere dann, wenn er anormal ist, dauerhaft zu analysieren und das Herz erforderlichenfalls ohne die geringste unangenehme Empfindung zu stimulieren“. In dem Blatt heißt es, dass das Einsetzen eines Herzschrittmachers „eine geläufige, zuverlässige und effiziente Behandlung bestimmter (sich in den meisten Fällen durch eine spürbare Verlangsamung des Herzrhythmus äußernder) Herzerkrankungen dar[stellt], die durch die Einnahme von Medikamenten nicht kontrolliert werden können“, und weiter, dass „die Herzstimulation … bisweilen auch bei der Behandlung von Herzinsuffizienz eingesetzt [wird]“. Es wird darauf hingewiesen, dass in Anbetracht eines Verschleißes der Batterie nach mehreren Jahren ein Austausch des Gehäuses vorgenommen werden müsse.

49.      Der ICD wird beschrieben als „ein durch eine Batterie gespeistes Gehäuse, das … fähig ist, den Herzrhythmus dauerhaft zu analysieren, anormale Herzrhythmen festzustellen und sie entweder durch eine nicht spürbare schnelle Stimulation oder durch einen internen Elektroschock zu behandeln“. Ferner wird ausgeführt, dass dieses Gerät die Funktion eines Herzschrittmachers habe und mit dem Herzen, wenn es bei einem chirurgischen Vorgang auf Höhe des oberen Teils des Thorax eingesetzt werde, durch eine, zwei oder drei über einen venösen Katheter eingeführte Sonden verbunden sei. Die medizinischen Indikationen für diese Geräte werden wie folgt angegeben:

„Das Einsetzen eines implantierbaren Cardioverten Defibrillators (ICD) wird empfohlen, wenn auf Sie einer der beiden folgenden Fälle zutrifft:

–        Sie leiden an einer Herzerkrankung, durch die Sie in den kommenden Monaten oder Jahren dem Risiko eines plötzlichen Todes im Zusammenhang mit dem Auftreten schwerer Herzrhythmusstörungen ausgesetzt sind. Diese schweren Herzrhythmusstörungen gehen auf unzeitige Beschleunigungen der Herzfrequenz zurück und können bisweilen tödlich sein, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt werden.

–        Sie haben vor kurzem eine schwere Herzrhythmusstörung gehabt. Die Rückfallgefahr ist trotz aller zur Verfügung stehenden Behandlungen erheblich und kann zum plötzlichen Tod führen.“

50.      Aus dieser summarischen Beschreibung geht klar hervor, dass Herzschrittmacher und ‑defibrillatoren krankheitsbedingt geschwächten und einem Sterberisiko ausgesetzten Personen implantiert werden.

51.      Gehen wir nunmehr kurz auf die vom Bundesgerichtshof getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu den in den Ausgangsrechtssachen in Rede stehenden Modellen von Herzschrittmachern und ‑defibrillatoren ein.

52.      Was zunächst die Herzschrittmacher angeht, geht aus den in der Vorlageentscheidung der Rechtssache C‑503/13 enthaltenen Präzisierungen hervor, dass die G. GmbH in ihrem den Ärzten im Juli 2005 übermittelten Schreiben das Vorliegen eines Konzeptionsfehlers eingeräumt hat, durch den das zur hermetischen Versiegelung der Gehäuse verwendete Bauteil beeinträchtigt werde und der zu einer vorzeitigen Batterieerschöpfung mit Verlust der Telemetrie und/oder Verlust der Stimulationstherapie ohne Vorwarnung führen könne. Darüber hinaus ist festgestellt worden, dass die den Versicherten B und W implantierten Schrittmacher zu einer Gruppe von Produkten gehörten, die ein 17- bis 20-mal höheres Ausfallrisiko als bei diesem Gerätetyp üblichen aufwiesen.

53.      Was sodann die Defibrillatoren betrifft, hat das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑504/13 festgestellt, dass die Möglichkeit eines Ausfalls des Magnetschalters bestehe, der in der geschlossenen Position hängen bleiben und so die Behandlung ventrikulärer und aurikulärer Arrythmien inhibieren könne.

