Language of document : ECLI:EU:C:2023:909

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 23. November 2023(1)

Rechtssache C420/22

NW

gegen

Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság,

Miniszterelnöki Kabinetirodát vezető miniszter

und

Rechtssache C528/22

PQ

gegen

Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság,

Miniszterelnöki Kabinetirodát vezető miniszter

(Vorabentscheidungsersuchen des Szegedi Törvényszék [Stuhlgericht Szeged, Ungarn])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Richtlinie 2003/109/EG – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Entzug dieser Rechtsstellung – Art. 20 AEUV – Unionsbürgerschaft – Unionsbürger, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – Aufenthalt eines Familienangehörigen – Entzug oder Versagung eines Aufenthaltsrechts – Gefahr für die nationale Sicherheit – Stellungnahme einer Fachbehörde – Verschlusssachen – Begründung – Akteneinsicht“






I.      Einleitung

1.        Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 20 AEUV sowie von Art. 9 Abs. 3 und Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen(2).

2.        Die Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen den Drittstaatsangehörigen NW (Rechtssache C‑420/22) und PQ (Rechtssache C‑528/22) auf der einen Seite und der Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság (Nationale Generaldirektion der Fremdenpolizei, Ungarn) (im Folgenden: Generaldirektion) auf der anderen Seite.

3.        Die Rechtsstreitigkeiten betreffen in der Rechtssache C‑420/22 den Entzug der Daueraufenthaltskarte von NW und die Verpflichtung, das ungarische Hoheitsgebiet zu verlassen, und in der Rechtssache C‑528/22 die Ablehnung des Antrags von PQ auf Erteilung einer nationalen Erlaubnis zum Daueraufenthalt.

4.        Im Rahmen der vom Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged, Ungarn) in den beiden Rechtssachen vorgelegten Fragen wird der Gerichtshof um Klärung der materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen ersucht, die die Mitgliedstaaten erfüllen müssen, um vom abgeleiteten Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV abweichen zu können.

5.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich in Fortführung der Rechtsprechung des Gerichtshofs in seinem kürzlich zum internationalen Schutz ergangenen Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a.(3), die Gründe darlegen, aus denen ich der Ansicht bin, dass Art. 20 AEUV im Licht der Art. 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(4) dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist: die maßgebliche Beteiligung einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde, die nicht mit der für Aufenthaltsfragen zuständigen Behörde identisch ist; der für letztere Behörde verbindliche Charakter der von der Fachbehörde abgegebenen Stellungnahme; das Fehlen einer Begründung sowohl für diese Stellungnahme als auch für die Entscheidung, das Aufenthaltsrecht zu entziehen oder zu versagen; das Fehlen einer Mitteilung an den Betroffenen über die wesentlichen Gründe, auf denen diese Entscheidung beruht, und die Nichtberücksichtigung aller relevanten individuellen Umstände.

II.    Ungarisches Recht

6.        § 94 des A szabad mozgás és tartózkodás jogával rendelkező személyek beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. évi I. törvény (Gesetz Nr. I von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Personen, die über das Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt verfügen)(5) vom 5. Januar 2007 (im Folgenden: Gesetz Nr. I) sieht vor:

„(1)      In Verfahren, die Drittstaaten angehörende Familienangehörige ungarischer Staatsbürger betreffen, gelten die Bestimmungen des [A harmadik országbeli állampolgárok beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. évi II. törvény (Gesetz Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen)(6) vom 5. Januar 2007 (im Folgenden: Gesetz Nr. II)], sofern die Verfahren nach dem Inkrafttreten des [Az egyes migrációs tárgyú és kapcsolódó törvények módosításáról szóló 2018. évi CXXXIII. törvény (Gesetz Nr. CXXXIII von 2018 zur Änderung einiger die Migration betreffender Gesetze und einiger ergänzender Gesetze)(7) vom 12. Dezember 2018 (im Folgenden: Zweites Änderungsgesetz)] eingeleitet und wiederholt worden sind.

(2)      Ein Drittstaatsangehöriger, der über eine Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte verfügt, die ihm als Familienangehörigen eines ungarischen Staatsbürgers vor dem Inkrafttreten des Zweiten Änderungsgesetzes ausgestellt wurde und zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes gültig war, erhält auf vor Ablauf seiner Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte gestellten Antrag hin ohne Prüfung der in § 33 Absatz 1 Buchstaben a und b sowie § 35 Absätze 1 und 1a des Gesetzes [Nr. II] festgelegten Voraussetzungen eine nationale Erlaubnis zum Daueraufenthalt, es sei denn:

c)      seiner Niederlassung steht ein Versagungsgrund nach § 33 Absatz 1 Buchstabe c und Absatz 2 des Gesetzes [Nr. II] entgegen.

(3)      Hinsichtlich Absatz 2 Buchstabe c sind die benannten Fachbehörden gemäß den Vorschriften des Gesetzes [Nr. II] über die Erteilung einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt zu konsultieren, um ihre Stellungnahme einzuholen.

(4)      Besitzt ein Drittstaatsangehöriger, der Familienangehöriger eines ungarischen Staatsbürgers ist, eine gültige Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte, wird diese entzogen,

b)      wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit Ungarns verletzt.

(5)      Zu jeder speziellen Frage nach Absatz 4 Buchstabe b sind die Fachbehörden gemäß den Vorschriften des Gesetzes [Nr. II] zu konsultieren, um ihre Stellungnahme zu dieser Frage einzuholen.

…“

7.        § 33 Abs. 2 Buchst. b des Gesetzes sieht vor:

„Ein Drittstaatsangehöriger darf keine vorläufige Erlaubnis zum Daueraufenthalt, nationale Erlaubnis zum Daueraufenthalt oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt EG erhalten,

b)      wenn seine Niederlassung die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit der Republik Ungarn gefährdet;“

8.        § 87/B Abs. 4 des Gesetzes Nr. II sieht vor:

„Die Stellungnahme der Fachbehörde ist in Bezug auf die spezielle Frage für die befasste Ausländerbehörde verbindlich.“

9.        § 97 Abs. 1 des A harmadik országbeli állampolgárok beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. évi II. törvény végrehajtásáról szóló 114/2007 rendelet (Regierungsdekret Nr. 114/2007 zur Durchführung des [Gesetzes Nr. II])(8) vom 5. Januar 2007 sieht vor:

„Für Verfahren zur Erteilung oder zum Entzug einer vorläufigen Erlaubnis zum Daueraufenthalt, einer nationalen Erlaubnis zum Daueraufenthalt oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt EG für einen Drittstaatsangehörigen und für Verfahren zum Entzug einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt oder einer Einwanderungserlaubnis für einen Drittstaatsangehörigen bestimmt die Regierung – soweit es um die Feststellung geht, ob die Niederlassung oder die Einwanderung des Drittstaatsangehörigen die nationale Sicherheit Ungarns gefährdet – in erster Instanz das Alkotmányvédelmi Hivatal [Amt für Verfassungsschutz, Ungarn] und das Terrorelhárítási Központ [Zentrales Amt für Terrorabwehr] sowie in zweiter Instanz den für die Leitung der zivilen Dienste für nationale Sicherheit zuständigen Minister als Fachbehörde.“

10.      § 11 des A minősített adat védelméről szóló 2009. évi CLV. törvény (Gesetz Nr. CLV von 2009 über den Schutz von Verschlusssachen)(9) vom 29. Dezember 2009 sieht vor:

„(1)      Auf der Grundlage einer von der für die Einstufung zuständigen Stelle erteilten Kenntnisnahmegenehmigung ist die betroffene Person … berechtigt, Kenntnis von ihren personenbezogenen Daten in einer nationalen Verschlusssache zu erhalten.

(2)      … Beeinträchtigt die Kenntnisnahme von der Information das der Einstufung zugrunde liegende öffentliche Interesse, lehnt die für die Einstufung zuständige Stelle die Erteilung der Kenntnisnahmegenehmigung ab. Die Ablehnung der Kenntnisnahmegenehmigung ist von der für die Einstufung zuständigen Stelle zu begründen.

(3)      Wird die Erteilung der Kenntnisnahmegenehmigung abgelehnt, kann die betroffene Person diesen Bescheid auf dem Verwaltungsrechtsweg anfechten. Gibt das angerufene Gericht dem Antrag statt, hat die für die Einstufung zuständige Stelle die Kenntnisnahmegenehmigung zu erteilen. … Der Kläger, die zu seiner Unterstützung beteiligte Person und ihre Vertreter dürfen während des Verfahrens keine Kenntnis von den als Verschlusssachen eingestuften Informationen erhalten …“.

11.      § 12 dieses Gesetzes sieht vor:

„(1)      Der für eine Verschlusssache Verantwortliche kann es ablehnen, der betroffenen Person das Recht auf Zugang zu ihren personenbezogenen Daten zu gewähren, wenn das der Einstufung zugrunde liegende öffentliche Interesse durch die Ausübung dieses Rechts beeinträchtigt wird.

(2)      Werden die betreffenden Rechte vor Gericht geltend gemacht, sind auf das befasste Gericht und die Kenntnisnahme von den als Verschlusssache eingestuften Informationen die Bestimmungen des § 11 Abs. 3 entsprechend anzuwenden.“

12.      § 13 Abs. 1 und 5 des Gesetzes sieht vor:

„(1)      Eine als Verschlusssache eingestufte Information darf nur von einer Person verwendet werden, in deren Fall dies zur Erfüllung einer staatlichen oder öffentlichen Aufgabe begründet ist und die – außer in den in diesem Gesetz vorgesehenen Fällen – über

a)      einen gültigen persönlichen Sicherheitsbescheid, der dem Geheimhaltungsgrad der für die Verwendung vorgesehenen Informationen entspricht,

b)      eine Geheimhaltungserklärung und

c)      eine Verwendungsgenehmigung

verfügt.

(5)      Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist der Richter auch ohne nationale Sicherheitsüberprüfung, ohne persönlichen Sicherheitsbescheid sowie ohne Geheimhaltungserklärung und Verwendungsgenehmigung befugt, die für die Beurteilung der nach der Geschäftsverteilung zugewiesenen Rechtssachen erforderlichen Verfügungen zu treffen.“

13.      Art. 14 Abs. 4 des Gesetzes sieht vor:

„Der Zugang zu einer nationalen Verschlusssache im Rahmen eines Verwaltungs-, Gerichts- – ausgenommen Strafsachen – oder Ordnungswidrigkeitenverfahrens oder eines anderen amtlichen Verfahrens kann von der für die Einstufung zuständigen Stelle genehmigt werden. Die Erteilung einer Genehmigung zur Verwendung nationaler Verschlusssachen darf im Rahmen von Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit durch die Staatsanwaltschaft und von zivilrechtlichen Gerichtsverfahren, die von der Staatsanwaltschaft im öffentlichen Interesse eingeleitet werden können, nicht verweigert werden.“

III. Sachverhalt der Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

A.      Rechtssache C420/22

14.      NW, ein türkischer Staatsangehöriger, heiratete 2004 eine ungarische Staatsangehörige. Im Jahr 2005 bekam das Paar ein Kind, das die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt.

