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Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

29. Juli 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Verpflichtender automatischer Informationsaustausch über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen – Richtlinie 2011/16/EU in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 geänderten Fassung – Art. 8ab Abs. 1 – Meldepflicht – Art. 8ab Abs. 5 – Subsidiäre Unterrichtungspflicht – Berufsgeheimnis – Gültigkeit – Art. 7, 20 und 21 sowie Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf Achtung des Privatlebens – Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen – Grundsatz der Rechtssicherheit“

In der Rechtssache C‑623/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheid vom 15. September 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 29. September 2022, in dem Verfahren

Belgian Association of Tax Lawyers,

SR,

FK,

Ordre des barreaux francophones et germanophone,

Orde van Vlaamse Balies,

CQ,

Instituut van de Accountants en de Belastingconsulenten,

VH,

ZS,

NI,

EX

gegen

Premier ministre/Eerste Minister,

Beteiligte:

Conseil des barreaux européens AISBL,

Conseil national des barreaux de France,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer (Berichterstatter) sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: N. Mundhenke, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. November 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Belgian Association of Tax Lawyers sowie von SR und FK, vertreten durch P. Malherbe, Avocat, und P. Verhaeghe, Advocaat,

–        des Ordre des barreaux francophones et germanophone, vertreten durch J. Noël und S. Scarnà, Avocats,

–        des Orde van Vlaamse Balies und von CQ, vertreten durch P. Wouters, Advocaat,

–        des Instituut van de Accountants en de Belastingconsulenten sowie von VH, ZS, NI und EX, vertreten durch F. Judo, Advocaat,

–        des Conseil national des barreaux de France, vertreten durch J.‑P. Hordies und J. Tacquet, Avocats,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, P. Cottin und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von S. Hamerijck, Sachverständige,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Očková, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch A. Ballesteros Panizo und I. Herranz Elizalde als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und A. Kramarczyk-Szaładzińska als Bevollmächtigte,

–        des Rates der Europäischen Union, vertreten durch I. Gurov, K. Pavlaki und K. Pleśniak als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Ferrand, W. Roels und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. Februar 2024

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Beurteilung der Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 1, 5, 6 und 7 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 (ABl. 2018, L 139, S. 1) geänderten Fassung im Licht der Grundrechte, insbesondere der Art. 7, 20, 21 und Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), sowie des allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen mehrerer Rechtsstreitigkeiten zwischen u. a. der faktischen Vereinigung Belgian Association of Tax Lawyers und anderer Personen (im Folgenden: BATL), dem Ordre des barreaux francophones et germanophone (Kammer der französischsprachigen und deutschsprachigen Rechtsanwaltschaften, im Folgenden: OBFG), dem Orde van Vlaamse Balies (Kammer der flämischen Rechtsanwaltschaften) und anderer Personen (im Folgenden: OVB) sowie dem Instituut van de Accountants en de Belastingconsulenten (Institut der Buchprüfer und Steuerberater) und anderer Personen (im Folgenden: ITAA) einerseits und dem Premier ministre/Eerste Minister (Premierminister, Belgien) andererseits über die Gültigkeit einiger Bestimmungen des Gesetzes vom 20. Dezember 2019 zur Umsetzung der Richtlinie [2018/822] (Moniteur belge vom 30. Dezember 2019, S. 119025).

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 98/5/EG

3        Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (ABl. 1998, L 77, S. 36), in der durch die Richtlinie 2013/25/EU des Rates vom 13. Mai 2013 (ABl. 2013, L 158, S. 368) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 98/5) bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet

a)      ‚Rechtsanwalt‘ jede Person, die Angehörige eines Mitgliedstaats ist und ihre beruflichen Tätigkeiten unter einer der folgenden Berufsbezeichnungen auszuüben berechtigt ist:

Belgien: Avocat/Advocaat/Rechtsanwalt

Bulgarien: Aдвокат

Tschechische Republik: Advokát

Dänemark: Advokat

Deutschland: Rechtsanwalt

Estland: Vandeadvokaat

Griechenland: Δικηγόρος

Spanien: Abogado/Advocat/Avogado/Abokatu

Frankreich: Avocat

Kroatien: Odvjetnik/Odvjetnica

Irland: Barrister/Solicitor

Italien: Avvocato

Zypern: Δικηγόρος

Lettland: Zvērināts advokāts

Litauen: Advokatas

Luxemburg: Avocat

Ungarn: Ügyvéd

Malta: Avukat/Prokuratur Legali

Niederlande: Advocaat

Österreich: Rechtsanwalt

Polen: Adwokat/Radca prawny

Portugal: Advogado

Rumänien: Avocat

Slowenien: Odvetnik/Odvetnica

Slowakei: Advokát/Komerčný právnik

Finnland: Asianajaja/Advokat

Schweden: Advokat

Vereinigtes Königreich: Advocate/Barrister/Solicitor“.

 Richtlinie 2011/16

4        Mit der Richtlinie 2011/16 wurde ein System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Steuerbehörden der Mitgliedstaaten geschaffen, und es wurden Regeln und Verfahren festgelegt, die beim Informationsaustausch für steuerliche Zwecke anzuwenden sind.

5        Diese Richtlinie wurde mehrfach geändert, u. a. durch die Richtlinie 2018/822 (im Folgenden: geänderte Richtlinie 2011/16), mit der eine Meldepflicht bei den zuständigen Behörden in Bezug auf potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuerplanungsgestaltungen (im Folgenden: Meldepflicht oder Meldung) eingeführt wurde.

6        Art. 2 („Geltungsbereich“) der geänderten Richtlinie 2011/16 sieht in den Abs. 1 und 2 vor:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für Steuern aller Art, die von einem oder für einen Mitgliedstaat bzw. von oder für gebiets- oder verwaltungsmäßige Gliederungseinheiten eines Mitgliedstaats, einschließlich der lokalen Behörden, erhoben werden.

(2)      Ungeachtet des Absatzes 1 gilt diese Richtlinie nicht für die Mehrwertsteuer und Zölle oder für Verbrauchsteuern, die in anderen Rechtsvorschriften der Union über die Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten erfasst sind. Diese Richtlinie gilt auch nicht für Pflichtbeiträge zu Sozialversicherungen, die an den Mitgliedstaat, eine Gliederungseinheit des Mitgliedstaats oder an öffentlich-rechtliche Sozialversicherungseinrichtungen zu leisten sind.“

7        Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der geänderten Richtlinie 2011/16 bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

1.      ‚zuständige Behörde‘ eines Mitgliedstaats die Behörde, die als solche von diesem Mitgliedstaat benannt worden ist. Ein zentrales Verbindungsbüro, eine Verbindungsstelle oder ein zuständiger Bediensteter, die gemäß dieser Richtlinie tätig werden, gelten bei Bevollmächtigung gemäß Artikel 4 ebenfalls als zuständige Behörde;

18.      ‚grenzüberschreitende Gestaltungen‘ eine Gestaltung, die entweder mehr als einen Mitgliedstaat oder einen Mitgliedstaat und ein Drittland betrifft, wobei mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

a)      Nicht alle an der Gestaltung Beteiligten sind im selben Hoheitsgebiet steuerlich ansässig;

b)      einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten ist/sind gleichzeitig in mehreren Hoheitsgebieten steuerlich ansässig;

c)      einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten übt/üben in einem anderen Hoheitsgebiet über eine dort gelegene Betriebsstätte eine Geschäftstätigkeit aus, und die Gestaltung stellt teilweise oder ganz die durch die Betriebsstätte ausgeübte Geschäftstätigkeit dar;

d)      einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten übt/üben in einem anderen Hoheitsgebiet eine Tätigkeit aus, ohne dort steuerlich ansässig zu sein oder eine Betriebsstätte zu begründen;

e)      eine solche Gestaltung hat möglicherweise Auswirkungen auf den automatischen Informationsaustausch oder die Identifizierung der wirtschaftlichen Eigentümer.