54.      In beiden Fällen schafft die Tatsache, dass Geräte gleicher Bauart Angaben ihrer Herstellerin zufolge möglicherweise ausfallen könnten, wodurch die Behandlung von Herzrhythmusstörungen inhibiert werde, offensichtlich eine Gefahr, die für Patienten, denen solche Geräte implantiert worden sind, unverhältnismäßig ist. Entgegen dem Vorbringen der BS. GmbH in der mündlichen Verhandlung kommt es nach meinem Dafürhalten insoweit weder darauf an, dass die Geräte ihrer Art nach ungefährlich sind, noch darauf, dass sie keine Gefahr laufen, in der Brust des Patienten zu explodieren oder zu einer Verletzung zu führen. Der Fehler, den sie aufweisen, macht sie dadurch unverhältnismäßig gefährlich, dass die Patienten einem Herzanfall- oder Todesrisiko ausgesetzt werden.

55.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass ein in den Körper eines Patienten implantiertes medizinisches Gerät als fehlerhaft im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 zu betrachten ist, wenn es die gleichen Merkmale aufweist wie andere Geräte, von denen erwiesen ist, dass sie ein nennenswert höheres als das normale Ausfallrisiko haben oder es bei einer beträchtlichen Anzahl von ihnen bereits zu Ausfällen gekommen ist. Die Zugehörigkeit eines bestimmten Produkts zu einer Gruppe fehlerhafter Produkte lässt nämlich die Annahme zu, dass es selbst ein Ausfallpotenzial hat, das der berechtigten Sicherheitserwartung der Patienten nicht entspricht.

B –    Zur zweiten Vorlagefrage

56.      Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob es sich bei den Kosten der Operationen zur Explantation und zur Implantation anderer Herzschrittmacher oder ‑defibrillatoren um einen durch Körperverletzung verursachten Schaden im Sinne der Art. 1 und 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374 handelt.

57.      Zunächst ist festzustellen, dass sich aus einer Auslegung von Art. 1 in Verbindung mit Art. 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374 für den Hersteller, dessen Haftung aufgrund des Fehlers seines Produkts ausgelöst wird, die Verpflichtung ergibt, „den durch Tod und Körperverletzungen verursachten Schaden“ zu ersetzen.

58.      Wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, ist festzustellen, dass die in diesem Artikel zur Bezeichnung des körperlichen Schadens verwendeten Begriffe nicht in allen Sprachfassungen gleich lauten. So sieht die genannte Vorschrift in ihrer deutschen Sprachfassung vor, dass der Begriff „Schaden“ den durch Tod und „Körperverletzungen“ verursachten Schaden umfasst(19), was darauf hindeuten könnte, dass die dem Hersteller auferlegte Verpflichtung, wie die tschechische Regierung vorträgt, nur die Schäden betrifft, die infolge eines Unfalls, der durch die plötzliche und gewaltsame Einwirkung einer äußeren Ursache gekennzeichnet ist, eingetreten sind.

59.      Die spanische, die französische und die portugiesische Sprachfassung ebendieser Vorschrift verweisen allerdings auf den Begriff „Körperverletzungen“ ohne eine wie auch immer geartete Einschränkung, während die englische und die italienische Sprachfassung noch allgemeiner auf durch Personenverletzungen verursachte Schäden Bezug nehmen.

60.      Nach ständiger Rechtsprechung kann jedoch eine rein wörtliche Auslegung einer oder mehrerer Sprachfassungen eines in mehreren Sprachen vorhandenen unionsrechtlichen Textes unter Ausschluss der anderen Sprachfassungen nicht ausschlaggebend sein, da es die einheitliche Anwendung der Unionsvorschriften gebietet, diese u. a. im Licht aller Sprachfassungen auszulegen(20). Weichen die einzelnen Sprachfassungen eines unionsrechtlichen Textes voneinander ab, ist die fragliche Vorschrift, um ihre einheitliche Auslegung und Anwendung sicherzustellen, außerdem nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung auszulegen, zu der sie gehört(21).

61.      Zum Zusammenhang, in den sich Art. 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374 einfügt, ist insoweit festzustellen, dass der Begriff der durch Tod und Körperverletzungen verursachten Schäden, wie die Präambel dieser Richtlinie, insbesondere ihre Erwägungsgründe 1 und 6, aufzeigt, weit auszulegen ist und im Gegensatz zu den Schäden am Eigentum alle der Person des Verwenders des fehlerhaften Produkts verursachten Schäden zu umfassen hat. Nach dem ersten Erwägungsgrund der genannten Richtlinie muss diese nämlich den Schutz des Verbrauchers vor „Schädigungen seiner Gesundheit“ sicherstellen. Auch im sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 85/374 wird das Ziel des Schutzes des Verbrauchers „in seiner körperlichen Unversehrtheit“ genannt.

