Language of document : ECLI:EU:C:2023:913

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 23. November 2023(1)

Rechtssache C634/22

OT,

PG,

CR,

VT,

MD,

Beteiligte:

Sofiyska gradska prokuratura

(Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski gradski sad [Stadtgericht Sofia, Bulgarien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Werte und Ziele der Union – Rechtsstaatlichkeit – Art. 19 EUV – Entscheidung 2006/929/EG – Unabhängiges und unparteiisches Gericht – Abschaffung eines spezialisierten Strafgerichts – Abschaffung in Verbindung mit vermeintlicher mangelnder Unabhängigkeit“






1.        Mit einem im Jahr 2022 verabschiedeten Gesetz(2) hat der bulgarische Gesetzgeber neben anderen Gerichten den Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, im Folgenden: SNS) abgeschafft und festgelegt, wie die Richter, die bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes an diesem Gericht tätig waren, an andere Gerichte versetzt werden.

2.        Das ZIDZZSV legte auch fest, dass für erstinstanzliche Strafverfahren, in denen wie im vorliegenden Fall eine Verhandlung vor dem SNS stattgefunden hat, der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien, im Folgenden: SGS)(3) zuständig ist, wobei jedoch der Spruchkörper, der die Verhandlung durchgeführt hat, die Sache weiterzubearbeiten hat.

3.        Das Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof haben die Mitglieder des Spruchkörpers des SNS (der jetzt zum SGS gehört) unterzeichnet, vor dem die Verhandlung einer bestimmten Strafsache stattgefunden hatte. Dieser Spruchkörper bringt seine Zweifel an der Vereinbarkeit der Gesetzesreform von 2022, und zwar konkret der Abschaffung des SNS, mit dem Unionsrecht zum Ausdruck.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht. Entscheidung 2006/929/EG(4)

4.        Art. 1 Abs. 1 sieht vor:

„Bis zum 31. März jedes Jahres und zum ersten Mal bis zum 31. März 2007 erstattet Bulgarien der Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben.“

5.        Im Anhang werden die von Bulgarien zu erfüllenden Vorgaben genannt:

„1.      Annahme von Verfassungsänderungen, um jegliche Zweifel an der Unabhängigkeit und Rechenschaftspflicht des Justizwesens auszuräumen,

2.      Gewährleistung von transparenten und leistungsfähigen Gerichtsverfahren durch Annahme und Umsetzung eines neuen Gerichtsverfassungsgesetzes und einer neuen Zivilprozessordnung, Bericht über die Auswirkungen dieser neuen Gesetze sowie der Strafprozess- und der Verwaltungsgerichtsordnung mit besonderer Beachtung der vorgerichtlichen Phase,

3.      Fortsetzung der Justizreform und Steigerung der Professionalität, der Rechenschaftspflicht und der Leistungsfähigkeit des Justizwesens, Bewertung der Folgen dieser Reform und jährliche Veröffentlichung der Ergebnisse,

4.      Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene sowie Berichterstattung darüber, Berichterstattung über interne Kontrollen öffentlicher Einrichtungen und über die Offenlegung der Vermögensverhältnisse hochrangiger Beamter,

5.      Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere an den Grenzen und in den Kommunalverwaltungen,

6.      Umsetzung einer Strategie zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens mit den Schwerpunkten Schwerverbrechen und Geldwäsche sowie zur systematischen Einziehung des Vermögens von Straftätern, Berichterstattung über neu eingeleitete und laufende Untersuchungen sowie Anklageerhebungen und Verurteilungen in diesen Bereichen.“

B.      Nationales Recht

1.      Zakon za sadebtana vlast (ZZSV)(5)

6.        Art. 194 Abs. 1 bestimmt:

„ … Im Fall der Abschaffung von Gerichten, Staatsanwaltschaften oder Ermittlungsbehörden oder im Fall der Verringerung der Anzahl der dort besetzten Stellen schafft das zuständige Kollegium des Obersten Justizrats die entsprechenden Stellen in einem anderen gleichrangigen Justizorgan, wenn möglich im selben Berufungsgerichtsbezirk, und versetzt die Richter, Staatsanwälte und Ermittlungsrichter ohne Bewerbungsverfahren an diese Stellen.“

2.      ZIDZZSV

7.        In § 43 der Übergangsbestimmungen des ZIDZZSV heißt es:

„Mit Inkrafttreten dieses Gesetzes werden der [SNS], der Apelativen spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafberufungsgericht)], die Spetsializirana prokuratura [(Spezialisierte Staatsanwaltschaft)] und die Apelativna spetsializirana prokuratura [(Staatsanwaltschaft beim Spezialisierten Strafberufungsgericht)] abgeschafft.“

8.        § 44 der Übergangsbestimmungen des ZIDZZSV legt fest:

„(1)      Die Richter des [SNS] … werden unter den Bedingungen und nach dem Verfahren des Art. 194 Abs. 1 versetzt.

(2)      Innerhalb von 14 Tagen nach Verkündung dieses Gesetzes können die in Abs. 1 genannten Personen gegenüber dem Richterkollegium des Obersten Justizrats schriftlich erklären, dass sie an die Richterstelle zurückkehren möchten, die sie vor ihrer Ernennung an den [SNS] innehatten …

(3)      Innerhalb von 30 Tagen nach Ablauf der in Abs. 2 genannten Frist entscheidet das Richterkollegium des Obersten Justizrats über die Schaffung der Richterstellen an den Gerichten, die den im [SNS] abgeschafften Stellen entsprechen …, wobei es die Arbeitsbelastung des jeweiligen Gerichts berücksichtigt(6).

(4)      Nach Ablauf der in Abs. 3 vorgesehenen Frist nimmt das Richterkollegium des Obersten Justizrats die Versetzung der Richter ab Inkrafttreten dieses Gesetzes vor.

(5)      Die in Abs. 4 genannten Entscheidungen des Richterkollegiums des Obersten Justizrats sind sofort vollstreckbar.“

9.        § 49 der Übergangsbestimmungen sieht vor:

„Erstinstanzliche Strafverfahren vor dem [SNS], in denen vor Inkrafttreten dieses Gesetzes keine Vorverhandlung stattgefunden hat, werden innerhalb von sieben Tagen nach Inkrafttreten dieses Gesetzes an die zuständigen Gerichte zugewiesen.“

10.      In § 50 der Übergangsbestimmungen wird festgeschrieben:

„(1)      Mit Inkrafttreten dieses Gesetzes ist für erstinstanzliche Strafverfahren vor dem [SNS], in denen eine Vorverhandlung stattgefunden hat, das [SGS] zuständig, und der Spruchkörper, der die Verhandlung durchgeführt hat, ist dafür zuständig, die Strafsache weiterzubearbeiten.