Für die Zwecke der Nummern 18 bis 25 dieses Artikels, des Artikels 8ab und des Anhangs IV kann es sich bei einer Gestaltung auch um eine Reihe von Gestaltungen handeln. Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen;

19.      ‚meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung‘ jede grenzüberschreitende Gestaltung, die mindestens eines der in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen aufweist;

20.      ,Kennzeichen‘ ein Merkmal oder eine Eigenschaft einer grenzüberschreitenden Gestaltung gemäß Anhang IV, das bzw. die auf ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung hindeutet;

21.      ‚Intermediär‘ jede Person, die eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung konzipiert, vermarktet, organisiert oder zur Umsetzung bereitstellt oder die die Umsetzung einer solchen Gestaltung verwaltet.

Dieser Ausdruck bezeichnet auch jede Person, die – unter Berücksichtigung der relevanten Fakten und Umstände und auf der Grundlage der verfügbaren Informationen sowie des einschlägigen Fachwissens und Verständnisses, die für die Erbringung solcher Dienstleistungen erforderlich sind – weiß oder vernünftigerweise wissen müsste, dass sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung im Hinblick auf Konzeption, Vermarktung, Organisation, Bereitstellung zur Umsetzung oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung geleistet hat. Jede Person hat das Recht, Beweise zu erbringen, wonach sie nicht wusste oder vernünftigerweise nicht wissen konnte, dass sie an einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt war. Die betreffende Person kann zu diesem Zweck alle relevanten Fakten und Umstände sowie verfügbaren Informationen und ihr einschlägiges Fachwissen und Verständnis geltend machen.

Damit eine Person als Intermediär fungieren kann, muss sie mindestens eine der folgenden zusätzlichen Bedingungen erfüllen:

a)      Sie ist in einem Mitgliedstaat steuerlich ansässig;

b)      sie hat eine Betriebsstätte in einem Mitgliedstaat, durch die die Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Gestaltung erbracht werden;

c)      sie ist nach dem Recht eines Mitgliedstaats eingetragen oder unterliegt dem Recht eines Mitgliedstaats;

d)      sie ist in einem Mitgliedstaat Mitglied in einer Organisation für juristische, steuerliche oder beratende Dienstleistungen;

22.      ‚relevanter Steuerpflichtiger‘ jede Person, der eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird oder die bereit ist, eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung umzusetzen, oder die den ersten Schritt einer solchen Gestaltung umgesetzt hat;

23.      ‚verbundenes Unternehmen‘ für die Zwecke des Artikels 8ab eine Person, die mit einer anderen Person auf mindestens eine der folgenden Arten verbunden ist:

a)      Eine Person ist an der Geschäftsleitung einer anderen Person insofern beteiligt, als sie erheblichen Einfluss auf diese ausüben kann;

b)      eine Person ist über eine Holdinggesellschaft, die über mehr als 25 % der Stimmrechte verfügt, an der Kontrolle einer anderen Person beteiligt;

c)      eine Person ist über ein Eigentumsrecht, das unmittelbar oder mittelbar mehr als 25 % des Kapitals beträgt, am Kapital einer anderen Person beteiligt;

d)      eine Person hat Anspruch auf mindestens 25 % der Gewinne einer anderen Person.

Falls mehr als eine Person gemäß den Buchstaben a bis d an der Geschäftsleitung, der Kontrolle, dem Kapital oder den Gewinnen derselben Person beteiligt ist, gelten alle betroffenen Personen als verbundene Unternehmen.

Falls dieselben Personen gemäß den Buchstaben a bis d an der Geschäftsleitung, der Kontrolle, dem Kapital oder den Gewinnen von mehr als einer Person beteiligt sind, gelten alle betroffenen Personen als verbundene Unternehmen.

Für die Zwecke dieser Nummer wird eine Person, die in Bezug auf die Stimmrechte oder die Kapitalbeteiligung an einem Unternehmen gemeinsam mit einer anderen Person handelt, so behandelt, als würde sie eine Beteiligung an allen Stimmrechten oder dem gesamten Kapital dieses Unternehmens halten, die bzw. das von der anderen Person gehalten werden/wird.

Bei mittelbaren Beteiligungen wird die Erfüllung der Anforderungen gemäß Buchstabe c durch Multiplikation der Beteiligungsquoten an den nachgeordneten Unternehmen ermittelt. Eine Person mit einer Stimmrechtsbeteiligung von mehr als 50 % gilt als Halter von 100 % der Stimmrechte.

Eine natürliche Person, ihr Ehepartner und ihre Verwandte[n] in aufsteigender oder absteigender gerader Linie werden als eine einzige Person behandelt;

24.      ‚marktfähige Gestaltung‘ eine grenzüberschreitende Gestaltung, die konzipiert wird, vermarktet wird, umsetzungsbereit ist oder zur Umsetzung bereitgestellt wird, ohne dass sie individuell angepasst werden muss;

25.      ‚maßgeschneiderte Gestaltung‘ jede grenzüberschreitende Gestaltung, bei der es sich nicht um eine marktfähige Gestaltung handelt.“

8        In Art. 8ab der geänderten Richtlinie 2011/16 („Umfang und Voraussetzungen des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen“) heißt es:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat ergreift die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zur Vorlage der ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen bei den zuständigen Steuerbehörden zu verpflichten, und zwar innerhalb von 30 Tagen beginnend

a)      an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird, oder

b)      an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung umsetzungsbereit ist, oder

c)      wenn der erste Schritt der Umsetzung der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung gemacht wurde,

je nachdem, was früher eintritt.

Ungeachtet des Unterabsatzes 1 sind auch die in Artikel 3 Nummer 21 Absatz 2 genannten Intermediäre zur Vorlage der Informationen innerhalb von 30 Tagen, beginnend an dem Tag, nach dem sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung geleistet haben, verpflichtet.

(2)      Im Falle von marktfähigen Gestaltungen ergreifen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass der Intermediär alle drei Monate einen regelmäßigen Bericht mit einer Aktualisierung vorlegt, der neue meldepflichtige Informationen gemäß Absatz 14 Buchstaben a, d, g und h enthält, die seit der Vorlage des letzten Berichts verfügbar geworden sind.

(5)      Jeder Mitgliedstaat kann die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Intermediären das Recht auf Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. In solchen Fällen ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zu verpflichten, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten gemäß Absatz 6 zu unterrichten.

Intermediäre können die in Unterabsatz 1 genannte Befreiung nur insoweit in Anspruch nehmen, als sie ihre Tätigkeit im Rahmen der für ihren Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften ausüben.

(6)      Für den Fall, dass kein Intermediär existiert oder der Intermediär den relevanten Steuerpflichtigen oder einen anderen Intermediär über die Anwendung einer Befreiung gemäß Absatz 5 unterrichtet, ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Pflicht zur Vorlage von Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung dem anderen unterrichteten Intermediär oder, falls kein solcher existiert, dem relevanten Steuerpflichtigen obliegt.

