Language of document : ECLI:EU:C:2023:903

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

23. November 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Mutter minderjähriger, nach Belgien geflüchteter Kinder – Mutter als ‚Familienangehörige‘ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie – Antrag der Mutter auf Gewährung abgeleiteten internationalen Schutzes – Ablehnung – Keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, der Betroffenen einen Anspruch auf diesen Schutz zuzuerkennen, wenn sie die Voraussetzungen für die Gewährung nicht selbst erfüllt – Art. 20 und Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie – Unanwendbarkeit“

In der Rechtssache C‑614/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 13. September 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 24. September 2022, in dem Verfahren

XXX

gegen

Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer (Berichterstatter) sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von XXX, vertreten durch S. Janssens, Avocate,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte im Beistand von S. Matray, Avocate,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und J. Hottiaux als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 20 und 23 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen XXX, einer in Belgien wohnhaften guineischen Staatsangehörigen, und dem Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose, Belgien), wegen der Entscheidung, mit der dieser den von XXX in diesem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt hat.

 Rechtlicher Rahmen

3        In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) Buchst. j der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

j)      ‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:

–        der Ehegatte der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, oder ihr nicht verheirateter Partner, der mit ihr eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare;

–        die minderjährigen Kinder des unter dem ersten Gedankenstrich genannten Paares oder der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, sofern diese nicht verheiratet sind, gleichgültig, ob es sich nach dem nationalen Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt;

–        der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist“.

4        Art. 3 („Günstigere Normen“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“

5        Art. 20 („Allgemeine Bestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Bestimmungen dieses Kapitels berühren nicht die [in dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der Fassung des am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossenen und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretenen Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge [(im Folgenden: Genfer Konvention)] verankerten Rechte.

(2)      Sofern nichts anderes bestimmt wird, gilt dieses Kapitel sowohl für Flüchtlinge als auch für Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz.

(3)      Die Mitgliedstaaten berücksichtigen bei der Umsetzung dieses Kapitels die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben.

(5)      Bei der Umsetzung der Minderjährige berührenden Bestimmungen dieses Kapitels berücksichtigen die Mitgliedstaaten vorrangig das Wohl des Kindes.“

6        Art. 23 („Wahrung des Familienverbands“) der Richtlinie 2011/95 lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann.

(2)      Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist.

(3)      Die Absätze 1 und 2 finden keine Anwendung, wenn der Familienangehörige aufgrund der Kapitel III und V von der Gewährung internationalen Schutzes ausgeschlossen ist oder ausgeschlossen wäre.

(4)      Unbeschadet der Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten aus Gründen der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung die dort aufgeführten Leistungen verweigern, einschränken oder entziehen.

(5)      Die Mitgliedstaaten können entscheiden, dass dieser Artikel auch für andere enge Verwandte gilt, die zum Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftslandes innerhalb des Familienverbands lebten und zu diesem Zeitpunkt vollständig oder größtenteils von der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, abhängig waren.“

7        Die in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 aufgeführten Leistungen beziehen sich auf das Aufenthaltsrecht, die Reisedokumente, den Zugang zur Beschäftigung, den Zugang zu Bildung und zu Verfahren für die Anerkennung von Befähigungsnachweisen, Sozialhilfeleistungen, die medizinische Versorgung, unbegleitete Minderjährige, den Zugang zu Wohnraum, die Freizügigkeit innerhalb eines Mitgliedstaats, den Zugang zu Integrationsmaßnahmen sowie schließlich die Rückkehr.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

8        XXX, eine guineische Staatsangehörige, kam 2018 mit drei ihrer Kinder nach Belgien. Am 8. August 2018 stellte sie einen Antrag auf internationalen Schutz, der abgelehnt wurde.

9        Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass eines dieser drei Kinder als Flüchtling anerkannt wurde und die Familie bereits in Guinea bestanden hatte.

10      Nach der Ablehnung ihres Antrags auf internationalen Schutz reichte XXX beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) eine Beschwerde ein, die dieser mit Entscheidung vom 8. Juni 2020 zurückwies.

11      Das mit der Kassationsbeschwerde gegen diese Entscheidung befasste vorlegende Gericht weist darauf hin, dass XXX, eine „Familienangehörige“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95, geltend mache, Art. 23 dieser Richtlinie habe mangels gültiger Umsetzung in belgisches Recht unmittelbare Wirkung und das Königreich Belgien sei deshalb verpflichtet, ihr internationalen Schutz zu gewähren.

12      Das vorlegende Gericht hat zwar Zweifel an der Stichhaltigkeit dieses Vorbringens, da Art. 23 lediglich die Gewährung der in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Leistungen erwähne und eine etwaige unmittelbare Wirkung des Art. 23 höchstens diese Gewährung zur Folge haben könne. Da es im vorliegenden Fall in letzter Instanz entscheide, sei es aber verpflichtet, insoweit den Gerichtshof zu befragen. Aufgrund dieser Erwägungen stellt das vorlegende Gericht die erste und die zweite Vorlagefrage. Es weist im Übrigen darauf hin, dass es ihm angebracht erscheine, dem Gerichtshof eine dritte Frage vorzulegen, deren Formulierung ihm von der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens vorgeschlagen worden sei.