(2)      Die Richter der Spruchkörper, die nicht dem [SGS] zugewiesen wurden, werden abgeordnet, um bis zum Abschluss des Verfahrens an der Prüfung der Strafsachen mitzuwirken.

(3)      Die Richter des Spruchkörpers, die die erstinstanzlichen Strafverfahren, in denen ein Urteil ergangen ist, bearbeitet haben, werden mit der Urteilsbegründung beauftragt, sofern sie nicht dem [SGS] zugewiesen wurden.

…“

11.      § 59 Abs. 1 der Übergangsbestimmungen schreibt vor:

„Der [SGS] tritt für Aktiva, Passiva, Rechte und Pflichten die Rechtsnachfolge des [SNS] an.“

12.      § 67 der Übergangsbestimmungen bestimmt:

„Mit Ausnahme der Abs. 1, 2, 5, 6, 18, 28, 32, 34, 44, 45, 57 und 58, die am Tag der Verkündung in Kraft treten, tritt das Gesetz drei Monate nach seiner Verkündung im [Amtsblatt] in Kraft.“

3.      Nakazatelno protsesualen kodeks(7)

13.      Art. 30 Abs. 2 sieht vor:

„Ein Richter oder Laienrichter, der aufgrund sonstiger Umstände als befangen angesehen werden kann oder ein unmittelbares oder mittelbares Interesse an der Entscheidung über den Rechtsstreit hat, darf nicht an einem Spruchkörper teilnehmen.“

14.      In Art. 31 heißt es:

„(1)      In den in Art. 29 und Art. 30 vorgesehenen Fällen müssen sich die Richter, die Laienrichter und der Kanzler für befangen erklären.

(2)      Die Parteien können die Ablehnung nur bis zum Beginn des Verfahrens beantragen, es sei denn, die Gründe dafür sind erst später entstanden oder bekannt geworden.

(3)      Ein Antrag auf Ablehnung ist zu begründen.

(4)      Über die Begründetheit von Befangenheitserklärungen und Anträgen auf Ablehnung entscheidet das Gericht unverzüglich in geheimer Beratung unter Beteiligung aller Mitglieder des Spruchkörpers.“

II.    Sachverhalt, Rechtsstreit und Vorlagefragen

15.      Im Jahr 2018 wurde beim SNS ein Strafverfahren gegen verschiedene Personen eingeleitet, die beschuldigt werden, an einer kriminellen Vereinigung zur Begehung von Erpressungsstraftaten beteiligt zu sein.

16.      Nach Eröffnung der Hauptverhandlung gegen die Angeklagten fanden in den Jahren 2020, 2021 und 2022 zwölf öffentliche Gerichtsverhandlungen statt und weitere wurden aus verschiedenen verfahrensrechtlichen Gründen abgesagt(8).

17.      Zu keinem Zeitpunkt des Strafverfahrens beantragten die Parteien die Ablehnung des mit der Strafsache befassten Spruchkörpers (d. h. seines Vorsitzenden und der Laienrichter).

18.      Während der Rechtshängigkeit des Verfahrens begann die öffentliche Debatte zum Entwurf des ZIDZZSV, der die Abschaffung des SNS vorsieht.

19.      Im Rahmen dieser Debatte wurde am 25. Februar 2022 eine Sitzung des Grazhdanski savet kam Vissh ia sadeben savet (Bürgerrat beim Obersten Justizrat) einberufen, an der insbesondere der Vorsitzende des vorlegenden Spruchkörpers und ein Rechtsanwalt, der (als Vertreter einer Nichtregierungsorganisation) einen der Angeklagten vertrat, teilnahmen.

20.      In dieser Sitzung

–      unterstützte der Rechtsanwalt die Abschaffung des SNS und erklärte, dass er der Begründung für den Gesetzesentwurf zustimme;

–      sprach sich der Vorsitzende des Spruchkörpers des SNS gegen die Abschaffung des Gerichts aus. Wie er selbst in der Vorlageentscheidung feststellt, äußerte er wiederholt öffentlich seine Meinung, dass „die Abschaffung des SNS in der Art und Weise der Durchführung und mit der angeführten Begründung dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit [widerspricht], … gegen die Unabhängigkeit dieses Justizorgans und gegen die Gewaltenteilung [verstößt] und … eine Form von Druckausübung seitens der gesetzgeberischen und der vollziehenden Gewalten dar[stellt]“(9).

21.      Nach der Verabschiedung des ZIDZZSV hat der Spruchkörper, vor dem beim SNS eine Verhandlung stattgefunden hatte und der jetzt Teil des SGS ist, dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Sind Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) dahin auszulegen, dass die Unabhängigkeit eines Gerichts, das mit der verabschiedeten Änderung des ZZSV mit Wirkung zum 27. Juli 2022 abgeschafft wird, wobei die Richter aber die bei diesem Gericht anhängigen Sachen, in denen bereits Vorverhandlungen stattgefunden haben, bis zu diesem Zeitpunkt und auch danach weiterbearbeiten müssen, beeinträchtigt wird, wenn die Abschaffung des Gerichts damit begründet wird, dass so der verfassungsrechtliche Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz und der Schutz der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger gewahrt werden, aber nicht ordnungsgemäß dargelegt wird, welche Tatsachen zu dem Schluss führen, dass diese Grundsätze verletzt wurden?

2.      Sind die genannten unionsrechtlichen Bestimmungen dahin auszulegen, dass sie nationalen Vorschriften wie jenen des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des ZZSV entgegenstehen, die zur vollständigen Abschaffung eines eigenständigen Justizorgans in Bulgarien (des SNS) mit der angeführten Begründung und zur Versetzung der Richter (einschließlich des Richters des Spruchkörpers, der mit der konkreten Strafsache befasst ist) von diesem Gericht an verschiedene andere Gerichte führen, aber diese Richter verpflichten, die bereits an dem abgeschafften Gericht anhängigen und von ihnen begonnen Sachen weiterzubearbeiten?

3.      Wenn ja, welche Verfahrenshandlungen sollten – auch im Hinblick auf den Vorrang des Unionsrechts – von den Richtern der gerade abgeschafften Gerichte in den Sachen des abgeschafften Gerichts (die sie nach dem Gesetz zu Ende führen müssen) auch im Hinblick auf ihre Verpflichtung, genau zu prüfen, ob sie sich wegen Befangenheit in diesen Sachen selbst ablehnen, vorgenommen werden? Welche Folgen hätte dies für die prozessualen Entscheidungen des gerade abgeschafften Gerichts in den Sachen, die zu Ende geführt werden müssen, und für die abschließenden Rechtsakte in diesen Sachen?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

22.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 10. Oktober 2022 beim Gerichtshof eingegangen.

23.      Die polnische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

24.      Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde nicht für erforderlich erachtet.