(7)      Der relevante Steuerpflichtige, dem die Meldepflicht obliegt, legt die Informationen innerhalb von 30 Tagen vor, beginnend an dem Tag, nach dem ihm die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird oder … zur Umsetzung durch den relevanten Steuerpflichtigen bereit ist[,] oder wenn der erste Schritt [zu ihrer] Umsetzung im Zusammenhang mit dem relevanten Steuerpflichtigen gemacht wurde, je nachdem, was früher eintritt.

Ist der relevante Steuerpflichtige verpflichtet, den zuständigen Behörden von mehr als einem Mitgliedstaat Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen vorzulegen, so sind die betreffenden Informationen nur den zuständigen Behörden in dem Mitgliedstaat vorzulegen, der in der nachstehenden Liste zuerst erscheint:

a)      der Mitgliedstaat, in dem der relevante Steuerpflichtige steuerlich ansässig ist;

b)      der Mitgliedstaat, in dem der relevante Steuerpflichtige eine Betriebsstätte hat, der durch die Gestaltung ein Vorteil entsteht;

c)      der Mitgliedstaat, in dem der relevante Steuerpflichtige Einkünfte oder Gewinne erzielt, obwohl er in keinem Mitgliedstaat steuerlich ansässig ist oder eine Betriebsstätte hat;

d)      der Mitgliedstaat, in dem der relevante Steuerpflichtige eine Tätigkeit ausübt, obwohl er in keinem Mitgliedstaat steuerlich ansässig ist oder eine Betriebsstätte hat.

(8)      Besteht gemäß Absatz 7 eine Verpflichtung zur Mehrfachmeldung, ist der relevante Steuerpflichtige von der Vorlage der Informationen befreit, wenn er im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften nachweisen kann, dass dieselben Informationen bereits in einem anderen Mitgliedstaat vorgelegt wurden.

(9)      Für den Fall, dass mehr als ein Intermediär existiert, ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Verpflichtung zur Vorlage von Informationen über die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung allen Intermediären, die an derselben meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt sind, obliegt.

Ein Intermediär ist nur soweit von der Vorlage der Informationen befreit, als er im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften nachweisen kann, dass dieselben Informationen gemäß Absatz 14 bereits durch einen anderen Intermediär vorgelegt wurden.

(12)      Jeder Mitgliedstaat ergreift die erforderlichen Maßnahmen, um Intermediäre und relevante Steuerpflichtige zur Vorlage von Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen zu verpflichten, deren erster Schritt zwischen dem 25. Juni 2018 und dem 30. Juni 2020 umgesetzt wurde. Die Intermediäre und die relevanten Steuerpflichtigen legen, sofern betroffen, bis zum 31. August 2020 Informationen über diese meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltungen vor.

(13)      Die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, in dem die Informationen gemäß den Absätzen 1 bis 12 vorgelegt wurden, übermittelt den zuständigen Behörden aller anderen Mitgliedstaaten die in Absatz 14 aufgeführten Informationen …

(14)      Die von der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats gemäß Absatz 13 zu übermittelnden Informationen umfassen soweit anwendbar Folgendes:

a)      die Angaben zu den Intermediären und relevanten Steuerpflichtigen, einschließlich des Namens, des Geburtsdatums und ‑orts (bei natürlichen Personen), der Steueransässigkeit und der Steueridentifikationsnummer sowie gegebenenfalls der Personen, die als verbundene Unternehmen des relevanten Steuerpflichtigen gelten;

b)      Einzelheiten zu den in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen, die bewirken, dass die grenzüberschreitende Gestaltung meldepflichtig ist;

c)      eine Zusammenfassung des Inhalts der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung, soweit vorhanden einschließlich eines Verweises auf die Bezeichnung, unter der [sie] allgemein bekannt ist, und einer abstrakt gehaltenen Beschreibung der relevanten Geschäftstätigkeiten oder Gestaltungen, die nicht zur Preisgabe eines Handels‑, Gewerbe- oder Berufsgeheimnisses oder eines Geschäftsverfahrens oder von Informationen führt, deren Preisgabe die öffentliche Ordnung verletzen würde;

d)      das Datum, an dem der erste Schritt der Umsetzung der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung gemacht wurde oder gemacht werden wird;

e)      Einzelheiten zu den nationalen Vorschriften, die die Grundlage der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung bilden;

f)      den Wert der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung;

g)      die Angabe des Mitgliedstaats des/der relevanten Steuerpflichtigen und aller anderen Mitgliedstaaten, die wahrscheinlich von der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung betroffen sind;

h)      Angaben zu allen anderen Personen in einem Mitgliedstaat, die wahrscheinlich von der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung betroffen sind, einschließlich Angaben darüber, zu welchen Mitgliedstaaten sie in Beziehung stehen.

…“

9        Art. 25a („Sanktionen“) der geänderten Richtlinie 2011/16 lautet:

„Die Mitgliedstaaten erlassen Vorschriften über Sanktionen, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie im Hinblick auf die Artikel 8aa und 8ab erlassenen nationalen Vorschriften zu verhängen sind, und treffen alle für die Anwendung der Sanktionen erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

10      Anhang IV („Kennzeichen“) der geänderten Richtlinie 2011/16 (im Folgenden: Anhang IV) sieht einen „Main benefit“-Test vor und enthält eine Liste der Kategorien von Kennzeichen; er lautet:

„Teil I. ‚Main benefit‘-Test

Allgemeine Kennzeichen gemäß Kategorie A und spezifische Kennzeichen gemäß Kategorie B und gemäß Kategorie C Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i, Buchstabe c und Buchstabe d können nur berücksichtigt werden, wenn sie das Kriterium des ‚Main benefit‘-Tests erfüllen.

Dieser Test gilt als erfüllt, wenn festgestellt werden kann, dass der Hauptvorteil oder einer der Hauptvorteile, den eine Person unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände vernünftigerweise von einer Gestaltung erwarten kann, die Erlangung eines Steuervorteils ist.

Bezüglich der Kennzeichen gemäß Kategorie C Absatz 1 kann die Erfüllung der in Kategorie C Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i, Buchstabe c oder Buchstabe d dargelegten Bedingungen nicht allein der Grund für die Feststellung sein, dass eine Gestaltung das Kriterium des ‚Main benefit‘-Tests erfüllt.

Teil II. Kategorien von Kennzeichen

A.      Allgemeine Kennzeichen in Verbindung mit dem ‚Main benefit‘-Test

1.      Eine Gestaltung, bei de[r] der relevante Steuerpflichtige oder ein an der Gestaltung Beteiligter sich verpflichtet, eine Vertraulichkeitsklausel einzuhalten, der zufolge sie gegenüber anderen Intermediären oder den Steuerbehörden nicht offenlegen dürfen, auf welche Weise aufgrund der Gestaltung ein Steuervorteil erlangt wird.

2.      Eine Gestaltung, bei der der Intermediär Anspruch auf eine Vergütung (bzw. Zinsen, Vergütung der Finanzkosten und sonstiger Kosten) für die Gestaltung hat und diese Vergütung in Bezug auf Folgendes festgesetzt wird:

a)      Betrag des aufgrund der Gestaltung erlangten Steuervorteils oder

b)      ob durch die Gestaltung tatsächlich ein Steuervorteil erlangt wird. Dies wäre mit der Verpflichtung des Intermediärs verbunden, die Vergütungen ganz oder teilweise zurückzuerstatten, falls der mit der Gestaltung beabsichtigte Steuervorteil nicht ganz oder teilweise erzielt wird.