15.      Im August 2012 beantragte NW nach mehr als fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalts in Ungarn und unter Berücksichtigung des Status seiner Frau und seines Kindes bei den ungarischen Behörden eine Daueraufenthaltskarte, die ihm mit Gültigkeit bis zum 31. Oktober 2022 ausgestellt wurde.

16.      NW verfügt in Ungarn über ein stabiles und regelmäßiges Einkommen sowie über Immobilienbesitz, mit denen er sich und seine Familie ohne Inanspruchnahme des ungarischen Sozialhilfesystems ernähren kann.

17.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass zwischen NW und seinem minderjährigen Kind ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe.

18.      NW und seine Frau üben das Sorgerecht und die tatsächliche Sorge für ihr Kind nämlich gemeinsam aus. Ohne das Einkommen von NW hätte seine Familie keine Existenzmittel. Zudem hat er eine enge emotionale Verbindung zu seinem Kind.

19.      In einer nicht begründeten Stellungnahme vom 12. Januar 2021 erklärte das Amt für Verfassungsschutz, dass der Aufenthalt von NW in Ungarn die nationalen Sicherheitsinteressen Ungarns verletze. Es stufte die Informationen, auf die es seine Stellungnahme stützte, im Sinne des Gesetzes Nr. CLV von 2009 über den Schutz von Verschlusssachen als „Verschlusssachen“ ein, so dass weder NW noch die Ausländerbehörde Kenntnis von ihrem Inhalt erlangen konnten.

20.      Mit Bescheid vom 22. Januar 2021 entzog die elsőfokú idegenrendészeti hatóság (erstinstanzliche Ausländerbehörde, Ungarn) NW auf der Grundlage von § 94 Abs. 4 Buchst. b des Gesetzes Nr. I die Daueraufenthaltskarte und forderte ihn auf, das Hoheitsgebiet Ungarns zu verlassen.

21.      Dieser Bescheid wurde am 10. Mai 2021 von der Generaldirektion mit der Begründung bestätigt, dass der Belügyminiszter (Innenminister, Ungarn) in seiner Stellungnahme vom 13. April 2021 als zweitinstanzliche Fachbehörde festgestellt habe, dass der Aufenthalt von NW die nationalen Sicherheitsinteressen Ungarns verletze. In ihrer Entscheidung betonte die Generaldirektion, dass sie gemäß § 87/B Abs. 4 des Gesetzes Nr. I nicht von der Stellungnahme des Innenministers abweichen könne und daher verpflichtet sei, NW die Daueraufenthaltskarte ohne Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände zu entziehen. Die Generaldirektion wies auch darauf hin, dass der Entzug der Daueraufenthaltskarte NW nicht daran hindere, einen Aufenthaltstitel nach den Bestimmungen des Gesetzes Nr. II unter den dort festgelegten Bedingungen zu beantragen(10).

22.      NW erhob gegen die Entscheidung der Generaldirektion vom 10. Mai 2021 Klage beim Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged) und beantragte die Aufhebung dieser Entscheidung sowie des Bescheids der erstinstanzlichen Ausländerbehörde.

23.      Er wirft den Behörden vor, seine persönlichen Umstände nicht geprüft zu haben, insbesondere in Bezug auf seine Bindungen zu Ungarn. Die Behörden hätten die detaillierte Begründung der Fachbehörden nicht zur Kenntnis genommen und daher unter Missachtung u. a. des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit entschieden. NW führt aus, dass seine Familie und insbesondere sein Kind, das er zusammen mit seiner Frau aufziehe, aufgrund ihres Abhängigkeitsverhältnisses in eine ernste Lage geraten würden, wenn er das Hoheitsgebiet Ungarns verlassen müsste.

24.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Entscheidung, NW die Daueraufenthaltskarte zu entziehen, allein auf den verbindlichen und nicht begründeten Stellungnahmen der Fachbehörden beruhe, die wiederum auf Verschlusssachen beruhten, zu denen weder NW noch die über den Aufenthalt entscheidenden Behörden Zugang gehabt hätten. Folglich enthalte auch die von diesen Behörden getroffene Entscheidung keine Begründung.

25.      Das Gericht betont, dass sich aus der Rechtsprechung der Kúria (Oberstes Gericht, Ungarn) ergebe, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Verfahrensrechte der betroffenen Person dadurch gewährleistet würden, dass das zuständige Gericht bei seiner Prüfung der Rechtmäßigkeit der Aufenthaltsentscheidung die der Stellungnahme der Fachbehörden zugrunde liegenden Verschlusssachen einsehen könne.

26.      Nach den ungarischen Vorschriften hätten weder die betroffene Person noch ihr Vertreter eine konkrete Möglichkeit, sich zu der nicht begründeten Stellungnahme dieser Behörden zu äußern. Zwar hätten sie das Recht, in einem gesonderten Verfahren einen Antrag auf Zugang zu Verschlusssachen über die betroffene Person zu stellen(11), doch könnten sie diejenigen Verschlusssachen, zu denen ihnen Zugang gewährt werde, keinesfalls im Rahmen von Verwaltungsverfahren oder Gerichtsverfahren verwenden. Das mit einer Klage gegen eine Aufenthaltsentscheidung befasste Gericht habe in dieser Hinsicht keine Befugnisse. Darüber hinaus könne das Gericht nur eine nicht begründete Entscheidung darüber treffen, ob die Stellungnahme der Fachbehörden die Schlussfolgerung, dass die betreffende Person eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstelle, hinreichend rechtfertige oder nicht.

27.      NW falle aber in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109(12) und müsse daher ähnliche Verfahrensgarantien genießen, wie sie der Gerichtshof insbesondere in seinem Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ(13), zur Richtlinie 2004/38/EG(14) hervorgehoben habe.

28.      Unter diesen Umständen hat das Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 in Verbindung mit Art. 47 der Charta – sowie gegebenenfalls mit Art. 7 und 24 der Charta – dahin zu verstehen, dass er die Behörde eines Mitgliedstaats, die eine Entscheidung erlassen hat, mit der aus Gründen der nationalen Sicherheit und/oder der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit der Entzug einer früher erteilten langfristigen Aufenthaltsberechtigung angeordnet wird, sowie die Fachbehörde, die den vertraulichen Charakter festgestellt hat, dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der betroffene Drittstaatsangehörige und sein gesetzlicher Vertreter zumindest vom wesentlichen Inhalt der als vertraulich oder als Verschlusssache eingestuften Informationen und Daten, die der auf die genannten Gründe gestützten Entscheidung zugrunde liegen, Kenntnis erhalten und diese Informationen oder Daten in dem Verfahren, das die Entscheidung betrifft, verwenden können, wenn die zuständige Behörde der Auffassung ist, dass eine solche Offenlegung den Gründen der nationalen Sicherheit zuwiderlaufen würde?

2.      Bejahendenfalls: Was genau ist im Hinblick auf die Art. 41 und 47 der Charta unter „wesentlicher Inhalt“ der als geheim eingestuften Gründe, auf deren Grundlage eine solche Entscheidung ergeht, zu verstehen?

3.      Ist Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das über die Rechtmäßigkeit der Stellungnahme der Fachbehörde, die auf einen Grund gestützt ist, der sich auf als vertraulich oder als Verschlusssache eingestufte Informationen bezieht, und der auf dieser Stellungnahme beruhenden materiell-rechtlichen Entscheidung auf dem Gebiet des Ausländerrechts entscheidet, befugt sein muss, die Rechtmäßigkeit der Geheimhaltung (ihre Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit) zu prüfen und, wenn es die Geheimhaltung für rechtswidrig hält, anzuordnen, dass die betroffene Person und ihr gesetzlicher Vertreter von allen Informationen, auf die sich die Stellungnahme und die Entscheidung der Verwaltungsbehörden stützen, Kenntnis erhalten und diese verwenden dürfen, oder, wenn es die Geheimhaltung für rechtmäßig hält, anzuordnen, dass die betroffene Person zumindest von dem wesentlichen Inhalt der vertraulichen Informationen Kenntnis erhalten und diese Informationen in dem sie betreffenden ausländerrechtlichen Verfahren verwenden kann?

4.      Sind die Art. 9 Abs. 3 und Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 in Verbindung mit den Art. 7 und 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der eine ausländerrechtliche Entscheidung, mit der der Entzug einer früher erteilten langfristigen Aufenthaltsberechtigung angeordnet wird, in einer Entscheidung ohne Begründung besteht,

a)      die sich ausschließlich auf eine automatische Bezugnahme auf eine verbindliche, ebenfalls nicht begründete, die Gefährdung oder Verletzung der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung feststellende fachbehördliche Stellungnahme, die keine Ausnahme zulässt, stützt, und

b)      die daher ohne gründliche Prüfung des Vorliegens von Gründen der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung im konkreten Fall und ohne Berücksichtigung der individuellen Umstände und der Erfordernisse der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit erlassen wurde?

29.      Am 8. August 2022 hat der Gerichtshof vom vorlegenden Gericht eine Ergänzung des Vorabentscheidungsersuchens erhalten.

30.      Das vorlegende Gericht hat darin klargestellt, dass es sich bei dem Ersuchen auf die Annahme gestützt habe, dass NW in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109 falle. Sollte der Gerichtshof jedoch zur gegenteiligen Auffassung gelangen, müsse jedenfalls festgestellt werden, ob NW ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV gewährt werden könne, da zwischen ihm und seinem minderjährigen Kind ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe.

31.      Angesichts dessen ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die Generaldirektion bereits dadurch gegen Unionsrecht verstoßen habe, dass sie nicht geprüft habe, ob der Kläger in den Anwendungsbereich von Art. 20 AEUV falle.

32.      Daher hat das Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged) die dem Gerichtshof bereits vorgelegten Fragen um die folgende, in drei Teile gegliederte Vorlagefrage ergänzt:

Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 Charta dahin auszulegen, dass er der Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, eine Entscheidung zu erlassen, mit der der Entzug einer Aufenthaltsberechtigung angeordnet wird, die zuvor einem Drittstaatsangehörigen erteilt wurde, dessen minderjähriges Kind und dessen Ehegatte die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Union besitzen und in diesem Staat leben, ohne zuvor zu prüfen, ob dem betreffenden Familienangehörigen, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zusteht?

Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 und 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass, soweit ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV anwendbar ist, das Unionsrecht zur Folge hat, dass die nationalen Verwaltungs- und Justizbehörden auch das Unionsrecht anwenden müssen, wenn sie eine ausländerrechtliche Entscheidung erlassen, mit der der Widerruf einer Daueraufenthaltskarte angeordnet wird, und wenn sie die Ausnahmebestimmungen in Bezug auf Gründe der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit anwenden, auf die sich diese Entscheidung stützt, sowie, wenn nachgewiesen ist, dass solche Gründe vorliegen, wenn sie die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Beschränkung des Aufenthaltsrechts prüfen?

Für den Fall, dass der Kläger in den Anwendungsbereich von Art. 20 AEUV fällt, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, die in der Vorlageentscheidung gestellten Fragen 1 bis 4 auch im Licht dieses Artikels zu beantworten.

33.      Die ungarische und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

B.      Rechtssache C528/22

34.      PQ, ein nigerianischer Staatsangehöriger, reiste im Juni 2005 als professioneller Fußballspieler rechtmäßig nach Ungarn ein und hält sich dort seither rechtmäßig auf. Seit 2011 lebt er mit seiner Lebensgefährtin, die die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt, zusammen. In den Jahren 2012 und 2021 bekam das Paar zwei Kinder, die ebenfalls die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen.

35.      Der letzte Antrag auf eine Daueraufenthaltskarte, den PQ angesichts des Status seines ersten Kindes gestellt hatte, stammt vom 23. Januar 2014. Die ungarischen Behörden stellten ihm diese Karte mit Gültigkeit bis zum 15. September 2020 aus.

36.      PQ übt gemeinsam mit seiner Partnerin das Sorgerecht für seine Kinder aus. Er lebt dauerhaft mit den Kindern zusammen und übt die meiste Zeit die tatsächliche Sorge für sie aus. Zwischen den Kindern und PQ, der sich seit ihrer Geburt dauerhaft um sie kümmert, besteht eine enge emotionale Verbindung und ein Abhängigkeitsverhältnis.

37.      PQ wurde 2012 Opfer eines Angriffs, durch den er eine schwere und dauerhafte Behinderung erlitt.

38.      Mit Bescheid vom 27. Oktober 2020 lehnte die erstinstanzliche Ausländerbehörde einen von PQ am 6. August 2020 gestellten Antrag auf eine nationale Erlaubnis zum Daueraufenthalt ab.

39.      In einer nicht begründeten Stellungnahme vom 9. September 2020 erklärte das Amt für Verfassungsschutz, dass der Aufenthalt von PQ in Ungarn die nationalen Sicherheitsinteressen Ungarns verletze. Es stufte die Informationen, auf die es seine Stellungnahme stützte, im Sinne des Gesetzes Nr. CLV von 2009 über den Schutz von Verschlusssachen als „Verschlusssachen“ ein, so dass weder PQ noch die Ausländerbehörde Kenntnis von ihrem Inhalt erlangen konnten.

40.      Der Bescheid der erstinstanzlichen Ausländerbehörde vom 27. Oktober 2020 wurde am 25. März 2021 von der Generaldirektion mit der Begründung bestätigt, dass der Innenminister in seiner Stellungnahme vom 12. Februar 2021 als zweitinstanzliche Fachbehörde festgestellt habe, dass der Aufenthalt von PQ die nationalen Sicherheitsinteressen Ungarns verletze. In ihrer Entscheidung betonte die Generaldirektion, dass sie gemäß § 87/B Abs. 4 des Gesetzes Nr. II nicht von der Stellungnahme des Innenministers abweichen könne und daher verpflichtet sei, den Antrag von PQ auf eine nationale Erlaubnis zum Daueraufenthalt ohne Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände abzulehnen.

41.      PQ erhob gegen die Entscheidung der Generaldirektion vom 25. März 2021 Klage beim Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged) und beantragte die Aufhebung dieser Entscheidung sowie des Bescheids der erstinstanzlichen Ausländerbehörde.

42.      Er wirft den Behörden vor, seine persönlichen Umstände nicht geprüft zu haben und unter Missachtung u. a. des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit entschieden zu haben. Weder er noch die Behörden hätten nämlich Kenntnis von der detaillierten Begründung der Fachbehörden erhalten. PQ macht außerdem geltend, dass zwischen ihm und seinen minderjährigen Kindern ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe, so dass er Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV habe.

43.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Entscheidung, PQ die nationale Erlaubnis zum Daueraufenthalt zu versagen, allein auf verbindlichen und nicht begründeten Stellungnahmen beruhe, die wiederum auf Verschlusssachen beruhen, zu denen weder PQ noch die über den Aufenthalt entscheidenden Behörden Zugang gehabt hätten. Die Entscheidung enthalte ebenfalls keine Begründung. Diese Behörden hätten zudem keine eingehende Prüfung der Frage vorgenommen, ob die Situation von PQ unter das Unionsrecht fallen könnte, weil er ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV genieße.

44.      Das Gericht stellt fest, dass sich aus der Rechtsprechung der Kúria (Oberster Gerichtshof) ergebe, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Verfahrensrechte der betroffenen Person dadurch gewährleistet würden, dass das zuständige Gericht bei seiner Prüfung der Aufenthaltsentscheidung die der Stellungnahme der Fachbehörden zugrunde liegenden Verschlusssachen einsehen könne.

45.      Nach den ungarischen Vorschriften hätten weder die betroffene Person noch ihr Vertreter eine konkrete Möglichkeit, sich zu der nicht begründeten Stellungnahme dieser Behörden zu äußern. Zwar hätten sie das Recht, einen gesonderten Antrag auf Zugang zu Verschlusssachen über die betroffene Person zu stellen, doch könnten sie diejenigen vertraulichen Informationen, zu denen ihnen Zugang gewährt werde, keinesfalls im Rahmen von Verwaltungsverfahren oder Gerichtsverfahren verwenden. Das mit einer Klage gegen eine Aufenthaltsentscheidung befasste Gericht habe in dieser Hinsicht keine Befugnisse.

46.      Im vorliegenden Fall hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) am 7. März 2022 zudem die Klagen von PQ gegen die Weigerung der Fachbehörden, ihm Einsicht in die ihn betreffenden Verschlusssachen und deren Verwendung in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu gestatten, abgewiesen.

47.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts fällt PQ in den Anwendungsbereich von Art. 20 AEUV und muss daher ähnliche Verfahrensgarantien genießen, wie sie der Gerichtshof insbesondere in seinem Urteil ZZ zur Richtlinie 2004/38 hervorgehoben habe.

48.      Unter diesen Umständen hat das Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      a)      Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen, dass er der Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, die darin besteht, eine Entscheidung zu erlassen, mit der der Entzug der einem Drittstaatsangehörigen zuvor erteilten Aufenthaltserlaubnis angeordnet oder sein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (in der vorliegenden Rechtssache der Antrag auf Erteilung einer nationalen Erlaubnis zum Daueraufenthalt) abgelehnt wird, obwohl dessen minderjähriger Sohn und dessen Lebensgefährtin Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Union sind und in diesem Staat leben, wenn zuvor nicht geprüft wird, ob der betroffene Familienangehörige, der Drittstaatsangehöriger ist, sich nach Art. 20 AEUV auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht berufen kann?

b)      Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass das Unionsrecht, soweit nach Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht besteht, dazu führt, dass die nationalen Verwaltungs- und Justizbehörden das Unionsrecht auch anzuwenden haben, wenn sie eine ausländerrechtliche Entscheidung erlassen, die einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (in der vorliegenden Rechtssache einen Antrag auf Erteilung einer nationalen Erlaubnis zum Daueraufenthalt) betrifft, sie als Grundlage dieser Entscheidung die Ausnahmen der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit anwenden und die Prüfung der Erforderlichkeit und der Angemessenheit ergibt, dass solche eine Beschränkung des Aufenthaltsrechts rechtfertigenden Gründe vorliegen?

2.      Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta – sowie gegebenenfalls mit den Art. 7 und 24 der Charta – dahin auszulegen, dass er die Behörde eines Mitgliedstaats, die eine Entscheidung erlassen hat, mit der aus Gründen der nationalen Sicherheit und/oder der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit der Entzug einer früher erteilten langfristigen Aufenthaltsberechtigung angeordnet oder über einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entschieden wird, sowie die Fachbehörde, die den vertraulichen Charakter festgestellt hat, dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der betroffene Drittstaatsangehörige und sein gesetzlicher Vertreter zumindest vom wesentlichen Inhalt der als vertraulich oder als Verschlusssache eingestuften Informationen und Daten, die der auf die genannten Gründe gestützten Entscheidung zugrunde liegen, Kenntnis erhalten und diese Informationen oder Daten in dem Verfahren, das die Entscheidung betrifft, verwenden können, wenn die zuständige Behörde der Auffassung ist, dass eine solche Offenlegung den Gründen der nationalen Sicherheit zuwiderliefe?

3.      Falls dies zu bejahen ist: Was genau ist im Hinblick auf die Art. 41 und 47 der Charta unter „wesentlicher Inhalt“ der als vertraulich eingestuften Gründe, auf deren Grundlage eine solche Entscheidung ergeht, zu verstehen?

4.      Ist Art. 20 AEUV im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das über die Rechtmäßigkeit der Stellungnahme der Fachbehörde, die auf einen Grund gestützt ist, der sich auf als vertraulich oder als Verschlusssache eingestufte Informationen bezieht, und der auf dieser Stellungnahme beruhenden materiell-rechtlichen Entscheidung auf dem Gebiet des Ausländerrechts entscheidet, befugt sein muss, die Rechtmäßigkeit der Geheimhaltung (ihre Erforderlichkeit und Angemessenheit) zu prüfen und, wenn es die Geheimhaltung für rechtswidrig hält, anzuordnen, dass die betroffene Person und ihr gesetzlicher Vertreter von allen Informationen, auf die sich die Stellungnahme und die Entscheidung der Verwaltungsbehörden stützen, Kenntnis erhalten und diese verwenden dürfen, oder aber, wenn es die Geheimhaltung für rechtmäßig hält, anzuordnen, dass die betroffene Person zumindest vom wesentlichen Inhalt der vertraulichen Informationen Kenntnis erhalten und diese Informationen in dem sie betreffenden ausländerrechtlichen Verfahren verwenden kann?

5.      Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der eine ausländerrechtliche Entscheidung, mit der der Entzug einer früher erteilten langfristigen Aufenthaltsberechtigung angeordnet oder ein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beschieden wird, in einer Entscheidung ohne Begründung besteht,

a)      die sich ausschließlich auf eine automatische Bezugnahme auf eine bindende und ebenso wenig mit Gründen versehene Stellungnahme der Fachbehörde stützt, mit der die Gefährdung oder Verletzung der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung festgestellt wird und von der nicht abgewichen werden darf, und

b)      die daher ohne gründliche Prüfung des Vorliegens von Gründen der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung im konkreten Fall und ohne Berücksichtigung der individuellen Umstände und der Erfordernisse der Erforderlichkeit und Angemessenheit erlassen wurde?