IV.    Würdigung

A.      Vorbemerkungen

25.      Im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren liegen einige bemerkenswerte Umstände vor:

–      Die Vorlageentscheidung stammt von einem formell zum SGS gehörenden Spruchkörper, der über eine Strafsache zu entscheiden hat, die bisher von einem anderen Gericht (dem SNS) bearbeitet wurde. Wie bereits dargestellt, ist mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes vom 26. April 2022 der SGS an die Stelle des SNS getreten(10).

–      Die Vorlagefragen werden von dem jetzt zuständigen Spruchkörper (dem SGS) gestellt, dessen Mitglieder eine Verhandlung abhielten, als sie noch zum SNS gehörten. Die personelle Zusammensetzung des Spruchkörpers hat sich also, was speziell den vorliegenden Fall anbetrifft, nicht geändert(11).

–      Die Auslegung, um die der Gerichtshof ersucht wird, hat weder etwas mit dem strafbaren Verhalten zu tun, um das es in dem Strafverfahren geht, noch mit der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des konkreten Spruchkörpers, der über die Angeklagten zu urteilen hat, als solchen. Weder die Angeklagten noch die bulgarische Staatsanwaltschaft haben sich am Vorabentscheidungsverfahren beteiligt und nach den vorliegenden Informationen hat niemand konkret die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des Spruchkörpers in Frage gestellt.

–      Das Vorabentscheidungsersuchen beschränkt sich vielmehr auf die Frage, ob die Abschaffung des SNS die Unabhängigkeit des SNS beeinträchtigt und damit gegen das Unionsrecht verstößt.

26.      Tatsächlich konzentriert sich die Vorlageentscheidung auf die Kritik an der Reform des Justizsystems, die der bulgarische Gesetzgeber im Jahr 2022 mit Hilfe des ZIDZZSV durchgeführt hat. In der Vorlageentscheidung wird argumentiert, die für die Abschaffung des SNS angeführten Gründe seien nicht durch Tatsachen belegt, die die Notwendigkeit der Abschaffung rechtfertigten.

27.      Mit den ersten beiden Vorlagefragen wird direkt danach gefragt, ob die Abschaffung des SNS und die anschließende Versetzung seiner Richter an andere Gerichte mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Mit der dritten Frage wird der Gerichtshof um Klärung ersucht, welche Verfahrenshandlungen die Richter des abgeschafften Gerichts vornehmen müssen, falls die ersten beiden Fragen bejaht werden.

28.      Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass sowohl die Kommission als auch die polnische Regierung, die die einzigen Beteiligten des Verfahrens vor dem Gerichtshof sind, Einwände gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens erhoben haben. Auf diese Einwände werde ich im Folgenden eingehen.

B.      Zulässigkeit

1.      Einwände der polnischen Regierung und der Kommission (Zusammenfassung)

29.      Die polnische Regierung vertritt den Standpunkt:

–      Eine Beantwortung der Vorlagefragen sei für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht notwendig, da auf diesen kein Unionsrecht zur Anwendung komme. Der Rechtsstreit weise keinen Bezug zum Unionsrecht auf und daher sei die Charta nicht anwendbar.

–      Bei der Abschaffung nationaler Gerichte handele es sich um eine rein nationale Angelegenheit, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Union falle.

30.      Die Kommission ist der Ansicht:

–      Das vorlegende Gericht frage lediglich danach, ob es den Grundsatz der objektiven Unparteilichkeit erfülle. Da es jedoch keine subjektiven Gründe finde, um sich selbst für unzuständig zu erklären, und die Parteien des Ausgangsverfahrens auch nicht durch eine Ablehnung seiner Richter seine Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit in Frage gestellt hätten, seien die von ihm vorgebrachten Zweifel rein hypothetischer Art.

–      Die Gründe, die den bulgarischen Gesetzgeber zur Verabschiedung des ZIDZZSV veranlasst hätten, ständen in Zusammenhang mit der Notwendigkeit struktureller Änderungen bei den spezialisierten Strafgerichten, zu denen das vorlegende Gericht (der SGS) nicht gehöre. Die vorgelegten Fragen seien daher für die Entscheidung des Rechtsstreits unerheblich.

2.      Würdigung

31.      Der von der polnischen Regierung vorgebrachte Einwand, der Gerichtshof (bzw. die Europäische Union im Allgemeinen) sei nicht dafür zuständig, über die Struktur der Justizsysteme der Mitgliedstaaten zu entscheiden, kann von vornherein zurückgewiesen werden.

32.      Auf dieses Argument, das von der polnischen Regierung bereits in anderen, mehr oder weniger ähnlichen Rechtssachen vorgebracht wurde, hat der Gerichtshof mehrfach geantwortet. Nach ständiger Rechtsprechung fällt die Festlegung, wie die Justiz in den Mitgliedstaaten organisiert wird, zwar in deren Zuständigkeit, jedoch haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben(12). Wenn die Union von den Mitgliedstaaten verlangt, dass diese ihre Verpflichtungen einhalten (d. h. im vorliegenden Fall, dass sie die Unabhängigkeit ihrer Gerichte wahren), beabsichtigt sie nicht, in irgendeiner Weise selbst diese Zuständigkeit auszuüben(13).

33.      Es ist allgemein bekannt, dass es sich hierbei um ständige Rechtsprechung handelt. An dieser Stelle soll nur ein jüngstes Urteil des Gerichtshofs(14) genannt werden, in dem es heißt, dass die Verteilung oder Neuorganisation der gerichtlichen Zuständigkeiten in einem Mitgliedstaat zwar grundsätzlich unter die den Mitgliedstaaten durch Art. 4 Abs. 2 EUV garantierte Freiheit fällt, dies jedoch nur unter dem Vorbehalt gilt, dass die Verteilung oder Neuorganisation die Einhaltung des in Art. 2 EUV verankerten Wertes der Rechtsstaatlichkeit und die sich insoweit aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen nicht beeinträchtigt, darunter das Erfordernis, dass die Gerichte unabhängig und unparteiisch sind.

34.      Schwerwiegender ist die Einrede der Unzulässigkeit, der Ausgangsrechtsstreit weise keinen ausreichenden Bezug zu den Bestimmungen des Unionsrechts auf, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht. Bei diesen Bestimmungen handelt es sich um Art. 2 EUV, Art. 6 Abs. 1 und 3 EUV sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta.

35.      Von diesen Bestimmungen könnte jedoch meiner Auffassung nach für die Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen aus folgenden Gründen nur Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV von Bedeutung sein:

–      Wie die Kommission hervorhebt, ist die Anwendbarkeit von Art. 2 EUV indirekt gegeben, da der Wert der Rechtsstaatlichkeit, der in Art. 2 EUV proklamiert wird, durch Art. 19 EUV konkretisiert wird(15). Für den vorliegenden Fall maßgeblich ist also Art. 19 und nicht Art. 2 EUV.