3.      Eine Gestaltung, deren Dokumentation und/oder Struktur im Wesentlichen standardisiert ist und für mehr als einen relevanten Steuerpflichtigen verfügbar ist, ohne dass sie für die Umsetzung wesentlich individuell angepasst werden muss.

B.      Spezifische Kennzeichen in Verbindung mit dem ‚Main benefit‘-Test

1.      Eine Gestaltung, bei der ein an der Gestaltung Beteiligter künstlich Schritte unternimmt, um ein verlustbringendes Unternehmen zu erwerben, die Haupttätigkeit dieses Unternehmens zu beenden und dessen Verluste dafür zu nutzen, seine Steuerbelastung zu verringern, einschließlich der Übertragung dieser Verluste in ein anderes Hoheitsgebiet oder der rascheren Nutzung dieser Verluste.

2.      Eine Gestaltung, die sich so auswirkt, dass Einkünfte in Vermögen, Schenkungen oder andere niedriger besteuerte oder steuerbefreite Arten von Einkünften umgewandelt werden.

3.      Eine Gestaltung, die zirkuläre Transaktionen nutzt, die zu einem Round tripping von Vermögen führen, und zwar durch die Einbeziehung zwischengeschalteter Unternehmen ohne primäre wirtschaftliche Funktion oder von Transaktionen, die sich gegenseitig aufheben oder ausgleichen oder die ähnliche Merkmale aufweisen.

C.      Spezifische Kennzeichen im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Transaktionen

1.      Eine Gestaltung, die abzugsfähige grenzüberschreitende Zahlungen zwischen zwei oder mehr verbundenen Unternehmen umfasst und bei der mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

a)      Der Empfänger ist steuerlich in keinem Hoheitsgebiet ansässig;

b)      der Empfänger ist zwar steuerlich in einem Hoheitsgebiet ansässig, dieses Hoheitsgebiet

i)      erhebt aber keine Körperschaftsteuer oder hat einen Körperschaftsteuersatz von null oder nahe null oder

ii)      wird in der Liste der Drittländer geführt, die von den Mitgliedstaaten gemeinsam oder im Rahmen der [Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)] als nicht-kooperierende Länder eingestuft wurden;

c)      die Zahlung ist im Hoheitsgebiet, in dem der Empfänger steuerlich ansässig ist, vollständig von der Steuer befreit;

d)      die Zahlung kommt im Hoheitsgebiet, in dem der Empfänger steuerlich ansässig ist, in den Genuss von einem präferentiellen Steuerregime.

2.      In mehr als einem Hoheitsgebiet werden Abzüge für die Abschreibung desselben Vermögenswertes beantragt.

3.      In mehr als einem Hoheitsgebiet wird eine Befreiung von der Doppelbesteuerung für dieselben Einkünfte oder dasselbe Vermögen beantragt.

4.      Es liegt eine Gestaltung vor, die die Übertragung von Vermögenswerten vorsieht und bei der es einen wesentlichen Unterschied hinsichtlich des in diesen beteiligten Hoheitsgebieten für den Vermögenswert anzusetzenden Wertes gibt.

D.      Spezifische Kennzeichen hinsichtlich des automatischen Informationsaustauschs und der wirtschaftlichen Eigentümer

1.      Eine Gestaltung, die zu einer Aushöhlung der Meldepflicht gemäß den Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Unionsrechts oder gemäß gleichwertiger Abkommen über den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten, einschließlich Abkommen mit Drittländern, führen kann oder sich das Fehlen derartiger Rechtsvorschriften oder Abkommen zunutze macht. Derartige Gestaltungen umfassen zumindest Folgendes:

a)      die Nutzung eines Kontos, Produkts oder einer Anlage, das/die kein Finanzkonto ist oder vorgeblich kein Finanzkonto ist, jedoch Merkmale aufweist, die im Wesentlichen denen eines Finanzkontos entsprechen;

b)      die Übertragung eines Finanzkontos oder von Vermögenswerten in ein Hoheitsgebiet oder die Einbeziehung von Hoheitsgebieten, die nicht an den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten mit dem Staat, in dem der relevante Steuerpflichtige ansässig ist, gebunden sind;

c)      die Neueinstufung von Einkünften und Vermögen als Produkte oder Zahlungen, die nicht dem automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten unterliegen;

d)      die Übertragung oder Umwandlung eines Finanzinstituts oder eines Finanzkontos oder der darin enthaltenen Vermögenswerte in ein Finanzinstitut oder ein Finanzkonto oder in Vermögenswerte, die nicht der Meldepflicht im Rahmen des automatischen Informationsaustausch[s] über Finanzkonten unterliegen;

e)      die Einbeziehung von Rechtspersonen, Gestaltungen oder Strukturen, die die Meldung eines/einer oder mehrerer Kontoinhaber(s) oder Beherrschende(n) Person(en) im Rahmen des automatischen Informationsaustauschs über Finanzkonten ausschließen oder vorgeben auszuschließen;

f)      Gestaltungen, die die Verfahren zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten aushöhlen oder Schwächen in diesen Verfahren ausnutzen, die Finanzinstitute zur Erfüllung ihrer Meldepflichten bezüglich Informationen über Finanzkonten anwenden, einschließlich der Einbeziehung von Hoheitsgebieten mit ungeeigneten oder schwachen Regelungen für die Durchsetzung von Vorschriften gegen Geldwäsche oder mit schwachen Transparenzanforderungen für juristische Personen oder Rechtsvereinbarungen.

2.      Eine Gestaltung mit einer intransparenten Kette an rechtlichen oder wirtschaftlichen Eigentümern durch die Einbeziehung von Personen, Rechtsvereinbarungen oder Strukturen,

a)      die keine wesentliche wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, die mit angemessener Ausstattung sowie angemessenen personellen Ressourcen, Vermögenswerten und Räumlichkeiten einhergeht, und

b)      die in anderen Hoheitsgebieten eingetragen, ansässig oder niedergelassen sind bzw. verwaltet oder kontrolliert werden als dem Hoheitsgebiet, in dem ein oder mehrere der wirtschaftlichen Eigentümer der von diesen Personen, Rechtsvereinbarungen oder Strukturen gehaltenen Vermögenswerte ansässig ist/sind, und

c)      sofern die wirtschaftlichen Eigentümer dieser Personen, Rechtsvereinbarungen oder Strukturen gemäß [der] Richtlinie (EU) 2015/849 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinie 2006/70/EG der Kommission (ABl. 2015, L 141, S. 73)] nicht identifizierbar gemacht werden.

E.      Spezifische Kennzeichen hinsichtlich der Verrechnungspreisgestaltung

1.      Eine Gestaltung, die unilaterale Safe-Harbor-Regeln nutzt.

2.      Eine Gestaltung mit Übertragung von schwer zu bewertenden immateriellen Werten. Der Begriff ‚schwer zu bewertende immaterielle Werte‘ umfasst immaterielle Werte oder Rechte an immateriellen Werten, für die zum Zeitpunkt ihrer Übertragung zwischen verbundenen Unternehmen

a)      keine ausreichend verlässlichen Vergleichswerte vorliegen und

b)      zum Zeitpunkt der Transaktion die Prognosen voraussichtlicher Cashflows oder die vom übertragenen immateriellen Wert erwarteten abzuleitenden Einkünfte oder die der Bewertung des immateriellen Werts zugrunde gelegten Annahmen höchst unsicher sind, weshalb der letztendliche Erfolg des immateriellen Werts zum Zeitpunkt der Übertragung nur schwer absehbar ist.