62.      Das Fehlen einer Einschränkung bei der Übernahme körperlicher Schäden wird durch den Anhang der Entschließung des Rates vom 14. April 1975 betreffend ein Erstes Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher(22), der unter den Zielen der Verbraucherpolitik der Gemeinschaft den Schutz gegen die Folgen physischer Schäden anführt, die durch fehlerhafte Waren entstehen(23), sowie durch die Begründung des am 9. September 1976 von der Kommission vorgelegten Vorschlags einer Richtlinie(24) untermauert, in der es heißt, dass die physischen Schäden die Behandlungskosten und alle Ausgaben, die dem Opfer für die Wiederherstellung der Gesundheit entstehen, sowie jede sich aus dem erlittenen physischen Schaden ergebende Beeinträchtigung seiner Arbeitsfähigkeit umfassen.

63.      Der Ausschluss von Schäden, die durch eine chirurgische Operation zur Explantation eines fehlerhaften medizinischen Geräts entstehen, stünde darüber hinaus in einem absoluten Widerspruch zu dem mit der Richtlinie 85/374 verfolgten allgemeinen Ziel des Schutzes der Sicherheit und Gesundheit der Verbraucher.

64.      Im Übrigen hat der Gerichtshof im Urteil Veedfald(25) bereits entschieden, dass Art. 9 der Richtlinie 85/374, auch wenn er weder eine ausdrückliche Definition des Schadensbegriffs enthält noch die Arten des ersatzfähigen Schadens genauer definiert, dahin auszulegen ist, dass er abgesehen vom immateriellen Schaden, dessen Ersatz sich ausschließlich nach dem Recht der Mitgliedstaaten richtet, für die von ihm erfassten Schadensarten eine angemessene und vollständige Entschädigung der Geschädigten vorschreibt(26).

65.      Dass die Richtlinie 85/374 den durch Tod und Körperverletzungen verursachten Schaden umfasst, ist letztlich „das Mindeste“(27), da „das vorrangige Ziel der Haftung für fehlerhafte Produkte stets und in allen Ländern darin bestanden hat, die Entschädigung für physische Schäden sicherzustellen“(28).

66.      Daraus ergibt sich, dass alle materiellen Schäden, die Folge einer Verletzung der Person sind, vollständig ersetzt werden müssen.

67.      Unter diesen Umständen läuft eine Verweigerung des Ersatzes sich aus einem chirurgischen Eingriff zur Explantation eines fehlerhaften Geräts und zur Reimplantation eines neuen fehlerfreien Geräts ergebender Schäden unter dem Vorwand, dass der Geschädigte diesen Eingriff beschlossen und geplant habe, meines Erachtens darauf hinaus, in die Richtlinie 85/374 eine Voraussetzung im Zusammenhang mit der Plötzlichkeit und Äußerlichkeit des erlittenen Schadens einzufügen, die diese Richtlinie nicht enthält.

68.      Zudem führt die Argumentation, die darin besteht, auf die Initiative des Geschädigten abzustellen, um ihm anschließend die Entschädigung seines Schadens zu verweigern, auf die Spitze getrieben zu einem absurden und unbilligen Ergebnis, da vom Geschädigten verlangt wird, tot zu sein, um einen ersatzfähigen Schaden geltend machen zu können. Dieses Ergebnis stünde selbstverständlich in einem absoluten Widerspruch zur praktischen Wirksamkeit der Richtlinie 85/374.

69.      Die Verpflichtung des Herstellers wird gemäß Art. 4 der Richtlinie 85/374 wohlgemerkt vom Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem sich aus dem Risiko eines Geräteausfalls ergebenden Fehler und dem sich aus den präventiven chirurgischen Operationen zur Explantation der fehlerhaften Geräte und zur Reimplantation neuer Geräte ergebenden Schaden der Patienten abhängen.

70.      Wie die französische Regierung zu Recht geltend macht, ist es Sache des nationalen Gerichts, im Rahmen der Beurteilung des Bestehens eines solchen Zusammenhangs zu prüfen, dass die bei den Versicherten durchgeführten Operationen erforderliche und verhältnismäßige Maßnahmen darstellten, d. h. Maßnahmen, die geeignet waren, dem in Rede stehenden Ausfallrisiko vorzubeugen, und nicht durch weniger schädigende Maßnahmen ersetzt werden können.