–      Art. 6 EUV und Art. 47 der Charta sind grundsätzlich nicht einschlägig, da in der Strafsache, über die das vorlegende Gericht zu entscheiden hat, das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta nicht zur Anwendung kommt(16).

36.      Da sich die Debatte also auf die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV beschränkt, kann die Entscheidung in einer Strafsache mit den Merkmalen des vorliegenden Falles mit einer engeren oder einer weiteren Auslegung dieser Bestimmung angegangen werden.

37.      Der Gerichtshof hat eine engere Sichtweise eingenommen, als er zwei Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig erklärt hat, die bestimmte Merkmale mit dem vorliegenden Verfahren aufweisen(17). Im Rahmen der Begründung der Unzulässigkeitserklärung wird in dem entsprechenden Urteil festgestellt, dass für die Berufung auf die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens ein Bezug zum Unionsrecht unerlässlich ist(18).

38.      Diese Rechtsprechung lässt sich mit der Feststellung zusammenfassen, dass es dem Gerichtshof nicht gestattet ist, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV (insoweit er die Unabhängigkeit als Voraussetzung für die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen festschreibt) dahin auszulegen, dass der Mechanismus von Art. 267 AEUV zu einer Art Vertragsverletzungsklage umgewandelt wird(19).

39.      Wenn ein nationales Gericht den Gerichtshof um die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ersucht, muss folglich aus der Vorlageentscheidung hervorgehen, dass ein Bezug zwischen diesem Artikel und dem Ausgangsrechtsstreit besteht. Für eine Anwendung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist ein solcher Bezug erforderlich, damit der Sachverhalt, über den das nationale Gericht zu entscheiden hat, in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt(20).

40.      Ich erinnere jedoch daran, dass auch bei einer engeren Sichtweise ein Bezug vorliegen kann, wenn zwar keine materiell-rechtlichen Bestimmungen des Unionsrechts auf den vor dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit anwendbar sind, das Gericht jedoch um die Auslegung sonstiger Bestimmungen des Unionsrechts ersucht, die es ihm „ermöglich[t], über Verfahrensfragen des nationalen Rechts zu entscheiden, bevor [es] in den bei [ihm] anhängigen Verfahren in der Sache entscheid[et]“(21).

41.      In der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist allerdings eine gewisse Entwicklung erkennbar und er hat sogar Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zugelassen, obwohl im Ausgangsrechtsstreit (dem Rechtsstreit vor dem vorlegenden Gericht) keine andere spezifische Bestimmung des Unionsrechts zur Anwendung kommt und die Rechtslage, über die das nationale Gericht zu entscheiden hat, streng genommen keine materiellen oder verfahrensrechtlichen Elemente aufweist, die im Bezug zum Unionsrecht stehen.

42.      Diese Entwicklung hat dem Gerichtshof die Beantwortung von Vorlageentscheidungsersuchen ermöglicht, in denen die vorlegenden Gerichte unter Berufung auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV von dem konkreten Rechtsstreit, über den sie zu entscheiden hatten, abgewichen sind und Fragen zu allgemeinen Bestimmungen über die Organisation ihrer nationalen Justizsysteme gestellt haben, die ihrer Meinung nach die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigen(22).

43.      Von dieser Rechtsprechung ist das Urteil hervorzuheben, mit dem der Gerichtshof die Vorabentscheidungsersuchen für zulässig erklärt hat, mit denen ein polnisches Gericht (im Rahmen verschiedener Strafverfahren) um die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Zusammenhang mit der Besetzung der an diesen Verfahren beteiligten Spruchkörper ersucht hat(23).

44.      Ich halte es nicht für notwendig, hier auf die durch diese Rechtsprechung aufgeworfenen heiklen Fragen einzugehen, da der vorliegende Rechtsstreit ein einzigartiges Element aufweist, nämlich den Umstand, dass die Reform des bulgarischen Justizsystems bestimmte Vorgaben zu erfüllen hat, die in einer zum Unionsrecht gehörenden Entscheidung ausdrücklich genannt werden.

45.      Die Reform (von der das im Vorabentscheidungsersuchen in Rede stehende ZIDZZSV ein Bestandteil ist) kann und muss nämlich daran gemessen werden, ob sie dem Standard der richterlichen Unabhängigkeit entspricht, der in den „Vorgaben“ im Anhang der Entscheidung 2006/929 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Bulgariens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Bekämpfung der Korruption und des organisierten Verbrechens genannt wird(24).

46.      Insoweit ist ein bulgarisches Gericht befugt, dem Gerichtshof seine Fragen zur Vereinbarkeit eines nationalen Gesetzes (das seine Situation innerhalb der Gerichtsstruktur dieses Mitgliedstaats regelt) mit den Verpflichtungen aus dem Unionsrecht vorzulegen, einschließlich der Verpflichtungen zur Unabhängigkeit des Strafgerichts, das über den Ausgangsrechtsstreit zu entscheiden hat.

47.      Folglich kann festgestellt werden, dass es in dem Vorabentscheidungsersuchen, über das der Gerichtshof nun zu entscheiden hat, nicht an einem ausreichenden Bezug zum Unionsrecht mangelt(25).

48.      Es sei jedoch daran erinnert, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens unmittelbar selbst die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht zu erklären, sondern dem vorlegenden Gericht die Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die der Gerichtshof für erforderlich erachtet(26).

49.      Die restlichen Einwände gegen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens können mit dem Hinweis darauf ausgeräumt werden, dass sie eher die materielle Prüfung der Fragen betreffen:

–      Der Umstand, dass sich die Richter des vorlegenden Gerichts im Ausgangsverfahren nicht für befangen erklärt und die Parteien sie auch nicht abgelehnt haben, kann für die Beurteilung ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Verfahren, soweit dies die materielle Prüfung des Vorabentscheidungsersuchens betrifft, entscheidend sein.

–      Die Analyse der Gründe, die den bulgarischen Gesetzgeber zur Reform der spezialisierten Strafgerichte veranlasst haben, sowie der Folgen der Abschaffung des SNS für die Eignung seiner Mitglieder, das Strafverfahren beim SGS weiterzubearbeiten, betrifft ebenfalls die materielle Prüfung und nicht die Frage der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens.

50.      Zusammenfassend bin ich der Ansicht, dass das Vorabentscheidungsersuchen zulässig ist.

C.      Erste Vorlagefrage

51.      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die durch das ZIDZZSV eingeführte Änderung insofern, als sie ein bestimmtes Rechtsprechungsorgan (den SNS) abschafft, „die Unabhängigkeit [dieses] Gerichts … beeinträchtigt“. Zur Klärung seiner Zweifel ersucht es den Gerichtshof um Feststellung, ob die Reform mit Art. 2 EUV, Art. 6 Abs. 1 und 3 EUV sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta vereinbar ist.