3.      Eine Gestaltung, bei der eine gruppeninterne grenzüberschreitende Übertragung von Funktionen und/oder Risiken und/oder Vermögenswerten stattfindet, wenn der erwartete jährliche Gewinn vor Zinsen und Steuern (EBIT) des/der Übertragenden über einen Zeitraum von drei Jahren nach der Übertragung weniger als 50 % des jährlichen EBIT des/der Übertragenden beträgt, der erwartet worden wäre, wenn die Übertragung nicht stattgefunden hätte.“

 Richtlinie (EU) 2016/1164

11      Im elften Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts (ABl. 2016, L 193, S. 1) heißt es:

„Allgemeine Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch dienen in Steuersystemen dazu, gegen missbräuchliche Steuerpraktiken vorzugehen, für die noch keine besonderen Vorschriften bestehen. Allgemeine Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch sollen somit Lücken schließen, ohne sich auf die Anwendbarkeit besonderer Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch auszuwirken. In der [Europäischen] Union sollten die allgemeinen Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch auf unangemessene Gestaltungen angewendet werden; andernfalls sollte der Steuerpflichtige das Recht haben, die steuereffizienteste Struktur für seine geschäftlichen Angelegenheiten zu wählen. …“

12      Art. 6 („Allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch“) der Richtlinie 2016/1164 bestimmt:

„(1)      Liegt unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vor, bei der der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts zuwiderläuft, so berücksichtigen die Mitgliedstaaten diese bei der Berechnung der Körperschaftsteuerschuld nicht. Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen.

(2)      Für die Zwecke von Absatz 1 gilt eine Gestaltung oder eine Abfolge solcher Gestaltungen in dem Umfang als unangemessen, als sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln.

(3)      Bleiben Gestaltungen oder eine Abfolge solcher Gestaltungen gemäß Absatz 1 unberücksichtigt, so wird die Steuerschuld im Einklang mit nationalem Recht berechnet.“

 Richtlinie 2018/822

13      In den Erwägungsgründen 2, 4, 6 bis 9, 14 und 18 der Richtlinie 2018/822 heißt es:

„(2)      Für die Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, da die Steuerplanungsstrukturen immer ausgefeilter werden und sich häufig die höhere Mobilität von Kapital und Personen im Binnenmarkt zunutze machen. Derartige Strukturen umfassen häufig Gestaltungen, die für mehrere Hoheitsgebiete gemeinsam entwickelt werden und durch die steuerpflichtige Gewinne in Staaten mit vorteilhafteren Steuersystemen verlagert werden oder die eine Verringerung der Gesamtsteuerbelastung der Steuerpflichtigen bewirken. Infolgedessen kommt es häufig zu einem beträchtlichen Rückgang der Steuereinnahmen in den Mitgliedstaaten, was diese wiederum daran hindert, eine wachstumsfreundliche Steuerpolitik zu verfolgen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen erhalten. Diese Informationen würden die Behörden in die Lage versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder durch die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen zu schließen. Die Tatsache, dass Steuerbehörden nicht auf eine gemeldete Gestaltung reagieren, sollte jedoch nicht die Anerkennung der Gültigkeit oder der steuerlichen Behandlung dieser Gestaltung implizieren.

(4)      In Anerkennung der Tatsache, dass ein transparenter Rahmen für die Entwicklung unternehmerischer Tätigkeit zur Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung im Binnenmarkt beitragen kann, wurde die [Europäische] Kommission ersucht, Initiativen zur verpflichtenden Offenlegung von Informationen zu potenziell aggressiven Steuerplanungsgestaltungen entsprechend dem Aktionspunkt 12 des OECD-Projekts zu Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung [Base Erosion and Profit Shifting, BEPS] einzuleiten. In diesem Zusammenhang hat das Europäische Parlament zu strengeren Maßnahmen gegen Intermediäre aufgerufen, die an Gestaltungen mitwirken, die zu Steuervermeidung und Steuerhinterziehung führen können. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die OECD in der Erklärung der G7 von Bari vom 13. Mai 2017 über die Bekämpfung von Steuerkriminalität und sonstigen illegalen Finanzströmen aufgefordert wurde, mit der Erörterung der Möglichkeiten zur Bekämpfung von Gestaltungen zu beginnen, die dazu dienen, die Meldung im Rahmen des gemeinsamen Meldestandards zu umgehen, oder die darauf abzielen, wirtschaftlichen Eigentümern den Schutz durch nicht transparente Strukturen zu gewähren, auch unter Berücksichtigung von Mustervorschriften für verbindliche Offenlegungsregelungen auf Grundlage des Ansatzes zu Vermeidungsgestaltungen, der im Bericht über den Aktionspunkt 12 des BEPS-Projekts dargelegt ist.

(6)      Die Meldung potenziell aggressiver grenzüberschreitender Steuerplanungsgestaltungen kann die Bemühungen zur Schaffung einer gerechten Besteuerung im Binnenmarkt nachhaltig unterstützen. Hier würde die Verpflichtung der Intermediäre, die Steuerbehörden … zu informieren, … einen Schritt in die richtige Richtung darstellen. …

(7)      Es steht außer Frage, dass die Meldung potenziell aggressiver grenzüberschreitender Steuerplanungsgestaltungen bessere Aussichten hätte, ihre abschreckende Wirkung zu entfalten, wenn die entsprechenden Informationen die Steuerbehörden frühzeitig erreichten, d. h., bevor diese Gestaltungen tatsächlich umgesetzt werden. Um die Arbeit der Verwaltungen der Mitgliedstaaten zu erleichtern, könnte der anschließende Informationsaustausch über diese Gestaltungen vierteljährlich erfolgen.

(8)      Um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten und Schlupflöcher in den vorgeschlagenen Rahmenvorschriften zu vermeiden, sollten alle Akteure, die normalerweise an der Konzeption, Vermarktung, Organisation oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Transaktion oder einer Reihe solcher Transaktionen beteiligt sind, sowie alle, die Unterstützung oder Beratung leisten, zur Meldung verpflichtet sein. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass in bestimmten Fällen die Meldepflicht eines Intermediärs aufgrund einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht nicht durchsetzbar ist oder gar kein Intermediär vorhanden ist, weil beispielsweise der Steuerpflichtige eine Steuerplanungsgestaltung selbst konzipiert und umsetzt. Es wäre äußerst wichtig, dass die Steuerbehörden in solchen Fällen weiterhin die Möglichkeit haben, Informationen über Steuergestaltungen zu erhalten, die potenziell mit aggressiver Steuerplanung verbunden sind. Hierfür müsste die Meldepflicht auf den Steuerpflichtigen verlagert werden, der in diesen Fällen von der Gestaltung profitiert.

(9)      Aggressive Steuerplanungsgestaltungen haben sich über Jahre hinweg entwickelt, sind immer komplexer geworden und unterliegen ständigen Änderungen und Anpassungen, mit denen auf Gegenmaßnahmen der Steuerbehörden reagiert wird. Angesichts dessen wäre es wirksamer, potenziell aggressive Steuerplanungsgestaltungen durch die Zusammenstellung einer Liste von Merkmalen und Elementen von Transaktionen zu erfassen, die stark auf Steuervermeidung oder Steuermissbrauch hindeuten, anstatt den Begriff der aggressiven Steuerplanung zu definieren. Diese Merkmale werden als ‚Kennzeichen‘ bezeichnet.