71.      Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑503/13 keine Anhaltspunkte festgestellt, die diesbezüglich irgendeinen Anlass zu Bedenken geben könnten. Wie sich vielmehr aus seinen Feststellungen ergibt, hatte die G. GmbH den Ärzten selbst empfohlen, das Austauschen von Geräten zu erwägen, und vorgeschlagen, kostenlos Ersatzgeräte zu liefern. Ein weiterer relevanter Gesichtspunkt für die Beurteilung durch das vorlegende Gericht geht aus dem am 22. Juli 2005 von der G. GmbH übermittelten Schreiben hervor, das unter der Überschrift „Wichtiger Hinweis“ die Klarstellung enthält, dass, auch wenn die Abfrage mit dem Programmiergerät es „möglicherweise“(29) erlaube, Geräte zu identifizieren, die den Fehler bereits aufwiesen, es jedoch nicht möglich gewesen sei, einen Test zu bestimmen, mit dem sich ein künftiges Versagen der Geräte prognostizieren lasse.

72.      In der Rechtssache C‑504/13 hat das vorlegende Gericht hingegen festgestellt, dass der sich aus dem fehlerhaften Schalter ergebenden Gesundheitsgefahr durch bloße Deaktivierung der Magnetfunktion, die den Patienten körperlich nicht gefährde, „wirkungsvoll“ habe begegnet werden können. Unter diesen Umständen wird es Sache des vorlegenden Gerichts sein, zu prüfen, ob diese Maßnahme eine Alternative darstellte, die einen dem Austausch des Defibrillators gleichwertigen Grad an Sicherheit bot, und keinen größeren Gesundheitsschaden als dieser Austausch hervorgerufen hätte.

73.      Muss schließlich hervorgehoben werden, dass die vorliegenden Rechtssachen in einem besonderen Kontext stehen, der durch die Zunahme von Gesundheitsskandalen um Gesundheitsprodukte, insbesondere implantierbare medizinische Geräte wie Hüftgelenke, Herzkatheter, Knieprothesen oder Brustimplantate(30), gekennzeichnet ist? Nachdem diese Skandale die Lücken und Unzulänglichkeiten des bestehenden Genehmigungs- und Kontrollsystems aufgedeckt hatten, haben die Kommission und die Mitgliedstaaten umgehend einen gemeinsamen Aktionsplan angenommen, der Sofortmaßnahmen zur Wiederherstellung des Vertrauens der Patienten vorsieht(31).

74.      Die Anerkennung der Ersatzfähigkeit von Schäden, die durch Maßnahmen entstehen, die der Vorbeugung der Gefahr eines viel größeren Schadens dienen, ist geeignet, den Herstellern einen Anreiz für die Verbesserung der Sicherheit ihrer Produkte zu bieten und ein besseres Gleichgewicht zwischen dem Erfordernis einer Entschädigung der Opfer und dem Ziel der Vermeidung von Schäden zu erzielen.

75.      Vor dem Hintergrund dieser Darlegungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die zweite Frage zu antworten, dass Schäden im Zusammenhang mit einer präventiven chirurgischen Operation zur Explantation eines fehlerhaften medizinischen Geräts und zur Implantation eines neuen Geräts einen durch Körperverletzungen verursachten Schaden im Sinne von Art. 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374 darstellen. Der Hersteller des fehlerhaften Produkts haftet für diese Schäden, wenn sie in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Fehler stehen, was das nationale Gericht unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu prüfen hat, wobei insbesondere zu ermitteln ist, ob die chirurgische Operation erforderlich war, um die Verwirklichung des sich aus dem Fehler des Produkts ergebenden Ausfallrisikos zu verhindern.

IV – Ergebnis

76.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Bundesgerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Ein in den Körper eines Patienten implantiertes medizinisches Gerät ist als fehlerhaft im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte zu betrachten, wenn es die gleichen Merkmale aufweist wie andere Geräte, von denen erwiesen ist, dass sie ein nennenswert höheres als das normale Ausfallrisiko haben oder es bei einer beträchtlichen Anzahl von ihnen bereits zu Ausfällen gekommen ist. Die Zugehörigkeit eines bestimmten Produkts zu einer Gruppe fehlerhafter Produkte lässt nämlich die Annahme zu, dass es selbst ein Ausfallpotenzial hat, das der berechtigten Sicherheitserwartung der Patienten nicht entspricht.

2.      Schäden im Zusammenhang mit einer präventiven chirurgischen Operation zur Explantation eines fehlerhaften medizinischen Geräts und zur Implantation eines neuen Geräts stellen einen durch Körperverletzungen verursachten Schaden im Sinne von Art. 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374 dar. Der Hersteller des fehlerhaften Produkts haftet für diese Schäden, wenn sie in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Fehler stehen, was das nationale Gericht unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu prüfen hat, wobei insbesondere zu ermitteln ist, ob die chirurgische Operation erforderlich war, um die Verwirklichung des sich aus dem Fehler des Produkts ergebenden Ausfallrisikos zu verhindern.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. L 210, S. 29.