52.      Wie ich bereits dargestellt habe, ist von diesen Bestimmungen des EU‑Vertrags und der Charta für den vorliegenden Fall nur Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV von Bedeutung, da sich aus ihm das Erfordernis der Unabhängigkeit der nationalen Gerichte ableitet.

53.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs umfasst dieses Erfordernis zwei Aspekte.

–      „Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt verlangt, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten“(27).

–      „Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Der letztgenannte Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht“(28).

54.      Allerdings haben weder das vorlegende Gericht (der SGS) noch die Parteien des Strafverfahrens bestritten, dass das Gericht „[seine] Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten“.

55.      Auch die subjektive Unparteilichkeit der Richter, die jetzt dem SGS und früher dem SNS angehörten, wurde im Ausgangsverfahren nicht in Frage gestellt. Weder haben die Richter des vorlegenden Gerichts einen Anlass gesehen, sich für befangen zu erklären, noch gibt es Anzeichen, dass die Angeklagten oder die Staatsanwaltschaft eine Ablehnung der Richter des SNS, die nach der Reform beim SGS als Richter tätig sind, beantragen bzw. beantragt haben.

56.      Daraus lässt sich ableiten, dass keine Gründe vorliegen, um die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter des vorlegenden Gerichts anzuzweifeln.

57.      Die Mitglieder des Spruchkörpers mögen sich zwar (subjektiv) nicht in ihrer Unabhängigkeit beeinträchtigt fühlen und sie wurden im konkreten Verfahren auch nicht abgelehnt bzw. sie selbst haben sich nicht für befangen erklärt, es stellt sich jedoch die Frage, ob der rechtliche Rahmen, in dem sie zu entscheiden haben, Elemente aufweist, die (objektiv) auf das Vorliegen einer solchen Beeinträchtigung schließen lassen(29).

58.      Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Umstrukturierung der Gerichtsstruktur eines Mitgliedstaats folgerichtig dazu führen kann, dass zuvor bestehende Gerichte abgeschafft oder ihre Zuständigkeiten neu verteilt werden, ohne dass diese Maßnahmen von sich aus einen Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit darstellen.

59.      Auch der Grundsatz der Gewaltenteilung (auf den die Vorlageentscheidung verweist) hindert den Gesetzgeber nicht daran, innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen die Gesetze zu erlassen, die er zu einem bestimmten Zeitpunkt für die Gerichtsstruktur für geeignet erachtet. Gerichte, deren Existenz zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt war, können zu einem anderen Zeitpunkt abgeschafft werden, ohne dass dies, wie ich wiederholen möchte, eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit darstellt(30).

60.      An dieser Stelle ist bereits zu erkennen, dass es bei der ersten Vorlagefrage nicht wirklich um die Unabhängigkeit der konkreten Richter (und Laienrichter) geht, die über das Strafverfahren zu entscheiden haben, und auch nicht um den Grad der Unabhängigkeit des SGS als solchen, sondern ausschließlich um die eventuelle Bedrohung, die die Abschaffung des SNS für „die Unabhängigkeit eines Gerichts [des SNS](31)“ in Anbetracht der für die Gesetzesreform entscheidenden Gründe darstellen könnte.

61.      Das vorlegende Gericht legt im Vorlagebeschluss die Argumente dar, die der bulgarische Gesetzgeber zur Rechtfertigung dieser Abschaffung angeführt hat, wie u. a. die Unabhängigkeit der Gerichte(32). Diese Argumente entbehren nach Auffassung des vorlegenden Gerichts jedoch jeglicher Grundlage, da die umstrittene Reform keineswegs die richterliche Unabhängigkeit wahre, sondern selbst einen Angriff auf diesen Grundsatz darstelle(33).

62.      Dieses Vorbringen kann nicht gewürdigt werden, ohne zunächst die Funktion des Gerichtshofs im Rahmen von Art. 267 AEUV zu klären:

–      Zum einen ist es bei dieser Art von Verfahren nicht Sache des Gerichtshofs, unmittelbar selbst die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht zu erklären, sondern dem vorlegenden Gericht die Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die der Gerichtshof für erforderlich erachtet.

–      Dies hat zum anderen wiederum zur Folge, dass der Gerichtshof nicht um eine Entscheidung zu der streitigen Gesetzesreform in ihrer Gesamtheit ersucht werden kann, da sich seine Funktion darauf beschränkt, dem vorlegenden Gericht Hinweise auf den Einfluss des Unionsrechts im Hinblick auf die Folgen zu geben, die diese Reform konkret für die Stellung des mit dem Strafverfahren befassten Gerichts haben kann.

63.      Auf dieser Grundlage stimme ich mit der Kommission darin überein, dass eine Umstrukturierung eines Justizsystems zwecks Stärkung der Unabhängigkeit der Gerichte nicht zu beanstanden ist und auch nicht per se zu einer Beeinträchtigung der Unabhängigkeit der nationalen Gerichte führt.

64.      Insoweit kann der nationale Gesetzgeber frei entscheiden zwischen einem Strafrechtssystem mit ordentlichen Gerichten, die für die Verfolgung aller Arten von Straftaten zuständig sind, und einem System, das die Zuständigkeit für bestimmte besonders schwere Straftaten bei einem spezialisierten Gericht konzentriert. Beide Modelle sind in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu finden, und es steht den Staaten, wie ich wiederholen möchte, frei, zwischen ihnen zu wählen und auch zu wechseln.

65.      Der bulgarische Gesetzgeber hat die Reform von 2022 als Ausdruck seines Willens gerechtfertigt, das nationale Justizsystem mit dem Ziel einer höheren Effizienz der Gerichte(34) und der Gewährleistung ihrer Unabhängigkeit neu zu organisieren. Wenn dies der Fall ist, kann angenommen werden, dass sie „aus berechtigten Gründen beschlossen [wurde], die insbesondere in der Verteilung der verfügbaren Ressourcen, um eine ordnungsgemäße Rechtspflege gewährleisten zu können, liegen(35)“.

66.      Die Kommission verweist in ihrem Bericht über die Rechtsstaatlichkeit in Bulgarien für 2022(36) genau auf diese Gründe, ohne sie in Frage zu stellen.

67.      Das vorlegende Gericht bestreitet zwar vehement, dass die Begründung des ZIDZZSV durch konkrete Tatsachen belegt sei. In der Vorlageentscheidung wird zum größten Teil die Kritik wiederholt, die von verschiedenen Richtern, darunter auch der die Vorlageentscheidung unterzeichnende Richter, im Rahmen der Verabschiedung des Gesetzentwurfs zur Justizreform gegen die neuen Maßnahmen geltend gemacht wurden.