49.      PQ, die ungarische und die französische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

50.      In der gemeinsamen mündlichen Verhandlung der beiden Rechtssachen am 5. Juli 2023 haben PQ, die ungarische und die französische Regierung sowie die Kommission mündliche Erklärungen abgegeben und die vom Gerichtshof gestellten Fragen beantwortet.

IV.    Würdigung

A.      Einleitende Bemerkungen zur auszulegenden Vorschrift des Unionsrechts

51.      Die beiden vorliegenden Fälle werfen im Wesentlichen die gleichen Fragen auf, der erste Fall im Zusammenhang mit der Richtlinie 2003/109 (Rechtssache C‑420/22), der zweite in Bezug auf Art. 20 AEUV (Rechtssache C‑528/22).

52.      In der Rechtssache C‑420/22 macht die ungarische Regierung geltend, dass NW auf der Grundlage der ungarischen Regelung ein dauerhafter Aufenthaltstitel erteilt worden sei. Dabei handele es sich jedoch um einen Aufenthaltstitel, der unabhängig vom Unionsrecht und auf der Grundlage günstigerer Voraussetzungen als den im Unionsrecht vorgesehenen eingeführt worden sei. Ein solcher Aufenthaltstitel sei daher nicht mit der in der Richtlinie 2003/109 vorgesehenen Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten zu verwechseln. Diese Rechtsstellung entspreche nach ungarischem Recht einer anderen Art von Aufenthaltstitel, nämlich der Erlaubnis zum Daueraufenthalt EG. Daraus folge, dass NW weder ein unter diese Richtlinie fallender Aufenthaltstitel entzogen worden sei noch er die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels beantragt habe. Eine Auslegung der Richtlinie sei daher im vorliegenden Fall nicht erforderlich.

53.      Zwar ist es im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens Sache des vorlegenden Gerichts, den Sachverhalt zu ermitteln, und das Gericht hat im ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchen festgestellt, dass NW die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne der Richtlinie 2003/109 habe. Es ist jedoch auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht in einer Ergänzung seiner Vorlageentscheidung gewisse Zweifel an der Anwendbarkeit der Richtlinie in der Rechtssache C‑420/22 zu äußern scheint. Es hat den Gerichtshof daher ersucht, auf der Grundlage von Art. 20 AEUV zu entscheiden, falls dieser zu dem Schluss kommen sollte, dass die Richtlinie für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht relevant sei.

54.      Diese Zweifel scheinen durch die Argumentation der ungarischen Regierung gestützt zu werden, wonach es im ungarischen Recht einen Unterschied zwischen der Erlaubnis zum Daueraufenthalt EG, die die Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten aus der Richtlinie 2003/109 umsetze, und der Daueraufenthaltskarte, über die NW verfüge, gebe, die allein aus dem nationalen Recht hervorgehe und deren Erteilung weniger strengen Voraussetzungen als den unionsrechtlichen unterliege.

55.      Der Gerichtshof hat das vorlegende Gericht um eine Klarstellung ersucht, in der es ausführlich darlegen sollte, aus welchen Gründen es der Ansicht ist, dass die Richtlinie 2003/109 in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fall anwendbar sei. Insbesondere wurde das Gericht um Auskunft darüber gebeten, welcher Aufenthaltstitel die in der Richtlinie vorgesehene Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in das ungarische Recht umsetze und ob NW einen solchen Aufenthaltstitel besitze oder dessen Erteilung beantragt habe.

56.      In seiner Antwort erläutert das vorlegende Gericht, dass NW auf seinen Antrag hin eine bis 31. Oktober 2022 gültige Daueraufenthaltskarte gemäß der Richtlinie 2004/38(15) sowie der damals geltenden Art. 24 und 25 des Gesetzes Nr. I, mit dem die Richtlinie umgesetzt worden sei, ausgestellt worden sei. Der ungarische Gesetzgeber habe dann entschieden, dass die Richtlinie ab dem 1. Januar 2019 nicht mehr auf Drittstaatsangehörige angewandt werden solle, die einem ungarischen Familienmitglied nach Ungarn nachreisten. Ein solcher Drittstaatsangehöriger falle daher seit diesem Datum in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109.

57.      Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass der ungarische Gesetzgeber die Richtlinie 2003/109 durch die Einführung der Erlaubnis zum Daueraufenthalt EG und der vorläufigen Erlaubnis zum Daueraufenthalt in nationales Recht umgesetzt habe.(16) NW habe keine dieser beiden Erlaubnisse beantragt. Dieser Behauptung ist jedoch in der mündlichen Verhandlung widersprochen worden, da die Vertreterin von NW angegeben hat, dass NW zu einem späteren Zeitpunkt die Erteilung einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt EG beantragt habe und dass das entsprechende Verfahren noch laufe(17).

58.      Jedenfalls ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen, dass das der Rechtssache C‑420/22 zugrunde liegende Ausgangsverfahren den Entzug eines dem nationalen Recht unterliegenden Aufenthaltstitels und nicht eines gemäß der Richtlinie 2003/109 erteilten Aufenthaltstitels betrifft. Daraus folgt meines Erachtens, dass die Entscheidung des Rechtsstreits nicht von einer Auslegung der Bestimmungen dieser Richtlinie abhängt. Insoweit weise ich darauf hin, dass es entgegen dem, was das vorlegende Gericht in seinem ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchen nahe zu legen scheint, nicht ausreicht, dass die Situation von NW der Definition des „langfristig Aufenthaltsberechtigten“ in Art. 2 Buchst. b der Richtlinie entspricht, um davon auszugehen, dass die Bestimmungen dieser Richtlinie auf ihn anwendbar sind.

59.      Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass in der mit der Richtlinie 2003/109 geschaffenen Regelung klar festgelegt ist, dass die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Richtlinie einem besonderen Verfahren unterliegt und außerdem von der Erfüllung der in Kapitel II der Richtlinie angegebenen Voraussetzungen abhängt(18). Dies bedeutet insbesondere, dass ein spezieller Antrag mit entsprechenden Unterlagen gestellt werden muss.

60.      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen, die sich in den letzten fünf Jahren ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilen. Die Erlangung dieser Rechtsstellung vollzieht sich indes nicht automatisch. Gemäß Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie hat der betreffende Drittstaatsangehörige hierzu nämlich bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhält, einen Antrag einzureichen, dem Unterlagen beizufügen sind, aus denen hervorgeht, dass er die Voraussetzungen der Art. 4 und 5 der Richtlinie erfüllt. Insbesondere muss er gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie nachweisen, dass er über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen(19).

61.      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass es nicht ausreicht, die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Richtlinie 2003/109 zu erfüllen, um die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Richtlinie zu erlangen, und dass einem Drittstaatsangehörigen ein langfristiger Aufenthalt allein auf der Grundlage nationalen Rechts ohne Anwendung der Richtlinie gestattet werden kann, da diese nicht der umfassenden Harmonisierung bezüglich des langfristigen Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen dient.

62.      Obwohl NW anscheinend alle notwendigen Schritte unternommen hat, um eine Aufenthaltserlaubnis als langfristig Aufenthaltsberechtigter gemäß der Richtlinie 2003/109 zu erlangen, ist das entsprechende Verwaltungsverfahren noch nicht abgeschlossen und steht nicht im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens, bei dem es, wie bereits erwähnt, um den Entzug eines nach nationalem Recht erteilten Aufenthaltstitels geht.

63.      Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen sind meines Erachtens im Rahmen der Rechtssache C‑420/22 die vom vorlegenden Gericht in seinem ergänzenden Vorabentscheidungsersuchen gestellten Fragen zu beantworten, mit denen der Gerichtshof, wie in der Rechtssache C‑528/22, um Auslegung von Art. 20 AEUV ersucht wird.

B.      Zum Erfordernis einer Prüfung des Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Drittstaatsangehörigen und seiner Familie durch die für Aufenthaltsfragen zuständige Behörde

64.      Mit seiner Frage 1.a in der Rechtssache C‑528/22 und der entsprechenden Frage in der Rechtssache C‑420/22 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er es einer Behörde eines Mitgliedstaats verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger von Unionsbürgern ist, die Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind und nie von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, aus Gründen der nationalen Sicherheit einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesen Personen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das es dem Drittstaatsangehörigen ermöglichen könnte, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht in Anspruch zu nehmen.

65.      Die ungarische Regierung macht geltend, dass sich weder NW noch PQ im Verwaltungsverfahren auf Art. 20 AEUV berufen hätten, obwohl sich ein Antragsteller bei seinem Antrag auf einen Aufenthaltstitel zumindest im Grundsatz auf das auf diesen Artikel gestützte abgeleitete Aufenthaltsrecht berufen müsse, das er in Anspruch nehmen wolle. Darüber hinaus habe sich NW auch vor dem vorlegenden Gericht nicht auf diesen Artikel berufen, und dieses sei folglich sogar über die von ihm gestellten Anträge hinausgegangen.

66.      Wie der Gerichtshof kürzlich in den Rn. 20 bis 26 seines Urteils vom 22. Juni 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Thailändische Mutter eines niederländischen minderjährigen Kindes)(20), festgestellt hat, steht Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen einschließlich Entscheidungen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Status verleiht, verwehrt wird.

67.      Die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft verleihen Drittstaatsangehörigen hingegen keine eigenen Rechte. Die etwaigen Rechte, die den Drittstaatsangehörigen verliehen werden, sind nämlich nicht deren eigene Rechte, sondern aus den Rechten des Unionsbürgers abgeleitete Rechte. Ihr Zweck und ihre Rechtfertigung beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger insbesondere in seiner Freizügigkeit im Unionsgebiet beeinträchtigen könnte.

68.      Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende abgeleitete Unionsrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde.

69.      Damit eine solche Verweigerung die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft beeinträchtigen kann, muss nach Ansicht des Gerichtshofs daher zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis bestehen, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, wenn dem Drittstaatsangehörigen das Recht zum Aufenthalt im Unionsgebiet verweigert wird.

70.      Wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, ist die Zuerkennung eines Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV im Hinblick auf die Intensität des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem betreffenden Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, zu beurteilen, wobei bei dieser Beurteilung sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind(21).