3 – BGBl. I 1989 S. 2198.


4 – Im Folgenden: Produkthaftungsgesetz.


5 – Im Folgenden: G. GmbH.


6 – Im Folgenden: BS. GmbH.


7 – Der Begriff „fehlerhaftes Produkt“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 ist nicht zu verwechseln mit dem Begriff „gefährliches Produkt“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Dezember 2001 über die allgemeine Produktsicherheit (ABl. 2002, L 11, S. 4). Im Unterschied zum erstgenannten hängt der zweitgenannte Begriff nicht von den Erwartungen der Öffentlichkeit ab. Zur Komplementarität zwischen diesen beiden Richtlinien vgl. Artigot i Golobardes, M., „A close look to European product regulation: an analysis of the interaction between European product safety regulation and product liability“, Polish Yearbook of Law & Economics, Bd. Nr. 3, Wydawnictwo C. H. Beck, Warschau, 2013, S. 193.


8 – Vgl. in diesem Sinne Urteil Aventis Pasteur (C‑358/08, EU:C:2009:744, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).


9 – Dieser Begriff dürfte seinen Ursprung im amerikanischen Recht haben, in dem aus den „reasonable consumer expectations“ das Kriterium eines Produktfehlers hergeleitet worden ist. Vgl. in diesem Sinne Borghetti, J-S., La responsabilité du fait des produits, étude de droit comparé, Bibliothèque de droit privé, Bd. 428, LGDJ, Paris, 2004, Nr. 437, S. 434.


10 – Vgl. in diesem Sinne Borghetti, J-S., a. a. O., Nr. 451, S. 447.


11 – Vgl. Urteil González Sánchez (C‑183/00, EU:C:2002:255, Rn. 31).


12 – Vgl. in diesem Sinne Urteil González Sánchez (EU:C:2002:255, Rn. 23).


13 –      Zur präventiven Funktion der in der Richtlinie 85/374 vorgesehenen Haftungsregelung für fehlerhafte Produkte vgl. u. a. Borghetti, J-S., a. a. O., Nr. 645, S. 613.


14 –      Gemäß Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 85/374 kann die Haftung des Lieferanten nur hilfsweise ausgelöst werden, wenn der Hersteller nicht festgestellt werden kann.


15 – ABl. L 189, S. 17.


16 – ABl. L 169, S. 1.


17 – Vgl. Regel 8 dieses Anhangs.


18 – Diese Blätter bzw. Erklärungen sind auf der Website der französischen Gesellschaft für Kardiologie unter folgender Adresse abrufbar: www.sfcardio.fr.


19 – Interessanterweise ist jedoch festzustellen, dass das Produkthaftungsgesetz, mit dem die Richtlinie 85/374 in deutsches Recht umgesetzt wird, diese Formulierung nicht aufgreift, da sie die Verpflichtung des Herstellers vorsieht, den Schaden zu ersetzen, den die getötete bzw. an Körper oder Gesundheit verletzte Person erlitten hat.


20 – Vgl. Urteil Vnuk (C‑162/13, EU:C:2014:2146, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21 – Vgl. in diesem Sinne Urteil Bark (C‑89/12, EU:C:2013:276, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).


22 – ABl. C 92, S. 1.


23 – Vgl. Nr. 15 Buchst. a Ziff. ii dieses Anhangs.


24 – Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (ABl. C 241, S. 9). Zur Begründung vgl. Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 11/76, S. 17, Rn. 17.


25 – C‑203/99, EU:C:2001:258.


26 – Rn. 27.


27 – Nach der bei Borghetti, J.-S., a. a. O., Nr. 504, S. 485, entlehnten Formulierung.


28 – Ebd.


29 – Der Mangel an Gewissheit ist kaum beruhigend.


30 – Sogenannter „PIP“-Skandal, der sich ereignet hat, nachdem entdeckt worden war, dass ein französischer Hersteller von Brustimplantaten über mehrere Jahre Industriesilikon anstelle von Silikon in medizinischer Qualität verwendet hatte. Nach den verfügbaren Schätzungen haben mehr als 400 000 Frauen weltweit ein PIP-Implantat erhalten, darunter viele in Europa, insbesondere im Vereinigten Königreich (40 000), in Frankreich (30 000) und in Spanien (18 500).


31 – Vgl. Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen vom 13. Juni 2014, Implementation of the Joint Plan for Immediate Actions under the existing Medical Devices legislation (SWD[2014] 195 endgültig).