68.      Meiner Ansicht nach sollte sich der Gerichtshof nicht in den Streit einmischen, der insoweit während des Gesetzgebungsverfahrens entbrannt ist. Erst recht nicht sollte er auf eine Behauptung eingehen, die auf die vermeintlich wahren Absichten des Gesetzgebers anspielt, und nicht auf die, die der Gesetzgeber in der Begründung des verabschiedeten Gesetzes darstellt.

69.      Es reicht der Hinweis aus, dass sich aus dem ZIDZZSV, unabhängig von der ihm zugrunde liegenden Absicht(37), nicht ableiten lässt, dass die einzelnen Richter des abgeschafften Gerichts keine Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit genießen. Andernfalls ließe sich nicht erklären, dass die im SNS tätigen Richter nach dessen Auflösung an andere Gerichte versetzt wurden(38), und vor allem, dass sie die Strafverfahren, über die sie im SNS zu entscheiden hatten, bis zum Abschluss weiterbearbeiten dürfen.

70.      Wenn dies für die Unabhängigkeit der beim SNS tätigen Richter gilt, so gilt dies erst recht für das ordentliche Gericht (den SGS), das an die Stelle des SNS getreten ist. Ich möchte wiederholen, dass die Vorlageentscheidung nicht den geringsten Hinweis auf Mängel dieses Gerichts (d. h. des SGS) hinsichtlich der Gewähr der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit seiner Mitglieder enthält.

71.      Angesichts dieser Erwägungen schlage ich vor, die erste Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einer Reform des Justizsystems eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, bei der ein spezialisiertes Strafgericht abgeschafft und seine Zuständigkeit auf ein ordentliches Gericht übertragen und festgelegt wird, dass die bei dem abgeschafften Gericht anhängigen Sachen, in denen bereits eine Verhandlung stattgefunden hat, in der Zuständigkeit des bisher zuständigen Gerichts verbleiben.

D.      Zweite Vorlagefrage

72.      Insoweit die zweite Vorlagefrage keine Wiederholung der ersten Vorlagefrage enthält, bringt das vorlegende Gericht mit ihr seine Zweifel an der Vereinbarkeit einer der unmittelbaren Folgen der bulgarischen Justizreform mit dem Unionsrecht(39) zum Ausdruck: der „Versetzung der Richter (einschließlich des Richters des Spruchkörpers, der mit der konkreten Strafsache befasst ist) von diesem Gericht [dem SNS] an verschiedene andere Gerichte [, wobei] diese Richter verpflichte[t] [werden], die bereits an dem abgeschafften Gericht anhängigen und von ihnen begonnenen Sachen weiterzubearbeiten“.

73.      Nach Auffassung des Gerichtshofs können nicht einvernehmliche Versetzungen eines Richters an ein anderes Gericht „ein Mittel zur Kontrolle des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen sein, da sie nicht nur den Umfang der Befugnisse der betreffenden Richter und die Bearbeitung der ihnen zugewiesenen Fälle beeinflussen können, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Laufbahn und damit entsprechende Wirkungen wie eine Disziplinarstrafe haben können“(40).

74.      Der Grundsatz der Unversetzbarkeit und der Unabsetzbarkeit beansprucht zwar nicht völlig absolute Geltung, und es „dürfen Ausnahmen von ihm … unter der Voraussetzung gemacht werden, dass dies durch legitime und zwingende Gründe gerechtfertigt ist und dabei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet wird(41)“.

75.      Im vorliegenden Fall ist hervorzuheben, dass die Versetzung der Richter des Spruchkörpers, die im SNS bereits eine Verhandlung durchgeführt haben, an den SGS keine Auswirkungen auf den Verlauf der noch anhängigen konkreten Strafverfahren hat: Die Strafsachen, in denen (wie im vorliegenden Fall) die Richter des SNS eine Verhandlung abgehalten haben, werden von ihnen am SGS weiterbearbeitet und entschieden.

76.      Die Garantie der Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit der Richter für die Entscheidung über eine Rechtssache bzw. Strafsache zeigt sich also dadurch gewahrt, dass das ZIDZZSV den Grundsatz der perpetuatio jurisdictionis(42) zugunsten derjenigen vorsieht, die für die Entscheidung in dem Strafverfahren zuständig waren. Es gab also keine Absetzung der Richter, die sie daran gehindert hätte, ein Strafverfahren weiterzubearbeiten, das sie bereits bearbeitet und in dessen Rahmen sie eine oder mehrere Verhandlungen abgehalten haben.

77.      Aufgrund dieses Umstands erübrigen sich abstrakte Überlegungen darüber, ob die Versetzung der bulgarischen Richter, die im SNS tätig waren und nun im SGS oder an anderen Gerichten tätig sind, im Allgemeinen einvernehmlich oder zwangsweise erfolgt ist.

78.      Dies ist zwar nicht ausdrücklich Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens, jedoch zeigt sich, dass das Verfahren der Versetzung der Richter an ihre neuen Ämtern nach dem Inkrafttreten des ZIDZZSV die Objektivitätsgarantien erfüllt(43). Die Kriterien für diese Versetzung orientieren sich an den Kriterien, die allgemein in den zuvor auf die Gerichtsbarkeit anwendbaren Rechtsvorschriften(44) festgelegt waren, und es besteht insoweit kein Verdacht auf Willkür. Insbesondere deutet nichts darauf hin, dass die Versetzung von Richtern des abgeschafften Gerichts an gleichrangige Justizorgane einer Disziplinarstrafe gleichkommt.

79.      Es handelt sich folglich um einen Spruchkörper, der ursprünglich zu einem Gericht (dem SNS) gehört hat und nun Teil eines anderen Gerichts (des SGS) geworden ist, dessen Unabhängigkeit nicht angezweifelt wird. Dieser Spruchkörper hat außerdem das Verfahren, in dem vor dem ersten Gericht verhandelt wurde und welches das Ausgangsverfahren des Vorabentscheidungsersuchens ist, an das zweite Gericht mitgenommen.

80.      Auch in diesem Zusammenhang ist es schwierig, in der Umstrukturierung des bulgarischen Strafgerichtssystems und der Versetzung der Mitglieder des Spruchkörpers an den SGS eine Beeinträchtigung der Unabhängigkeit des vorlegenden Gerichts zu erkennen.

E.      Dritte Vorlagefrage

81.      Mit der dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht klären, welche Verfahrenshandlungen die Richter des abgeschafften Gerichts (des SNS) in den Strafsachen, für die sie vor der Abschaffung zuständig waren, vorzunehmen haben, falls die streitige Reform mit dem Unionsrecht für unvereinbar erklärt wird.