71.      Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass zwischen jedem der betroffenen Drittstaatsangehörigen und ihren Familien, insbesondere ihren jeweiligen Kindern, ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Zwar behauptet die ungarische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen zu PQ das Gegenteil und stützt sich dabei auf eine Sachverhaltsbeschreibung, die der des vorlegenden Gerichts widerspricht, doch ist zu betonen, dass der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens auf der Grundlage der Sachverhaltsangaben des vorlegenden Gerichts zu entscheiden hat(22).

72.      Darüber hinaus behauptet die ungarische Regierung, dass die Anwendung von Art. 20 AEUV im vorliegenden Fall irrelevant sei, da gegen die betroffenen Drittstaatsangehörigen keine Abschiebungsmaßnahmen ergangen seien und sie daher nicht gezwungen seien, das Unionsgebiet zu verlassen. Diese Argumentation ist jedoch nicht überzeugend. Denn abgesehen davon, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen hervorzugehen scheint, dass die Drittstaatsangehörigen der Verpflichtung unterliegen, das ungarische Hoheitsgebiet zu verlassen, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig, dass Art. 20 AEUV gegen eine den Aufenthalt versagende Entscheidung geltend gemacht werden kann(23).

73.      Eine der Schwierigkeiten in den vorliegenden Fällen besteht darin, dass NW und PQ bei den ungarischen Behörden keinen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Art. 20 AEUV gestellt haben. Daher muss geklärt werden, ob diese Behörden dennoch verpflichtet waren, zu prüfen, ob dieser Artikel anzuwenden war, weil sie vom Bestehen einer familiären Beziehung zwischen den betroffenen Drittstaatsangehörigen und ihren Familienangehörigen mit ungarischer Staatsangehörigkeit wussten.

74.      Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Verfahrensmodalitäten, nach denen ein Drittstaatsangehöriger das Bestehen eines abgeleiteten Rechts nach Art. 20 AEUV geltend machen kann, die praktische Wirksamkeit dieses Artikels nicht beeinträchtigen dürfen(24).

75.      So sind die nationalen Behörden zwar nicht verpflichtet, systematisch und von sich aus das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses im Sinne von Art. 20 AEUV zu prüfen, da die betroffene Person die Informationen beizubringen hat, anhand deren sich beurteilen lässt, ob die Voraussetzungen für die Anwendung dieses Artikels erfüllt sind, doch wäre dessen praktische Wirksamkeit beeinträchtigt, wenn der Drittstaatsangehörige oder der Unionsbürger, der zu seiner Familie gehört, daran gehindert wäre, die Gesichtspunkte geltend zu machen, anhand deren sich beurteilen lässt, ob zwischen ihnen ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne von Art. 20 AEUV besteht(25).

76.      Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass die zuständige nationale Behörde, wenn sie mit einem Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Gewährung eines Aufenthaltsrechts zum Zweck einer Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist, befasst ist, diesen Antrag nicht automatisch allein deshalb ablehnen darf, weil der Unionsbürger nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt. Sie hat vielmehr auf der Grundlage der Informationen, die der betreffende Drittstaatsangehörige und der betreffende Unionsbürger nach freiem Ermessen beibringen können müssen, und – sofern notwendig – nach Vornahme der erforderlichen Ermittlungen zu beurteilen, ob zwischen diesen beiden Personen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, so dass dem Drittstaatsangehörigen grundsätzlich ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV gewährt werden muss(26).

77.      Aus dieser Rechtsprechung leite ich ab, dass Art. 20 AEUV den nationalen Behörden zwar keine Verpflichtung auferlegt, das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses im Sinne dieses Artikels systematisch und von sich aus zu prüfen, dass sie jedoch verpflichtet sind, eine solche Prüfung ab dem Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem die ihnen vorgelegten Informationen geeignet sind, das Bestehen eines solchen Verhältnisses zu untermauern.

78.      Diese Feststellung wird meines Erachtens durch das Urteil vom 27. April 2023, M.D. (Verbot der Einreise nach Ungarn)(27), bestätigt, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen, der einen Familienangehörigen hat, der Unionsbürger sowie Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, die Einreise in das Unionsgebiet nicht verbieten kann, ohne dass das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Drittstaatsangehörigen und diesem Familienangehörigen geprüft wurde(28).

79.      In Anbetracht dessen sollte Art. 20 AEUV meines Erachtens dahin gehend ausgelegt werden, dass er es einer Behörde eines Mitgliedstaats verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger von Unionsbürgern ist, die Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind und nie von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, aus Gründen der nationalen Sicherheit einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne zuvor auf der Grundlage der Informationen, die der betreffende Drittstaatsangehörige und der betreffende Unionsbürger nach freiem Ermessen beibringen können müssen, und unter Vornahme gegebenenfalls erforderlicher Ermittlungen zu prüfen, ob zwischen diesen Personen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger faktisch dazu zwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten.

80.      Es sei jedoch klargestellt, dass aufgrund des subsidiären Charakters des abgeleiteten Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV ein solches Recht gegebenenfalls nur dann gewährt werden sollte, wenn kein Aufenthaltsrecht auf einer anderen Grundlage erlangt wurde(29).

C.      Zu den Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten vom abgeleiteten Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV abweichen können

81.      Die ungarische Regelung ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: die maßgebliche Beteiligung einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betraute Fachbehörde, die nicht mit der für Aufenthaltsfragen zuständigen Behörde identisch ist; der für letztere Behörde verbindliche Charakter der von der Fachbehörde abgegebenen Stellungnahme; das Fehlen einer Begründung sowohl für die Stellungnahme als auch für die Entscheidung, das Aufenthaltsrecht zu entziehen oder zu versagen, und die Nichtberücksichtigung aller relevanten individuellen Umstände.

82.      In Anbetracht dieser Merkmale der ungarischen Regelung wird der Gerichtshof mit den Fragen des vorlegenden Gerichts ersucht, die materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen zu konkretisieren, die die Mitgliedstaaten erfüllen müssen, um vom abgeleiteten Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV abweichen zu können.

1.      Zum Erfordernis einer Prüfung der individuellen Umstände und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch die für Aufenthaltsfragen zuständige Behörde

83.      Mit seiner Frage 1.b und seiner fünften Frage in der Rechtssache C‑528/22 sowie den entsprechenden Fragen in der Rechtssache C‑420/22 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts auf der Grundlage einer nicht begründeten verbindlichen Stellungnahme einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde ohne gründliche Prüfung aller individuellen Umstände und der Verhältnismäßigkeit dieser Entscheidung zu erlassen ist.

84.      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen bei einem Familienangehörigen eines Unionsbürgers, der von seiner Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, vom abgeleiteten Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV abweichen können, um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder den Schutz der öffentlichen Sicherheit zu gewährleisten. Dies kann der Fall sein, wenn der Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche oder nationale Sicherheit darstellt(30).

85.      Nach Ansicht des Gerichtshofs darf eine solche Abweichung jedoch nicht allein auf die Vorstrafen des betreffenden Drittstaatsangehörigen gestützt werden. Sie kann sich gegebenenfalls nur aus einer konkreten Beurteilung sämtlicher relevanten Umstände des konkreten Falls – im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der Grundrechte, deren Beachtung der Gerichtshof sichert, sowie u. a. des Wohls des minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist – ergeben. So kann die zuständige nationale Behörde u. a. die Schwere der begangenen Straftaten und den Schweregrad der entsprechenden Verurteilungen sowie die Zeitspanne berücksichtigen, die zwischen diesen Verurteilungen und der von ihr getroffenen Entscheidung liegt. Ergibt sich das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Drittstaatsangehörigen und einem minderjährigen Unionsbürger daraus, dass zwischen ihnen ein Eltern-Kind-Verhältnis besteht, sind auch das Alter und der Gesundheitszustand sowie die familiäre und wirtschaftliche Situation dieses minderjährigen Unionsbürgers zu berücksichtigen(31).

86.      Der Gerichtshof hat deshalb entschieden, dass, wenn feststeht, dass zwischen dem betroffenen Drittstaatsangehörigen und seinem Familienangehörigen, der Unionsbürger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, der betreffende Mitgliedstaat diesem Drittstaatsangehörigen die Einreise in das und den Aufenthalt im Unionsgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit daher nur unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände, darunter das Wohl von dessen minderjährigem Kind, das Unionsbürger ist, verbieten darf(32).

87.      Eine solche Berücksichtigung aller relevanten Umstände war somit für die ungarischen Aufenthaltsbehörden geboten. Da diese Behörden jedoch nach der ungarischen Regelung an die nicht begründete Stellungnahme einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde gebunden ist, ist es ihnen unmöglich, den geltend gemachten Grund der nationalen Sicherheit, dessen zugrunde liegende tatsächliche Umstände den Aufenthaltsbehörden nicht mitgeteilt werden, gegen die persönliche und familiäre Situation der ein Aufenthaltsrecht beantragenden Person abzuwägen.

88.      Daher bewirkt die ungarische Regelung, dass den ungarischen Aufenthaltsbehörden die Befugnis entzogen wird, zu beurteilen, ob die Gründe, aus denen eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts erlassen wird, eine Abweichung von dem abgeleiteten Aufenthaltsrecht zulassen, das ein Drittstaatsangehöriger genießt, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, was in fundamentalem Widerspruch zur Rechtsprechung des Gerichtshofs steht(33).

89.      Angesichts des üblichen Umfangs der Begründungspflicht, insbesondere im Zusammenhang mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, erfüllt die Begründung einer Entscheidung über den Entzug oder die Versagung des Aufenthalts, die lediglich auf eine – ihrerseits nicht begründete – Stellungnahme einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde verweist, nicht die Anforderungen, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung hervorgehoben hat(34).

90.      Ich beziehe mich hierbei insbesondere auf die Schlussfolgerung des Gerichtshofs in Bezug auf den internationalen Schutz in seinem Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., nämlich, dass die Asylbehörde sich nicht darauf beschränken darf, eine von einer anderen Behörde erlassene Entscheidung, die für sie nach nationalem Recht verbindlich ist, umzusetzen, und dass sie nicht allein auf dieser Grundlage die Entscheidung treffen darf, die Gewährung subsidiären Schutzes auszuschließen oder einen zuvor gewährten internationalen Schutz abzuerkennen(35). Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Behörde vielmehr über alle relevanten Informationen verfügen und anhand dieser Informationen ihre eigene Würdigung des Sachverhalts und der Umstände vornehmen muss, um den Inhalt ihrer Entscheidung zu bestimmen und diese umfassend zu begründen(36).

91.      Dieselben Grundsätze müssen meiner Meinung nach auch für die für Aufenthaltsfragen zuständige Behörde gelten.

92.      Zwar darf der Umfang dieser Anforderungen bei Verschlusssachen auf der Grundlage einer Abwägung zwischen dem Recht auf eine gute Verwaltung sowie dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf einerseits und dem Schutz der nationalen Sicherheit andererseits eingeschränkt werden.