13      Zwar hat das vorlegende Gericht auch Zweifel an der Stichhaltigkeit des Vorbringens der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens, wonach das in Art. 20 der Richtlinie 2011/95 genannte Kindeswohl und die Achtung des Familienlebens es erforderlich machten, einer Mutter von in Belgien als Flüchtlinge anerkannten Kindern, die in Begleitung der Mutter nach Belgien gekommen seien, selbst dann gemäß Art. 23 der Richtlinie internationalen Schutz zu gewähren, wenn die Mutter die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes nicht erfülle. Diese Ziele könnten nämlich auch durch die Erteilung eines unbefristeten Aufenthaltstitels erreicht werden, der der Mutter einen rechtmäßigen Aufenthalt in Belgien erlaube. Dennoch hält das vorlegende Gericht im Hinblick darauf, dass es in letzter Instanz entscheidet, auch insoweit eine Befragung des Gerichtshofs für geboten. Daher hat das vorlegende Gericht beschlossen, den Gerichtshof mit der vierten Vorlagefrage zu befassen, deren Wortlaut ebenfalls von der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens angeregt wurde.

14      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Kann Art. 23 der Richtlinie 2011/95, der nicht so in belgisches Recht umgesetzt worden ist, dass für die Mutter eines in ihrer Begleitung nach Belgien eingereisten und dort als Flüchtling anerkannten Kindes die Erteilung eines Aufenthaltstitels oder die Gewährung internationalen Schutzes vorgesehen wird, unmittelbare Wirkung haben?

2.      Falls dies zu bejahen ist, verleiht Art. 23 der Richtlinie 2011/95, wenn er nicht umgesetzt wurde, der Mutter eines in ihrer Begleitung nach Belgien eingereisten und dort als Flüchtling anerkannten Kindes einen Anspruch auf die in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Leistungen, zu denen ein Aufenthaltstitel gehört, der ihr mit ihrer Familie einen rechtmäßigen Aufenthalt in Belgien ermöglicht, oder einen Anspruch auf internationalen Schutz, auch wenn diese Mutter selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllt?

3.      Verpflichtet die praktische Wirksamkeit von Art. 23 der Richtlinie 2011/95 unter Berücksichtigung der Art. 7, 18 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union einen Mitgliedstaat, der sein nationales Recht nicht so ausgestaltet hat, dass die Familienangehörigen (im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie) der Person, der eine solche Eigenschaft zuerkannt worden ist, bestimmte Leistungen beanspruchen können, wenn sie selbst nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung desselben Status erfüllen, diesen Familienangehörigen einen Anspruch auf die abgeleitete Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, damit sie diese Leistungen beanspruchen können, um den Familienverband zu wahren?

4.      Verpflichten die Art. 20 und 23 der Richtlinie 2011/95 unter Berücksichtigung der Art. 7, 18 und 24 der Charta der Grundrechte einen Mitgliedstaat, der sein nationales Recht nicht so ausgestaltet hat, dass die Eltern eines minderjährigen Flüchtlings die in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie aufgeführten Leistungen in Anspruch nehmen können, den Eltern einen abgeleiteten internationalen Schutz zu ermöglichen, damit das Kindeswohl vorrangig berücksichtigt und die Wirksamkeit der Flüchtlingseigenschaft des Kindes gewährleistet wird?

 Zu den Vorlagefragen

15      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen. Die Rechtfertigung der Vorlage zur Vorabentscheidung liegt nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass die Vorlage für die tatsächliche Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist. Wie sich aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 43 bis 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

16      Der Gerichtshof hat daher wiederholt darauf hingewiesen, dass sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV folgt, dass das Vorabentscheidungsverfahren insbesondere voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren berücksichtigt werden kann (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

17      Aus den Angaben in der Vorlageentscheidung und den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren mit einer Beschwerde gegen eine Entscheidung befasst ist, durch die der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens die Gewährung des von ihr beantragten internationalen Schutzes versagt worden ist. Aus dieser Entscheidung und den Akten ergibt sich hingegen weder, dass die Beschwerdeführerin konkret eine oder mehrere der Leistungen gemäß den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95, auf die Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie verweist, beantragt hätte, noch, dass mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidung solche Leistungen verweigert würden.