82.      Eine Beantwortung dieser Frage wäre somit nicht erforderlich, wenn der Gerichtshof bei der Beantwortung der ersten beiden Vorlagefragen zu dem Ergebnis gelangt, dass das Vorabentscheidungsersuchen keine Gründe für die Feststellung enthält, dass eine nationale Regelung wie das ZIDZZSV mit dem Unionsrecht unvereinbar ist.

83.      Auf jeden Fall ist die dritte Vorlagefrage meines Erachtens unzulässig. Bei dem Ausgangsverfahren handelt es sich, wie ich wiederholt dargestellt habe, um eine Strafsache, die beim SNS eingeleitet und an den SGS – das Gericht, das das Vorabentscheidungsersuchen vorlegt – verwiesen wurde und über die dieselben Richter entscheiden werden, die vor seiner Abschaffung am SNS eine Verhandlung durchgeführt hatten.

84.      Folglich können die Richter des SNS keine Verfahrenshandlung als Richter des SNS durchführen. Sie können nur als Richter des SGS handeln, so dass die dritte Vorlagefrage so zu verstehen ist, dass mit ihr nach den Verfahrenshandlungen gefragt wird, die der SGS vorzunehmen hat, falls die ersten beiden Vorlagefragen bejaht werden, was meines Erachtens nicht der Fall sein dürfte.

V.      Ergebnis

85.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem SGS (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) wie folgt zu antworten:

Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV

ist dahin auszulegen, dass

er einer Reform des Justizsystems eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, bei der ein spezialisiertes Strafgericht abgeschafft und seine Zuständigkeit auf ein ordentliches Gericht übertragen wird, wobei jedoch vorgesehen ist, dass die bei dem abgeschafften Gericht anhängigen Strafsachen, in denen bereits Verhandlungen stattgefunden haben, in der Zuständigkeit des bisher zuständigen Spruchkörpers verbleiben.

Er steht dem nicht entgegen, dass die Richter des abgeschafften Gerichts im Rahmen dieser Reform des Justizsystems auf der Grundlage von nicht dem Verdacht der Willkür unterliegenden objektiven Kriterien an andere gleichrangige Gerichten versetzt werden.


1      Originalsprache: Spanisch.


2      Zakon za izmenenie i dopalnanie na Zakona za sadebnata vlast (Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gerichtsverfassungsgesetzes, im Folgenden: ZIDZZSV), Darzhaven vestnik Nr. 32 vom 26. April 2022.


3      Gemäß dem ZIDZZSV tritt der SGS für die Aktiva, Passiva, Rechte und Pflichten des SNS die Rechtsnachfolge an.


4      Entscheidung der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Bulgariens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Bekämpfung der Korruption und des organisierten Verbrechens (ABl. 2006, L 354, S. 58), aufgehoben durch Beschluss (EU) 2023/1785 der Kommission vom 15. September 2023 (ABl. 2023, L 229, S. 91).


5      Gerichtsverfassungsgesetz, Darzhaven vestnik Nr. 64 vom 7. August 2007 (im Folgenden: ZZSV).


6      Wie in der Vorlageentscheidung ausgeführt, folgte in diesem Absatz ein Satz, der durch das Urteil Nr. 7 des Konstitutsionen Sad (Verfassungsgericht) vom 14. Juli 2022 für verfassungswidrig erklärt wurde. Dieser Satz lautete wie folgt: „Höchstens ein Viertel der Richter des abgeschafften [SNS] … wird ein und demselben Gericht zugewiesen.“


7      Strafprozessordnung.


8      In der Vorlageentscheidung werden die öffentlichen Gerichtsverhandlungen, die im Lauf des Verfahrens stattfanden und in denen eine eventuelle Befangenheit der Richter beanstandet werden konnte, im Einzelnen aufgeführt. Hervorzuheben sind die Vorverhandlung vom 28. Januar 2020 und die Verhandlung vom 2. Juni 2020, in der die Hauptverhandlung eröffnet wurde. Von diesem Zeitpunkt an bis zum 27. Mai 2022 fanden zwölf öffentliche Gerichtsverhandlungen statt; in sechs davon erfolgten Zeugenvernehmungen, bei den übrigen sechs schritt das Verfahren wegen verschiedener Abwesenheiten nicht voran.


9      Abs. 3 a. E. der Vorlageentscheidung.


10      Bei mehreren ursprünglich vom SNS vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen, wie z. B. in dem mit Urteil vom 30. März 2023, IP u. a. (Feststellung des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens II) (C‑269/22, EU:C:2023:275) abgeschlossenen Verfahren, hat „[m]it Schreiben vom 5. August 2022 … der [SGS] (Stadtgericht Sofia …) dem Gerichtshof mitgeteilt, dass infolge einer am 27. Juli 2022 in Kraft getretenen Gesetzesänderung der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) aufgelöst worden sei und dass bestimmte bei diesem Gericht anhängige Strafsachen, einschließlich der des Ausgangsverfahrens, ab diesem Zeitpunkt an ihn verwiesen worden seien“ (Rn. 13).


11      Dies ergibt sich aus der zweiten Vorlagefrage: Die Richter des abgeschafften Gerichts (des SNS) sind verpflichtet, die bereits an dem abgeschafften Gericht anhängigen und von ihnen begonnen Strafsachen an dem nachfolgenden Gericht (dem SGS) weiterzubearbeiten.


12      Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99), im Folgenden: Urteil RS, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung.


13      Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531), im Folgenden: Urteil Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts), Rn. 52.


14      Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 263).


15      Urteil RS, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung.


16      Urteil RS, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung: „[D]ie Anerkennung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf in einem bestimmten Einzelfall … setzt [voraus], dass sich die Person, die es geltend macht, auf durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten beruft … oder dass diese Person Gegenstand von Verfolgungsmaßnahmen ist, die eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellen …“


17      In den Rechtssachen C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (EU:C:2020:234, im Folgenden: Urteil Miasto Łowicz und Prokurator Generalny), hatte der Gerichtshof über die Frage zu entscheiden, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV „Bestimmungen entgegensteht, die die Garantie eines unparteiischen Disziplinarverfahrens gegen Richter in Polen verletzen, indem sie politische Einflussnahme auf die Disziplinarverfahren ermöglichen und die Gefahr heraufbeschwören, dass das System der Disziplinarmaßnahmen dazu genutzt wird, die Entscheidungen der Gerichte einer politischen Kontrolle zu unterwerfen“.


18      Urteil Miasto Łowicz und Prokurator Generalny. In Rn. 49 stellt der Gerichtshof fest, „… dass in der Sache die Ausgangsverfahren keinen Bezug zum Unionsrecht, insbesondere nicht zu dem in den Vorlagefragen herangezogenen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, aufweisen und dass die vorlegenden Gerichte daher das Unionsrecht oder diese Vorschrift nicht anwenden müssen, um daraus die in diesen Verfahren zu treffende Entscheidung in der Sache herzuleiten“.