93.      Auch wenn es möglich ist, dass ein Teil der Informationen, die von der für Aufenthaltsfragen zuständigen Behörde für die Durchführung ihrer Würdigung verwendet werden, aus eigener Initiative oder auf Ersuchen dieser Behörde von mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörden erteilt werden und einer Vertraulichkeitsregelung unterworfen werden kann,(37) muss die Aufenthaltsbehörde jedoch die Möglichkeit haben, die Tragweite dieser Informationen und ihre Relevanz für die zu erlassende Entscheidung frei zu beurteilen.(38) Sie kann daher nicht verpflichtet sein, sich auf eine nicht begründete Stellungnahme zu stützen, die von mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörden auf der Grundlage einer Bewertung abgegeben wurde, deren Tatsachengrundlage ihr nicht mitgeteilt wurde(39).

94.      Deshalb ist Art. 20 AEUV meines Erachtens dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts auf der Grundlage einer nicht begründeten verbindlichen Stellungnahme einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde, wonach die betroffene Person eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt, ohne gründliche Prüfung aller individuellen Umstände und der Verhältnismäßigkeit dieser Entscheidung zu erlassen ist.

95.      Ich möchte hinzufügen, dass, wenn eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts gleichzeitig auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger(40) darstellen sollte, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, Art. 5 dieser Richtlinie, der die Mitgliedstaaten u. a. dazu verpflichtet, das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen in gebührender Weise zu berücksichtigen, beachtet werden sollte(41).

2.      Zum Zugang der betroffenen Person zu Informationen, die die Grundlage für eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts bilden, und zu ihrer Verwendung im Rahmen des Aufenthaltsverfahrens

96.      Mit seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑528/22 und der entsprechenden Frage in der Rechtssache C‑420/22 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV im Licht der Art. 41 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der, wenn eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts auf als Verschlusssache eingestuften Informationen beruht, deren Offenlegung die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats gefährden würde, die betroffene Person oder ihr Rechtsberater nur nach Einholung einer entsprechenden Genehmigung Zugang zu diesen Informationen erhalten, ihnen nicht einmal der wesentliche Inhalt der Gründe für eine solche Entscheidung mitgeteilt wird und sie diejenigen Informationen, zu denen sie Zugang gehabt haben könnten, in dem Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren in der Aufenthaltssache jedenfalls nicht verwenden dürfen.

97.      In beiden Rechtssachen fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof somit nach den Pflichten der für Aufenthaltsfragen zuständigen Behörde und der mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörden bezüglich des Zugangs der betroffenen Person und/oder ihres Vertreters zu als Verschlusssache eingestuften Informationen, auf deren Grundlage eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines eventuellen Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV aus Gründen der nationalen Sicherheit gefasst wurde, und bezüglich der Verwendung dieser Informationen in dem Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren in der Aufenthaltssache.

98.      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass mangels anwendbarer Bestimmungen des Unionsrechts darüber, in welcher Weise die Mitgliedstaaten die Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person gewährleisten müssen, wenn ihr Recht auf Akteneinsicht aufgrund einer nationalen Regelung eingeschränkt wird, die konkreten Modalitäten der zu diesem Zweck festgelegten Verfahren nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats sind, wobei allerdings vorauszusetzen ist, dass sie nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige innerstaatliche Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch die Rechtsordnung der Union verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz)(42).

99.      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten haben, dass sowohl die Anforderungen, die aus dem Recht auf eine gute Verwaltung folgen, das ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, der in Art. 41 der Charta zum Ausdruck kommt(43), als auch das in Art. 47 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewahrt werden; diese gebieten jeweils im Verwaltungsverfahren bzw. in einem etwaigen Gerichtsverfahren die Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person(44).

100. Was erstens das Verwaltungsverfahren betrifft, so bedeutet nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Achtung der Verteidigungsrechte, dass der Adressat einer Entscheidung, die seine Interessen spürbar beeinträchtigt, von den Verwaltungen der Mitgliedstaaten, wenn sie Maßnahmen treffen, die in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen, in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen(45).

101. Entsprechend dem, was der Gerichtshof im Bereich des internationalen Schutzes entschieden hat, zielt diese Anforderung insbesondere darauf ab, der für Aufenthaltsfragen zuständigen Behörde zu ermöglichen, in voller Kenntnis der Sache eine individuelle Prüfung sämtlicher maßgebender Ereignisse und Umstände vorzunehmen, was voraussetzt, dass der Adressat der Entscheidung einen Fehler berichtigen oder Umstände, die seine persönliche Situation betreffen, vortragen kann, die für oder gegen den Erlass oder für oder gegen einen bestimmten Inhalt der Entscheidung sprechen(46).

102. Da die genannte Anforderung notwendigerweise voraussetzt, dass diesem Adressaten, gegebenenfalls durch einen Rechtsberater, eine konkrete Möglichkeit geboten wird, Kenntnis von den Gesichtspunkten zu erlangen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, geht mit der Achtung der Verteidigungsrechte das Recht auf Einsicht in den gesamten Akteninhalt im Laufe des Verwaltungsverfahrens einher(47).

103. Was zweitens das Gerichtsverfahren betrifft, so ist es nach ständiger Rechtsprechung für die Wirksamkeit der durch Art. 47 der Charta gewährleisteten gerichtlichen Kontrolle erforderlich, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht, erlangen kann, entweder durch die Lektüre der Entscheidung selbst oder durch eine auf seinen Antrag hin erfolgte Mitteilung dieser Gründe, unbeschadet der Befugnis des zuständigen Gerichts, von der betreffenden Behörde die Übermittlung dieser Gründe zu verlangen, um es ihm zu ermöglichen, seine Rechte unter bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für ihn von Nutzen ist, das zuständige Gericht anzurufen, und dieses vollständig in die Lage zu versetzen, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der fraglichen nationalen Entscheidung auszuüben.(48) Die Achtung der Verteidigungsrechte, die insbesondere im Rahmen von Verfahren geboten ist, die Rechtsbehelfe im Bereich des Aufenthaltsrechts betreffen, setzt voraus, dass der Kläger nicht nur Zugang zu den Gründen der ihm gegenüber ergangenen Entscheidung, sondern auch, um zu diesen tatsächlich Stellung nehmen zu können, Einsicht in den gesamten Akteninhalt erhalten kann, auf den sich die Verwaltung gestützt hat(49).

104. Ferner besagt der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens, der Bestandteil der Verteidigungsrechte nach Art. 47 der Charta ist, dass die Verfahrensbeteiligten das Recht darauf haben müssen, von allen beim Gericht eingereichten Schriftstücken oder Erklärungen Kenntnis zu nehmen, um diese zu erörtern und die Entscheidung des Gerichts beeinflussen zu können, was voraussetzt, dass die Person, der gegenüber eine Entscheidung über den Entzug eines Aufenthaltstitels ergangen ist, von den sie betreffenden Aktenstücken Kenntnis nehmen können muss, die dem Gericht, das über den gegen diese Entscheidung eingelegten Rechtsbehelf zu befinden hat, zur Verfügung stehen(50).

105. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Verteidigungsrechte keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen und das damit einhergehende Recht auf Akteneinsicht daher eingeschränkt werden kann, und zwar unter Abwägung zwischen dem Recht der betroffenen Person auf eine gute Verwaltung sowie auf einen wirksamen Rechtsbehelf auf der einen und den als Rechtfertigung für die Nichtoffenlegung eines Aktenbestandteils gegenüber dieser Person angeführten Interessen auf der anderen Seite, insbesondere wenn diese Interessen die nationale Sicherheit betreffen(51). In der Tat kann es sich sowohl in einem Verwaltungsverfahren als auch in einem Gerichtsverfahren als notwendig erweisen, dem Betroffenen insbesondere aus zwingenden Gründen der nationalen Sicherheit bestimmte Informationen nicht mitzuteilen(52).

106. Die Grenzen dieser Abwägung wurden vom Gerichtshof bereits präzisiert.

107. So darf diese Abwägung angesichts der gebotenen Beachtung von Art. 47 der Charta nicht dazu führen, dass den Verteidigungsrechten der betroffenen Person jede Wirksamkeit genommen wird und das Recht auf einen Rechtsbehelf, über das eine Person verfügen muss, der ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zusteht, dadurch ausgehöhlt wird, dass ihr oder gegebenenfalls ihrem Rechtsberater nicht zumindest der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt wird, auf denen die ihr gegenüber ergangene Entscheidung beruht(53).

108. Diese Abwägung kann indessen dazu führen, dass bestimmte Aktenbestandteile der betroffenen Person nicht mitgeteilt werden, wenn die Offenlegung dieser Bestandteile geeignet ist, die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats insoweit unmittelbar und besonders zu beeinträchtigen, als sie insbesondere das Leben, die Gesundheit oder die Freiheit von Personen gefährden könnte oder die von den mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörden speziell angewandten Untersuchungsmethoden enthüllen und damit die zukünftige Erfüllung der Aufgaben dieser Behörden ernsthaft behindern oder sogar unmöglich machen könnte.(54)

109. Auch wenn das Unionsrecht die Mitgliedstaaten ermächtigt, der betroffenen Person namentlich dann, wenn die nationale Sicherheit dies verlangt, keinen direkten Zugang zu ihrer gesamten Akte zu gewähren, kann dieses Recht somit nicht ohne Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz, das Recht auf eine gute Verwaltung und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf dahin ausgelegt werden, dass es den zuständigen Behörden ermöglicht, diese Person in eine Lage zu versetzen, in der weder sie noch ihr Rechtsberater in der Lage wären, sich – gegebenenfalls im Rahmen eines speziellen Verfahrens, das der Wahrung der nationalen Sicherheit dient – in zweckdienlicher Weise Kenntnis vom wesentlichen Inhalt entscheidender Bestandteile dieser Akte zu verschaffen(55).

110. Auf der Grundlage dieser Grundsätze hat der Gerichtshof in Bezug auf den internationalen Schutz zum einen festgestellt, dass, wenn die Offenlegung von Informationen aus einem Grund der nationalen Sicherheit beschränkt wurde, die Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person nicht hinreichend dadurch gewährleistet wird, dass diese Person unter bestimmten Voraussetzungen eine Genehmigung für den Zugang zu diesen Informationen erhalten kann, die mit einem vollständigen Verbot der Verwendung der so erlangten Informationen für die Zwecke des Verwaltungsverfahrens oder eines etwaigen Gerichtsverfahrens verbunden ist(56).