(14)      Obwohl die Mitgliedstaaten weiterhin für die direkte Besteuerung zuständig sind, ist es angemessen, ausschließlich zum Zweck der eindeutigen Festlegung des Geltungsbereichs des Kennzeichens für Gestaltungen, … die … meldepflichtig sein sollten …, auf einen Körperschaftsteuersatz von null oder nahe null Bezug zu nehmen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass aggressive grenzüberschreitende Steuerplanungsgestaltungen, die ausschließlich oder hauptsächlich dem Zweck dienen, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder dem Zweck des geltenden Steuerrechts zuwiderläuft, der allgemeinen Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch gemäß Artikel 6 der Richtlinie [2016/1164] unterliegen.

(18)      Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta … anerkannt wurden.“

 Belgisches Recht

14      Mit dem Gesetz vom 20. Dezember 2019 zur Umsetzung der Richtlinie 2018/822 wurden das Einkommensteuergesetzbuch 1992, das Registrierungs‑, Hypotheken- und Kanzleigebührengesetzbuch, das Erbschaftsteuergesetzbuch sowie das Gesetzbuch der verschiedenen Gebühren und Steuern abgeändert (im Folgenden: Gesetz vom 20. Dezember 2019).

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15      Mit Klageschriften, die am 30. Juni sowie am 1. und 2. Juli 2020 eingingen, beantragten die Kläger des Ausgangsverfahrens bei der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien), dem vorlegenden Gericht, die vollständige oder teilweise Nichtigerklärung des Gesetzes vom 20. Dezember 2019. Die betreffenden Rechtssachen wurden vom vorlegenden Gericht zu gemeinsamem Verfahren verbunden.

16      Das vorlegende Gericht führt aus, einige Kläger des Ausgangsverfahrens beanstandeten, dass das Gesetz vom 20. Dezember 2019 auch für andere Steuern als die Gesellschaftssteuer gelte. Da diese undifferenzierte Anwendung auf die Bestimmungen der Richtlinie 2018/822 zurückgeht, hält das vorlegende Gericht es für erforderlich, eine erste Frage nach der Gültigkeit dieser Richtlinie im Licht der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie der Art. 20 und 21 der Charta zu stellen.

17      Das vorlegende Gericht führt ferner aus, einige Kläger des Ausgangsverfahrens machten geltend, dass die Begriffe „Gestaltung“, „Intermediär“, „Beteiligter“ und „verbundenes Unternehmen“ sowie das Adjektiv „grenzüberschreitend“, die verschiedenen „Kennzeichen“ und der „Main benefit“-Test nicht hinreichend präzise seien. Da sie sowie die Begriffe „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“ die Terminologie der Richtlinie 2018/822 wiedergeben und da der Verstoß gegen die durch diese Richtlinie eingeführte Meldepflicht mit den im nationalen Recht vorgesehenen Geldbußen geahndet wird, hält das vorlegende Gericht es für erforderlich, in Bezug auf diese Begriffe eine zweite Frage nach der Gültigkeit der Richtlinie 2018/822 im Licht des Grundsatzes der Rechtssicherheit, des in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankerten Legalitätsprinzips in Strafsachen und des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens zur Vorabentscheidung vorzulegen.

18      Da einige Kläger des Ausgangsverfahrens geltend gemacht haben, dass die Bestimmungen des Gesetzes vom 20. Dezember 2019 es nicht ermöglichten, mit dem erforderlichen Maß an Präzision den Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem die darin vorgesehene Meldefrist zu laufen beginne, und da diese Bestimmungen insoweit auf die Bestimmungen der Richtlinie 2018/822 zurückgehen, hält das vorlegende Gericht es für erforderlich, eine diesen Aspekt betreffende dritte Frage nach der Gültigkeit der Richtlinie zu stellen, wiederum im Licht von Art. 7 und Art. 49 Abs. 1 der Charta.

19      Da das vorlegende Gericht auch über die Rügen einiger Kläger des Ausgangsverfahrens in Bezug auf die Verpflichtung des Intermediärs, der sich auf das Berufsgeheimnis beruft, die anderen Intermediäre von ihrer Meldepflicht in Kenntnis zu setzen, zu befinden hat, ist es der Auffassung, dass dem Gerichtshof vor der Entscheidung in der Sache eine vierte Frage nach der Gültigkeit der diese Verpflichtung vorsehenden Bestimmung der Richtlinie 2018/822 vorzulegen ist, die der in der Rechtssache C‑694/20 gestellten Frage ähnelt, zu der mittlerweile das Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963), ergangen ist, aber alle Intermediäre betrifft, die dem Berufsgeheimnis unterliegen, und sich nur auf das Recht auf Achtung des Privatlebens bezieht.

20      Schließlich führt das vorlegende Gericht zu der in der Richtlinie 2018/822 vorgesehenen Meldepflicht für grenzüberschreitende Gestaltungen, gegen die einige Kläger des Ausgangsverfahrens ebenfalls Einwände erhoben haben, aus, dass ihr Anwendungsbereich weit gefasst sei und dass sie Gestaltungen betreffen könne, die rechtmäßig, angemessen und nicht missbräuchlich seien und deren Hauptvorteil nicht steuerlicher Art sei. Daher stelle sich die Frage, ob diese Meldepflicht angesichts ihres weiten Anwendungsbereichs und der zu meldenden Informationen bei vernünftiger Betrachtung gerechtfertigt und im Hinblick auf die angestrebten Ziele verhältnismäßig sei und ob sie im Hinblick auf das Ziel, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, sachdienlich sei, da insbesondere die Bedingung, dass die Gestaltung grenzüberschreitend sein müsse, die Ausübung der Verkehrsfreiheiten behindern könnte. Insoweit hält das vorlegende Gericht es für erforderlich, eine fünfte Frage nach der Gültigkeit dieser Richtlinie und der durch sie eingeführten Meldepflicht im Licht des in Art. 7 der Charta verankerten Rechts auf Achtung des Privatlebens zur Vorabentscheidung vorzulegen.

21      Unter diesen Umständen hat die Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Verstößt die Richtlinie 2018/822 gegen Art. 6 Abs. 3 EUV und die Art. 20 und 21 der Charta und insbesondere die Grundsätze der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, den diese Bestimmungen gewährleisten, insofern die Richtlinie 2018/822 die Meldepflicht für meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen nicht auf die Gesellschaftssteuer beschränkt, sondern sie auf alle Steuern, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/16 fallen, für anwendbar erklärt, was im belgischen Recht nicht nur die Gesellschaftssteuer, sondern auch andere direkte Steuern als die Gesellschaftssteuer und indirekte Steuern wie die Registrierungsgebühren einschließt?

2.      Verstößt die Richtlinie 2018/822 gegen das Legalitätsprinzip in Strafsachen, das durch Art. 49 Abs. 1 der Charta und Art. 7 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) gewährleistet wird, verstößt sie gegen den allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit und verstößt sie gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens, das durch Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK gewährleistet wird, insofern die Begriffe „Gestaltung“ (und somit die Begriffe „grenzüberschreitende Gestaltung“, „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“), „Intermediär“, „Beteiligter“ und „verbundenes Unternehmen“, das Adjektiv „grenzüberschreitend“, die verschiedenen „Kennzeichen“ und das „Kriterium des ,Main benefit‘-Tests“, die in der Richtlinie 2018/822 verwendet werden, um den Anwendungsbereich und die Tragweite der Meldepflicht für meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen zu bestimmen, nicht ausreichend klar und bestimmt wären?