19      Ebd., Rn. 47.


20      Dies bedeutet jedoch nicht, dass genau der gleiche Bezug wie bei Art. 51 Abs. 1 der Charta erforderlich ist. Vgl. in diesem Sinne das Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 29).


21      Urteil Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, Rn. 51. Hervorhebung nur hier.


22      Die Ausweitung der Zulässigkeit bei dieser Art von Vorabentscheidungsersuchen zeigt sich beispielsweise im Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. (Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters) (C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562).


23      Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931).


24      In vergleichbaren Fällen, die Rumänien betrafen, hat der Gerichtshof entschieden, dass „eine nationale Regelung, die in den Anwendungsbereich der [im Wesentlichen mit der Entscheidung 2006/929 identischen] Entscheidung 2006/928 fällt, den Anforderungen genügen muss, die sich aus dem Unionsrecht und insbesondere aus Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergeben“ (Urteil vom 11. Mai 2023, Inspecţia Judiciară [C‑817/21, EU:C:2023:391, Rn. 43], mit Verweis auf das Urteil RS, Rn. 57). In jüngerer Zeit hat sich der Gerichtshof in seinem Urteil vom 7. September 2023, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România (C‑216/21, EU:C:2023:628), im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens zur Regelung der Beförderung von rumänischen Richtern mit der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Entscheidung 2006/928 befasst.


25      Im Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. (Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters) (C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 41), wird mit Verweis auf das Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 54), bestätigt, dass das Vorbringen, wie es im vorliegenden Fall die polnische Regierung geltend macht, „im Wesentlichen die Tragweite und damit die Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts, auf die sich die Vorlagefrage… [bezieht], sowie die Wirkungen betrifft, die diese Bestimmungen insbesondere im Hinblick auf den Vorrang des Unionsrechts haben können. Das Vorbringen betrifft mithin den Inhalt der vorgelegten Frage…, so dass es ihrer Zulässigkeit von vornherein nicht entgegenstehen kann.“


26      Urteil vom 21. September 2023, Romaqua Group (C‑510/22, EU:C:2023:694, Rn. 22): „Zwar ist es auch nicht Sache des Gerichtshofs, im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens selbst über die mögliche Unvereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit den genannten Bestimmungen des AEU‑Vertrags zu entscheiden, jedoch obliegt ihm die Auslegung dieser Bestimmungen.“


27      Urteil RS, Rn. 41.


28      Ebd. mit Verweis auf das Urteil Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts), Rn. 72 und 73, und das Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 224).


29      Auf die objektive Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bezieht sich der Gerichtshof u. a. im Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 129), mit Verweis auf die Urteile des EGMR vom 6. Mai 2003, Kleyn u. a./Niederlande (CE:ECHR:2003:0506JUD003934398, § 192 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 6. November 2018, Ramos Nunes de Carvalho e Sá/Portugal (CE:ECHR:2018:1106JUD005539113, § 150 und die dort angeführte Rechtsprechung).


30      Für die Gerichtsstruktur der Union beschloss der Rat der Europäischen Union, nachdem der Vertrag von Nizza im Jahr 2003 die Möglichkeit der Schaffung von Fachgerichten festgelegt hatte, am 2. November 2004 die Schaffung des Gerichts für den öffentlichen Dienst, dessen Aufgabe, d. h. die Entscheidung über Streitigkeiten zwischen der Europäischen Union und ihren Bediensteten, bis dahin vom Gericht der Europäischen Union ausgeübt wurde. Im Jahr 2015 beschloss der Unionsgesetzgeber, die Anzahl der Richter des Gerichts schrittweise auf 56 zu erhöhen und die Zuständigkeiten des Gerichts für den öffentlichen Dienst auf das Gericht zu übertragen. Das Gericht für den öffentlichen Dienst wurde am 1. September 2016 aufgelöst.


31      Es erscheint paradox, dass die Frage von einem Spruchkörper gestellt wird, der einem anderen Gericht (dem SGS) angehört. Aufgrund der personellen Identität zwischen den beiden Gerichten wäre jedoch die Frage nach der Wahrung des Grundsatzes der Unabhängigkeit bei der Abschaffung des SNS in Bezug auf die wesentliche Folge dieser Abschaffung zulässig, d. h. in Bezug auf die Zuweisung neuer Zuständigkeiten an den SGS, der die Vorlagefragen gestellt hat.


32      Rn. 42 der Vorlageentscheidung.


33      Rn. 43 der Vorlageentscheidung.


34      Rn. 15 der Vorlageentscheidung.


35      Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798), im Folgenden: Urteil W. Ż., Rn. 118.


36      SWD(2022) 502 final, S. 10, 15 und 16.


37      In Rn. 19 der Vorlageentscheidung stellt das vorlegende Gericht fest, dass es über die Interessen, die der Abschaffung der spezialisierten Gerichte zugrunde lägen, nur Vermutungen anstellen könne, da im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens keine sachliche Begründung und keine objektiven Nachweise für die Funktionsweise dieser Gerichte vorgelegen hätten.


38      Ich schließe mich diesbezüglich der Kommission an, die den Standpunkt vertritt, „hätte der Gesetzgeber Zweifel an der Unabhängigkeit dieser Richter aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum abgeschafften Gericht gehabt, so hätte er nicht ihre bedingungslose Versetzung und die Fortführung ihrer richterlichen Tätigkeit vorgesehen. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber die Richter beauftragt, die Strafsachen weiterzubearbeiten, mit denen sie als Richter des [SNS] begonnen hatten, und räumt in der Tat jeden Zweifel aus, dass ihre Zugehörigkeit zu diesem Gericht ihre Unparteilichkeit bei der Bearbeitung bestimmter Strafsachen in Frage stellen könnte“ (Rn. 37 ihrer schriftlichen Erklärungen, nicht amtliche Übersetzung der französischen Fassung).


39      Und zwar mit denselben Bestimmungen des EUV und der Charta, die Gegenstand der ersten Vorlagefrage sind.


40      Urteil W. Ż., Rn. 115.


41      Urteil Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts), Rn. 76.


42      Nach der alten Maxime semel competens semper competens (einmal zuständig, immer zuständig).


43      Insbesondere nach dem Urteil Nr. 7 des Konstitutsionen Sad (Verfassungsgericht) vom 14. Juli 2022, auf das ich in Fn. 6 verweise.


44      Gemäß § 44 der Übergangsbestimmungen des ZIDZZSV werden die Richter des SNS unter den Bedingungen und nach dem Verfahren des Art. 194 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes versetzt.