111. Den Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Achtung der Verteidigungsrechte ergeben und die ich zuvor in Erinnerung gerufen habe, lässt sich nämlich entnehmen, dass das Recht auf Zugang zu Informationen in der Akte es der betroffenen Person, gegebenenfalls durch einen Rechtsberater, ermöglichen soll, vor den zuständigen Behörden oder Gerichten ihren Standpunkt zu diesen Informationen und zu ihrer Erheblichkeit für die zu treffende oder die erlassene Entscheidung geltend zu machen(57).

112. Daher reicht ein Verfahren, das der betroffenen Person oder ihrem Rechtsberater die Möglichkeit einräumt, Zugang zu diesen Informationen zu erhalten, ihnen aber gleichzeitig die Verwendung dieser Informationen für die Zwecke des Verwaltungsverfahrens oder eines etwaigen Gerichtsverfahrens untersagt, nicht aus, um die Verteidigungsrechte dieser Person zu wahren, und kann deshalb nicht dahin verstanden werden, dass es einem Mitgliedstaat ermöglicht, der Verpflichtung aus Art. 41 und 47 der Charta nachzukommen(58).

113. Zum anderen ist, da sich aus der Vorlageentscheidung und den Erklärungen der ungarischen Regierung ergibt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung auf der Erwägung beruht, dass die Verteidigungsrechte der betroffenen Person durch die Möglichkeit des zuständigen Gerichts, Einsicht in die Akte zu nehmen, hinreichend gewährleistet seien, darauf hinzuweisen, dass eine solche Möglichkeit nicht an die Stelle des Zugangs zu den Informationen in dieser Akte durch die betroffene Person oder ihren Rechtsberater treten kann(59). So bedeutet die Achtung der Verteidigungsrechte nicht, dass das zuständige Gericht über alle für seine Entscheidung relevanten Angaben verfügt, sondern dass die betroffene Person, gegebenenfalls durch einen Rechtsberater, ihre Interessen geltend machen kann, indem sie ihren Standpunkt hierzu zum Ausdruck bringt.(60) Tatsächlich sind der Zugang zu den Informationen in der Akte seitens der zuständigen Gerichte und die Festlegung von Verfahren, mit denen gewährleistet wird, dass die Verteidigungsrechte der betroffenen Person geachtet werden, zwei unterschiedliche und kumulative Anforderungen(61).

114. Aus dem Vorstehenden ergibt sich meines Erachtens, dass Art. 20 AEUV im Licht der Art. 41 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der, wenn eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts auf Informationen beruht, deren Offenlegung die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats gefährden würde, die betroffene Person oder ihr Rechtsberater nur nach Einholung einer entsprechenden Genehmigung Zugang zu diesen Informationen erhalten, ihnen nicht einmal der wesentliche Inhalt der Gründe für eine solche Entscheidung mitgeteilt wird und sie diejenigen Informationen, zu denen sie Zugang gehabt haben könnten, im Rahmen des Verwaltungsverfahrens oder Gerichtsverfahrens in der Aufenthaltssache jedenfalls nicht verwenden dürfen.

3.      Zum Begriff des wesentlichen Inhalts der als vertraulich eingestuften Gründe

115. Mit seiner dritten Frage in der Rechtssache C‑528/22 und der entsprechenden Frage in der Rechtssache C‑420/22 ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klärung, was genau im Hinblick auf Art. 41 und 47 der Charta unter dem Begriff des „wesentlichen Inhalts“ der als vertraulich eingestuften Gründe, auf deren Grundlage eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts ergeht, zu verstehen ist.

116. Meines Erachtens umfasst dieser Begriff die wesentlichen Aktenbestandteile, die geeignet sind, der betroffenen Person zu ermöglichen, Kenntnis von den ihr hauptsächlich vorgeworfenen Tatsachen und Verhaltensweisen zu erlangen, damit sie ihren Standpunkt im Rahmen des Verwaltungsverfahrens und später gegebenenfalls des Gerichtsverfahrens in der Aufenthaltssache darlegen kann.

117. Der Begriff des „wesentlichen Inhalts“ der als vertraulich eingestuften Gründe muss daher funktional ausgelegt werden, um die effektive Ausübung der Verteidigungsrechte zu gewährleisten und gleichzeitig die Interessen der nationalen Sicherheit zu wahren.

118. So muss dieser Begriff unter Berücksichtigung der erforderlichen Geheimhaltung der Beweise ausgelegt werden.(62) In bestimmten Fällen kann nämlich die Offenlegung dieser Beweise die Sicherheit des Staates insoweit unmittelbar und besonders beeinträchtigen, als sie insbesondere das Leben, die Gesundheit oder die Freiheit von Personen gefährden könnte oder die von den nationalen Sicherheitsbehörden speziell angewandten Untersuchungsmethoden enthüllen und damit die künftige Erfüllung der Aufgaben dieser Behörden ernsthaft behindern oder sogar unmöglich machen könnte(63).

4.      Zu den Befugnissen des für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts zuständigen Gerichts

119. Mit seiner vierten Frage in der Rechtssache C‑528/22 und der entsprechenden Frage in der Rechtssache C‑420/22 ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen um Vorabentscheidung darüber, ob Art. 20 AEUV im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er verlangt, dass das Gericht, das für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer auf als Verschlusssache eingestufte Informationen gestützten Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts zuständig ist, die Befugnis hat, die Geheimhaltung solcher Informationen aufzuheben und sie ganz oder teilweise selbst dem betroffenen Drittstaatsangehörigen mitzuteilen.

120. Diese Frage betrifft die Befugnisse des Gerichts, das die Rechtmäßigkeit einer aufenthaltsrechtlichen Entscheidung zu prüfen hat. Genauer gesagt geht es darum, wie das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf mit dem Gebot der Wahrung der Vertraulichkeit von Informationen, deren Offenlegung die mit der nationalen Sicherheit verbundenen Interessen beeinträchtigen könnte, in einem Gerichtsverfahren in Einklang zu bringen ist.

121. Aus der Vorlageentscheidung und der Formulierung der Frage des vorlegenden Gerichts scheint hervorzugehen, dass dieses der Ansicht ist, aus dem Unionsrecht ergebe sich, dass es nicht nur Zugang zu den als Verschlusssache eingestuften Informationen haben müsse, sondern gegebenenfalls auch beschließen können müsse, die Unzulässigkeit dieser Einstufung festzustellen und die Informationen ganz oder teilweise selbst der betroffenen Person mitzuteilen.

122. In der mündlichen Verhandlung haben sich die ungarische und die französische Regierung sowie die Kommission übereinstimmend dazu geäußert, wie diese Frage zu beantworten sei, nämlich dahin, dass das Unionsrecht nicht verlange, dass ein Gericht, dass für die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer auf als Verschlusssache eingestufte Informationen gestützten Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts zuständig sei, die Befugnis habe, die Geheimhaltung solcher Informationen aufzuheben und sie der betroffenen Person mitzuteilen.

123. Ich teile diese Ansicht und stütze mich dabei auf die Lehren, die meiner Meinung nach aus dem Urteil ZZ gezogen werden sollten.

124. In diesem Urteil hat der Gerichtshof bereits zu den Befugnissen Stellung genommen, die das in Aufenthaltssachen zuständige Gericht im Rahmen der Richtlinie 2004/38 haben muss, um die Achtung der Verteidigungsrechte zu gewährleisten, wenn eine Person Gegenstand einer negativen, auf vertraulichen Informationen beruhenden Entscheidung ist.

125. So ergibt sich aus dem Urteil, dass, wenn Gründe der Sicherheit des Staates angeführt werden, um dem Betroffenen die Mitteilung der Gründe für den Erlass einer Entscheidung über die Versagung des Zugangs zum Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verweigern, das zuständige Gericht dieses Mitgliedstaats verfahrensrechtliche Techniken und Regeln zu seiner Verfügung haben und anwenden muss, die es ermöglichen, die legitimen Erwägungen der Sicherheit des Staates in Bezug auf die Art und die Quellen der beim Erlass der betreffenden Entscheidung berücksichtigten Informationen auf der einen und das Erfordernis, dem Einzelnen seine Verfahrensrechte wie das Recht, gehört zu werden, und den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens hinreichend zu gewährleisten, auf der anderen Seite zum Ausgleich zu bringen(64).

126. Zu diesem Zweck hat der Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, zum einen eine wirksame gerichtliche Kontrolle sowohl des Vorliegens und der Stichhaltigkeit der von der nationalen Behörde im Hinblick auf die Sicherheit des Staates angeführten Gründe als auch der Rechtmäßigkeit der getroffenen Entscheidung und zum anderen Techniken und Regeln für diese Kontrolle vorzusehen(65).

127. Er hat weiter klargestellt, dass es wichtig ist, dem mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung betrauten Gericht zu ermöglichen, von allen Gründen und den entsprechenden Beweisen Kenntnis zu nehmen, auf deren Grundlage die Entscheidung getroffen wurde(66), um insbesondere zu beurteilen, ob die Sicherheit des Staates einer Mitteilung dieser Gründe und Beweise an den Betroffenen tatsächlich entgegensteht(67).

128. Der Gerichtshof hat ferner erläutert, welche Konsequenzen aus einer diesbezüglichen Prüfung durch das nationale Gericht zu ziehen sind.

129. So muss das Gericht, wenn es zu dem Schluss kommt, dass die Sicherheit des Staates es nicht verwehrt, dass dem Betroffenen die betreffenden Informationen mitgeteilt werden, der zuständigen nationalen Behörde die Möglichkeit einräumen, dem Betroffenen diese Informationen mitzuteilen. Wenn die Behörde eine solche Mitteilung nicht erlaubt, prüft das nationale Gericht die Rechtmäßigkeit der Aufenthaltsentscheidung allein anhand der mitgeteilten Gründe und Beweise(68).

130. Aus dem Vorstehenden folgt entsprechend, dass Art. 20 AEUV im Licht von Art. 47 der Charta nicht verlangt, dass das Gericht, das für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer auf als Verschlusssache eingestufte Informationen gestützten Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts zuständig ist, die Befugnis hat, die Geheimhaltung solcher Informationen aufzuheben und sie selbst der betroffenen Person zu mitzuteilen. Es obliegt der zuständigen nationalen Behörde, gegebenenfalls zu entscheiden, diese Informationen der Person zur Verfügung zu stellen, damit sie Gegenstand eines kontradiktorischen Verfahrens werden. Wenn die Behörde den vertraulichen Charakter der Informationen wahren möchte, indem sie sie nicht mitteilt, muss das Gericht im Rahmen der Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts die Konsequenzen daraus ziehen, indem es diese Kontrolle ausschließlich anhand der mitgeteilten Gründe und Beweise ausübt. Wie die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung zu Recht festgestellt hat, wird dann der Umfang der kontradiktorischen Debatte eingeschränkt und damit auch der Umfang der Argumente oder Beweisstücke, auf die das Gericht seine Entscheidung stützen kann. Dieser Standpunkt steht meines Erachtens im Einklang mit Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV, wonach „[ein] Mitgliedstaat … nicht verpflichtet [ist], Auskünfte zu erteilen, deren Preisgabe seines Erachtens seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen widerspricht“.