3.      Verstößt die Richtlinie 2018/822, insbesondere insofern sie Art. 8ab Abs. 1 und 7 der Richtlinie 2011/16 einfügt, gegen das Legalitätsprinzip in Strafsachen, das durch Art. 49 Abs. 1 der Charta und Art. 7 Abs. 1 EMRK gewährleistet wird, und verstößt sie gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens, das durch Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK gewährleistet wird, insofern der Anfangszeitpunkt der Frist von 30 Tagen, in der ein Intermediär oder ein relevanter Steuerpflichtiger der Meldepflicht für eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung nachkommen muss, nicht ausreichend klar und bestimmt festgelegt wäre?

4.      Verstößt Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2018/822 gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens, das durch Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK gewährleistet wird, insofern der neue Art. 8ab Abs. 5, den er in die Richtlinie 2011/16 eingefügt hat, vorsieht, dass dann, wenn ein Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Intermediären das Recht auf Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde, dieser Mitgliedstaat verpflichtet ist, diese Intermediäre zu verpflichten, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten zu unterrichten, insofern diese Pflicht zur Folge hat, dass ein Intermediär, der dem nach dem Recht dieses Mitgliedstaats strafbewehrten Berufsgeheimnis unterliegt, verpflichtet ist, mit einem anderen Intermediär, der nicht sein Klient ist, Informationen auszutauschen, von denen er bei der Ausübung seines Berufs Kenntnis erlangt?

5.      Verstößt die Richtlinie 2018/822 gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens, das durch Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK gewährleistet wird, insofern die Meldepflicht für meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens von Intermediären und relevanten Steuerpflichtigen zur Folge hätte, der nicht vernünftig gerechtfertigt und im Hinblick auf die angestrebten Ziele verhältnismäßig wäre und der im Hinblick auf das Ziel, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, nicht sachdienlich wäre?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Vorlagefrage

22      Mit der ersten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen, die Gültigkeit der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie der Art. 20 und 21 der Charta zu prüfen, soweit sich die in Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 der Richtlinie vorgesehene Meldepflicht nicht auf die Gesellschaftssteuer beschränkt, sondern für alle in ihren Geltungsbereich fallenden Steuern gilt.

23      Zu dem in Art. 21 der Charta niedergelegten Diskriminierungsverbot ist zunächst festzustellen, dass nicht ersichtlich ist, inwiefern die unterschiedslose Anwendung der in Rede stehenden Meldepflicht auf die verschiedenen von ihr erfassten Steuerarten zu einer Ungleichbehandlung aufgrund eines spezifischen Faktors wie den in dieser Bestimmung aufgezählten führen könnte.

24      Das Diskriminierungsverbot ist allerdings nur der spezifische Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes, der zu den Grundprinzipien des Unionsrechts gehört; dieser Grundsatz, der auch in Art. 20 der Charta zum Ausdruck kommt, verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a., C‑336/19, EU:C:2020:1031, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Sachverhalte ist anhand aller Merkmale zu beurteilen, die sie kennzeichnen. Diese Merkmale sind u. a. im Licht des Gegenstands und des Ziels der Unionsmaßnahme, mit der die fragliche Unterscheidung eingeführt wird, zu bestimmen und zu beurteilen. Zu berücksichtigen sind auch die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs, zu dem die betreffende Maßnahme gehört (Urteil vom 10. Februar 2022, OE [Gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten – Kriterium der Staatsangehörigkeit], C‑522/20, EU:C:2022:87, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Überdies hat der Gerichtshof zur gerichtlichen Kontrolle der Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes durch den Unionsgesetzgeber entschieden, dass Letzterer im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Zuständigkeiten über ein weites Ermessen verfügt, wenn er in einem Bereich tätig wird, der politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen impliziert, und wenn er komplexe Beurteilungen und Prüfungen vornehmen muss. Daher kann eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme nur dann rechtswidrig sein, wenn sie zur Erreichung des Ziels, das die zuständigen Organe anstreben, offensichtlich ungeeignet ist (Urteil vom 10. Februar 2022, OE [Gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten – Kriterium der Staatsangehörigkeit], C‑522/20, EU:C:2022:87, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 und 2 der geänderten Richtlinie 2011/16, dass die in ihrem Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 vorgesehene Meldepflicht im Wesentlichen für Steuern aller Art gilt, die von einem Mitgliedstaat und seinen gebiets- oder verwaltungsmäßigen Gliederungseinheiten erhoben werden, nicht aber für die Mehrwertsteuer und Zölle oder für Verbrauchsteuern, die in anderen Rechtsvorschriften der Union über die Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten erfasst sind.

28      Diese Pflicht fügt sich in den Rahmen der Schaffung einer internationalen steuerlichen Zusammenarbeit zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung ein, die sich durch einen Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten konkretisiert. Sie soll zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und zur Verhinderung der Gefahr von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung beitragen (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 43 und 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Daraus folgt, dass die Gefahr aggressiver Steuerplanung sowie von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung das Referenzkriterium ist, anhand dessen im vorliegenden Fall zu beurteilen ist, ob ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung vorliegen könnte, weil die geänderte Richtlinie 2011/16 die Pflicht zur Meldung grenzüberschreitender Gestaltungen nicht auf die Gesellschaftssteuer beschränkt, sondern auf alle Steuern außer der Mehrwertsteuer, den Zöllen und den Verbrauchsteuern erstreckt.

30      Nichts in den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, lässt aber den Schluss zu, dass aggressive Steuerplanungspraktiken nur im Bereich der Gesellschaftssteuer umgesetzt werden können, nicht aber im Bereich der übrigen direkten Steuern wie z. B. der Einkommensteuer für natürliche Personen und im Bereich der indirekten Steuern, die – im Unterschied zur Mehrwertsteuer, zu den Zöllen und zu den Verbrauchsteuern, die vom Geltungsbereich der geänderten Richtlinie 2011/16 ausgenommen sind – nicht wie diese drei Arten indirekter Steuern Gegenstand spezifischer Regelungen der Union sind, in deren Kontext das Ziel der Bekämpfung solcher Praktiken unter Umständen gezielter erreicht werden kann.

31      Wie der Generalanwalt hierzu in Nr. 35 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, lag zwar der Schwerpunkt der Folgenabschätzung der Kommission vom 21. Juni 2017 (SWD[2017] 236 final) zum Vorschlag für die Änderung der Richtlinie 2011/16 (im Folgenden: Folgenabschätzung) bei den direkten Steuern, doch wird darin dargelegt, dass Steuern aller Art Gegenstand einer aggressiven Steuerplanung sein können. Die in der Folgenabschätzung angestellte Erwägung, dass die Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung im Bereich der Mehrwertsteuer besser im Rahmen der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) erfolgen könnte, was darin zum Ausdruck kommt, dass die Mehrwertsteuer nicht in den sachlichen Geltungsbereich der geänderten Richtlinie 2011/16 fällt, bedeutet nicht, dass zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung bei anderen indirekten Steuern ein Rückgriff auf die Meldepflicht unangebracht wäre.

32      Überdies belegt, wie der Generalanwalt in Nr. 28 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, auch das OECD/G20-Projekt zu Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, von dem sich der Unionsgesetzgeber, wie dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 zu entnehmen ist, leiten ließ, dass ein Meldesystem wie das mit dieser Richtlinie eingeführte geeignet war, das größtmögliche Spektrum von Steuerarten zu erfassen.

33      Unter diesen Umständen handelt es sich bei den verschiedenen Arten von Steuern, die nach der geänderten Richtlinie 2011/16 der Meldepflicht unterliegen, angesichts der mit dieser Richtlinie im Bereich der Bekämpfung aggressiver Steuerplanung sowie der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung im Binnenmarkt verfolgten Ziele um vergleichbare Situationen, so dass ihre Einbeziehung in einem Bereich, in dem der Unionsgesetzgeber über ein weites Ermessen bei der Ausübung der ihm übertragenen Befugnisse verfügt, zur Erreichung dieser Ziele nicht offensichtlich ungeeignet war.