18      Anstatt konkret eine der Leistungen gemäß den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 bei der nationalen Behörde zu beantragen, die ihr diese Leistung gewähren oder verweigern könnte, und danach bei den zuständigen nationalen Gerichten gegen eine etwaige Verweigerung vorzugehen und dabei die Gründe anzugeben, aus denen sie diese Leistung oder Leistungen ihrer Meinung nach gemäß der Richtlinie 2011/95 und insbesondere gemäß Art. 23 der Richtlinie erhalten müsste, hat sich die Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens nämlich dafür entschieden, die Gewährung internationalen Schutzes zu beantragen, und behauptet, allein dadurch könne dem geltend gemachten Umstand abgeholfen werden, dass Art. 23 nicht korrekt in nationales Recht umgesetzt worden sei.

19      Wie der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) in seiner beim vorlegenden Gericht angefochtenen Entscheidung vom 8. Juni 2020 im Wesentlichen und zutreffend ausgeführt hat, kann der Betroffenen unabhängig von der Frage, ob Art. 23 der Richtlinie 2011/95 korrekt in nationales Recht umgesetzt wurde, jedenfalls kein internationaler Schutz gewährt werden, weil sie selbst die Voraussetzungen nicht erfüllt, von denen das Unionsrecht die Gewährung eines solchen Schutzes abhängig macht.

20      Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass die Richtlinie 2011/95 eine Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf die Familienangehörigen, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieser Eigenschaft oder dieses Status erfüllen, kraft Ableitung von einer Person, der diese Eigenschaft oder dieser Status zuerkannt worden ist, nicht vorsieht. Insoweit geht aus Art. 23 der Richtlinie hervor, dass diese den Mitgliedstaaten nur aufgibt, ihr nationales Recht so anzupassen, dass diese Familienangehörigen gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf bestimmte Leistungen haben, die der Wahrung des Familienverbands dienen, wie z. B. die Ausstellung eines Aufenthaltstitels und der Zugang zu Beschäftigung oder Bildung, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung dieser Familienangehörigen vereinbar ist (Urteile vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 68, und vom 9. November 2021, Bundesrepublik Deutschland [Wahrung des Familienverbands], C‑91/20, EU:C:2021:898, Rn. 36). Aus den gleichen Gründen kann Art. 20 der Richtlinie 2011/95, der allgemeine Bestimmungen enthält und in Abs. 3 die Verpflichtung zur Berücksichtigung der speziellen Situation schutzbedürftiger Personen sowie in Abs. 5 die Verpflichtung zur vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls vorsieht, auch nicht dahin ausgelegt werden, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, dem Elternteil eines internationalen Schutz genießenden minderjährigen Kindes die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

21      Zwar ist es einem Mitgliedstaat nach dem Unionsrecht nicht verwehrt, gemäß günstigeren nationalen Rechtsvorschriften im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2011/95 kraft Ableitung und zur Wahrung des Familienverbands die Flüchtlingseigenschaft den „Familienangehörigen“ einer Person zuzuerkennen, die einen solchen Schutz genießt, jedoch nur, sofern dies mit der Richtlinie vereinbar ist.

22      Von dieser Möglichkeit der Mitgliedstaaten hat allerdings, wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen und den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, der belgische Gesetzgeber für Familienangehörige einer internationalen Schutz genießenden Person, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, keinen Gebrauch gemacht.

23      Im Übrigen ergibt sich aus den Rn. 12 und 13 des vorliegenden Urteils, dass das vorlegende Gericht selbst Zweifel in Bezug auf die Möglichkeit hegt, ein Recht auf internationalen Schutz, wie es im Ausgangsverfahren begehrt wird, auf die Art. 20 und 23 der Richtlinie 2011/95 zu stützen, dass es sich aber für verpflichtet hält, den Gerichtshof hierzu zu befragen, da es im vorliegenden Fall in letzter Instanz entscheidet.

24      Unter diesen Umständen und angesichts der in den Rn. 15 und 16 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung sowie des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits, wie er in den Rn. 17 und 18 des vorliegenden Urteils dargestellt ist, bedarf es einer Beantwortung der Vorlagefragen nur, soweit es in diesen darum geht, ob eine Person, die sich in der Lage der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens befindet, einen Anspruch auf Gewährung internationalen Schutzes hat. Im Übrigen ist das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig.

25      Nach alledem und insbesondere angesichts der in den Rn. 20 bis 22 des vorliegenden Urteils angesprochenen Aspekte sind die Vorlagefragen dahin zu beantworten, dass die Art. 20 und 23 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen sind, dass sie die Mitgliedstaaten nicht verpflichten, dem Elternteil eines in einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannten Kindes, der „Familienangehöriger“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie ist, einen Anspruch auf internationalen Schutz in diesem Mitgliedstaat zu gewähren.

 Kosten

26      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 20 und 23 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

sind dahin auszulegen, dass

sie die Mitgliedstaaten nicht verpflichten, dem Elternteil eines in einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannten Kindes, der „Familienangehöriger“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie ist, einen Anspruch auf internationalen Schutz in diesem Mitgliedstaat zuzuerkennen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.