131. Wie bereits erwähnt, darf allerdings die Abwägung zwischen dem Recht der betroffenen Person auf eine gute Verwaltung und auf einen wirksamen Rechtsbehelf einerseits und der Nichtoffenlegung der der Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts zugrunde liegenden vertraulichen Informationen andererseits angesichts der gebotenen Beachtung von Art. 47 der Charta nicht dazu führen, dass dieser Person die Mindestgarantie genommen wird, die darin besteht, dass ihr oder ihrem Rechtsberater zumindest der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt wird, auf denen die ihr gegenüber ergangene Entscheidung beruht(69). Dies ist dann der Fall, wenn die Mitteilung der vertraulichen Informationen von der zuständigen nationalen Behörde aus Gründen der nationalen Sicherheit rechtswirksam verweigert werden kann(70). Die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidung über den Entzug oder die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts durch das zuständige Gericht muss dann ausschließlich auf der Grundlage des der betroffenen Person mitgeteilten wesentlichen Inhalts der Gründe erfolgen. Das Gericht muss gegebenenfalls nach nationalem Recht die Konsequenzen aus einer eventuellen Missachtung dieser Mitteilungspflicht ziehen(71), was dazu führen könnte, dass es eine solche Entscheidung aufhebt.

V.      Ergebnis

132. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged, Ungarn) in den Rechtssachen C‑420/22 und C‑528/22 wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 20 AEUV

ist dahin auszulegen, dass

–        er es einer Behörde eines Mitgliedstaats verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger von Unionsbürgern ist, die Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind und nie von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, aus Gründen der nationalen Sicherheit einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne zuvor auf der Grundlage der Informationen, die der betreffende Drittstaatsangehörige und der betreffende Unionsbürger nach freiem Ermessen beibringen können müssen, und nach Vornahme gegebenenfalls erforderlicher Ermittlungen zu prüfen, ob zwischen diesen Personen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger faktisch zwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten;

–        er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts auf der Grundlage einer nicht begründeten verbindlichen Stellungnahme einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde, wonach die betroffene Person eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt, ohne gründliche Prüfung aller individuellen Umstände und der Verhältnismäßigkeit dieser Entscheidung zu erlassen ist.

2.      Art. 20 AEUV im Licht der Art. 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der, wenn eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts auf Informationen beruht, deren Offenlegung die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats gefährden würde, die betroffene Person oder ihr Rechtsberater nur nach Einholung einer entsprechenden Genehmigung Zugang zu diesen Informationen erhalten, ihnen nicht einmal der wesentliche Inhalt der Gründe für eine solche Entscheidung mitgeteilt wird und sie diejenigen Informationen, zu denen sie Zugang gehabt haben könnten, im Rahmen des Verwaltungsverfahrens oder Gerichtsverfahrens in der Aufenthaltssache jedenfalls nicht verwenden dürfen.

3.      Der Begriff des „wesentlichen Inhalts“ der als vertraulich eingestuften Gründe, auf deren Grundlage eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltsrechts ergeht, umfasst die wesentlichen Aktenbestandteile, die geeignet sind, der betroffenen Person zu ermöglichen, Kenntnis von den ihr hauptsächlich vorgeworfenen Tatsachen und Verhaltensweisen zu erlangen, damit sie ihren Standpunkt im Rahmen des Verwaltungsverfahrens und später gegebenenfalls des Gerichtsverfahrens darlegen kann, wobei die erforderliche Geheimhaltung der Beweise zu berücksichtigen ist.

4.      Art. 20 AEUV im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte

ist dahin auszulegen, dass

er nicht verlangt, dass das Gericht, das für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer auf als Verschlusssache eingestufte Informationen gestützten Entscheidung über den Entzug oder die Versagung des Aufenthaltsrechts zuständig ist, die Befugnis hat, die Geheimhaltung solcher Informationen aufzuheben und sie ganz oder teilweise selbst dem betroffenen Drittstaatsangehörigen mitzuteilen.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2004, L 16, S. 44.


3      C‑159/21, im Folgenden: Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., EU:C:2022:708.


4      Im Folgenden: Charta.


5      Magyar Közlöny 2007. évi 1. száma.


6      Magyar Közlöny 2007. évi 1. száma.


7      Magyar Közlöny 2018. évi 208. száma.


8      Magyar Közlöny 2007. évi 65. száma.


9      Magyar Közlöny 2009. évi 194. száma.


10      In der mündlichen Verhandlung hat die Vertreterin von NW angegeben, dass NW am 22. Juni 2023 bei der für Aufenthaltsfragen zuständigen Behörde einen Aufenthaltstitel im Sinne der Richtlinie 2003/109 beantragt habe und dass das Verfahren noch laufe.


11      Das vorlegende Gericht führt aus, dass angesichts des angeführten Grundes des Schutzes der nationalen Sicherheit die Erteilung einer Genehmigung für die Einsichtnahme in die Verschlusssachen praktisch ausgeschlossen sei. In der mündlichen Verhandlung hat die Vertreterin von NW erklärt, dass NW ein gesondertes Verfahren angestrengt habe, um die ihn betreffenden Verschlusssachen zu erhalten und zu verwenden, und dass die ablehnende Entscheidung des Amtes für Verfassungsschutz Gegenstand eines Streitverfahrens sei.


12      Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, bezieht sich das vorlegende Gericht im ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchen zum einen auf die Definition des Begriffs „langfristig Aufenthaltsberechtigter“ in Art. 2 Buchst. b der Richtlinie und zum anderen auf die Feststellung, dass NW über eine Daueraufenthaltskarte verfüge, und zwar unabhängig davon, dass er nicht Inhaber einer vorläufigen Erlaubnis zum Daueraufenthalt oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt EG sei. Das Gericht stützt sich insoweit auf Rn. 24 des Urteils vom 20. Januar 2022, Landeshauptmann von Wien (Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten) (C‑432/20, EU:C:2022:39).


13      C‑300/11, im Folgenden: Urteil ZZ, EU:C:2013:363.


14      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77 sowie Berichtigungen ABl. 2004, L 229, S. 35 und ABl. 2007, L 204, S. 28).


15      Wie die ungarische Regierung in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, entschied sich der ungarische Gesetzgeber somit dafür, günstigere Bestimmungen auf das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen anzuwenden, die Familienangehörige ungarischer Staatsbürger sind.


16      Vgl. Art. 34 und 38 des Gesetzes Nr. II.


17      Vgl. Fn. 10 der vorliegenden Schlussanträge.


18      Vgl. insbesondere Urteil vom 17. Juli 2014, Tahir (C‑469/13, EU:C:2014:2094, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Vgl. insbesondere Urteil vom 20. Januar 2022, Landeshauptmann von Wien (Verlust des Status des langfristig Aufenthaltsberechtigten) (C‑432/20, EU:C:2022:39, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


20      C‑459/20, EU:C:2023:499.


21      Vgl. insbesondere Urteil vom 7. September 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Natur des Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV) (C‑624/20, EU:C:2022:639, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


22      Nach ständiger Rechtsprechung ist es, da das vorlegende Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen seiner Vorlagefragen festgelegt hat, nicht Sache des Gerichtshofs, dessen Richtigkeit zu überprüfen: vgl. u. a. Urteil vom 8. Juni 2023, Prestige and Limousine (C‑50/21, EU:C:2023:448, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


23      Vgl. u. a. Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 44), vom 13. September 2016, Rendón Marín (C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 78), und vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 65).


24      Vgl. insbesondere Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real (Ehegatte eines Unionsbürgers) (C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).


25      Vgl. insbesondere Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real (Ehegatte eines Unionsbürgers) (C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).


26      Vgl. insbesondere Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real (Ehegatte eines Unionsbürgers) (C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).


27      C‑528/21, EU:C:2023:341.


28      Rn. 65 des Urteils und die dort angeführte Rechtsprechung.


29      Vgl. insbesondere Urteil vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo (Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel) (C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 47 und 73).


30      Vgl. insbesondere Urteil vom 27. April 2023, M.D. (Verbot der Einreise nach Ungarn) (C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).


31      Vgl. insbesondere Urteil vom 27. April 2023, M.D. (Verbot der Einreise nach Ungarn) (C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).


32      Vgl. insbesondere Urteil vom 27. April 2023, M.D. (Verbot der Einreise nach Ungarn) (C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 69).


33      Vgl. entsprechend Urteil vom 27. April 2023, M.D. (Verbot der Einreise nach Ungarn) (C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 70).


34      Vgl. im Bereich des internationalen Schutzes das Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 75 bis 79).


35      Vgl. Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 79).


36      Vgl. Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 80).


37      Vgl. entsprechend Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 82).


38      Vgl. entsprechend Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 83).


39      Vgl. entsprechend Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 83).


40      ABl. 2008, L 348, S. 98.


41      Vgl. insbesondere Urteil vom 27. April 2023, M.D. (Verbot der Einreise nach Ungarn) (C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).


42      Vgl. entsprechend Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


43      Vgl. insbesondere Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


44      Vgl. insbesondere Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).


45      Vgl. insbesondere Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).


46      Vgl. entsprechend dazu Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).


47      Vgl. insbesondere Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).


48      Vgl. insbesondere Urteil vom 24. November 2020, Minister van Buitenlandse Zaken (C‑225/19 und C‑226/19, EU:C:2020:951, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


49      Vgl entsprechend Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).


50      Vgl. entsprechend Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


51      Vgl. insbesondere Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).


52      Vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil ZZ (Rn. 54).


53      Vgl. entsprechend Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).


54      Vgl. insbesondere Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u.a. (Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).


55      Vgl. entsprechend Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 53).


56      Vgl. Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 54).


57      Vgl. Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 55).


58      Vgl. entsprechend Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 56).


59      Vgl. Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 57).


60      Vgl. Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 58).


61      Vgl. Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 59).


62      Vgl. Urteil ZZ (Rn. 68).


63      Vgl. Urteil ZZ (Rn. 66).


64      Vgl. Urteil ZZ (Rn. 57).


65      Vgl. Urteil ZZ (Rn. 58).


66      Vgl. Urteil ZZ (Rn. 59).


67      Vgl. Urteil ZZ (Rn. 60 bis 62).


68      Vgl. Urteil ZZ (Rn. 63).


69      Vgl. insbesondere Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a. (Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).


70      Vgl. Urteil ZZ (Rn. 64 bis 67).


71      Vgl. Urteil ZZ (Rn. 68).