34      Nach alledem ist festzustellen, dass die Prüfung des Aspekts, auf den sich die erste Frage bezieht, nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie der Art. 20 und 21 der Charta berühren könnte.

 Zur zweiten und zur dritten Vorlagefrage

35      Mit der zweiten und der dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, die Gültigkeit der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht des Grundsatzes der Rechtssicherheit, des in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankerten Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen und des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens zu prüfen, da der Begriff „Gestaltung“ und somit die Begriffe „grenzüberschreitende Gestaltung“, „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“, „Intermediär“, „Beteiligter“ und „verbundenes Unternehmen“, das Adjektiv „grenzüberschreitend“, die verschiedenen „Kennzeichen“, das „Kriterium des ,Main benefit‘-Tests“ und schließlich der Beginn der Frist von 30 Tagen für die Erfüllung der Meldepflicht, die in dieser Richtlinie zur Bestimmung des Geltungsbereichs und des Umfangs der Meldepflicht verwendet und festgelegt würden, nicht ausreichend klar und bestimmt seien.

36      Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen haben können – klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind. Insbesondere verlangt er, dass eine Regelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen auferlegten Pflichten genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 223 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Diese Erfordernisse sind jedoch weder so zu verstehen, dass sie den Unionsgesetzgeber daran hindern, im Rahmen einer von ihm erlassenen Norm einen abstrakten Rechtsbegriff zu verwenden, noch so, dass in einer solchen abstrakten Norm die verschiedenen konkreten Fälle genannt werden müssen, auf die sie angewandt werden kann, sofern der Gesetzgeber nicht alle diese Fälle im Voraus bestimmen kann (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 224 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Zum Grundsatz der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten, auch wenn die geänderte Richtlinie 2011/16 selbst keine Sanktion für die Verletzung der Meldepflicht festlegt, nach deren Art. 25a insoweit wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen vorsehen müssen, d. h. Sanktionen, die strafrechtlichen Charakter haben können. Das vorlegende Gericht weist im Übrigen darauf hin, dass dies bei den im belgischen Recht vorgesehenen Sanktionen der Fall ist. Dabei kann ein etwaiger Mangel an Klarheit oder Bestimmtheit der in der zweiten und der dritten Frage angesprochenen Begriffe und Fristen, die festlegen, welche Verhaltensweisen die Betroffenen an den Tag legen müssen, damit gegen sie keine solchen Sanktionen verhängt werden, gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen verstoßen.

39      Dieser in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankerte Grundsatz, der eine besondere Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit darstellt, impliziert nämlich insbesondere, dass die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen im Gesetz klar definiert werden (Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Die Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ist gewahrt, wenn der Einzelne anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen (Urteil vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Überdies gehört der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen zu den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und ist in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen, u. a. in Art. 7 Abs. 1 EMRK, verankert. Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) hat das in Art. 49 der Charta garantierte Recht nach deren Art. 52 Abs. 3 dieselbe Bedeutung und Tragweite wie das von der EMRK garantierte Recht (Urteil vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 53 und 54).

42      Insoweit geht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) zu Art. 7 EMRK hervor, dass der Wortlaut von Rechtsakten wegen ihres notwendigerweise allgemeinen Charakters keine absolute Bestimmtheit aufweisen kann. Daraus folgt u. a., dass die Gesetzgebungstechnik, eher allgemeine Kategorien zu verwenden als abschließende Aufzählungen, zwar oft Grauzonen bei der Abgrenzung lässt, doch ist eine Vorschrift nicht bereits wegen solcher in einer begrenzten Zahl von Fällen bestehender Zweifel mit Art. 7 EMRK unvereinbar, sofern sie in den meisten Fällen hinreichend klar ist (vgl. in diesem Sinne u. a. EGMR, 15. November 1996, Cantoni/Frankreich, CE:ECHR:1996:1115JUD001786291, §§ 31 und 32).

43      Ebenso darf der Bestimmtheitsgrundsatz nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht so verstanden werden, dass er die schrittweise Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch Auslegungen seitens der Gerichte untersagt, sofern diese hinreichend vorhersehbar sind (Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 167 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Nach alledem steht der Umstand, dass in einer Regelung auf weit gefasste Begriffe Bezug genommen wird, die schrittweise zu klären sind, grundsätzlich nicht der Annahme entgegen, dass diese Regelung klare und bestimmte Vorschriften enthält, die es dem Einzelnen ermöglichen, vorherzusehen, welche Handlungen und Unterlassungen Gegenstand strafrechtlicher Sanktionen sein können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BV, C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 42). Insoweit kommt es darauf an, ob der Anschein der Mehrdeutigkeit oder Unbestimmtheit dieser Begriffe unter Rückgriff auf die üblichen Methoden der Rechtsauslegung zerstreut werden kann. Entsprechen diese Begriffe den im Rahmen der einschlägigen internationalen Übereinkommen und Gepflogenheiten verwendeten Begriffen, können diese Übereinkommen und Gepflogenheiten dem mit der Auslegung betrauten Gericht zusätzliche Hinweise geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 2021, État luxembourgeois [Information zu einer Gruppe von Steuerpflichtigen], C‑437/19, EU:C:2021:953, Rn. 69 bis 71).

45      Schließlich hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass der Grad der verlangten Vorhersehbarkeit in hohem Maß vom Inhalt der in Rede stehenden Vorschriften, von dem durch sie erfassten Bereich sowie von Zahl und Eigenschaft ihrer Adressaten abhängt. Mit der Vorhersehbarkeit des Gesetzes ist es nicht unvereinbar, dass die betreffende Person gezwungen ist, fachkundigen Rat einzuholen, um unter den Umständen des konkreten Falles angemessen zu beurteilen, welche Folgen sich aus einer bestimmten Handlung ergeben können. Das gilt insbesondere für die in Ausübung ihres Berufs tätigen Personen, die gewohnt sind, sich bei der Ausübung ihrer Tätigkeit sehr umsichtig verhalten zu müssen. Daher kann von ihnen erwartet werden, dass sie die Risiken, die eine solche Tätigkeit mit sich bringt, besonders sorgfältig beurteilen (Urteil vom 5. Mai 2022, BV, C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Im Licht der vorstehenden Erwägungen sind die in der zweiten Frage genannten Begriffe zu prüfen.

47      Erstens wird der Begriff „Gestaltung“ in Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der geänderten Richtlinie 2011/16 nicht gesondert definiert. Er wird in dieser Richtlinie entweder allein oder zusammen mit anderen Worten („grenzüberschreitende Gestaltung“, „meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung“, „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“) verwendet. Der Begriff „Gestaltung“ wird auch in Anhang IV in Wendungen wie „Gestaltung, die sich so auswirkt, dass Einkünfte in Vermögen, Schenkungen oder andere niedriger besteuerte oder steuerbefreite Arten von Einkünften umgewandelt werden“, „Gestaltung, die zirkuläre Transaktionen nutzt“, oder „Gestaltung, bei der der Intermediär Anspruch auf eine Vergütung … für die Gestaltung hat und diese Vergütung in Bezug auf [den Betrag des aufgrund der Gestaltung erlangten Steuervorteils] festgesetzt wird“. Schließlich kann es sich nach Art. 3 Nr. 18 der Richtlinie bei einer „Gestaltung“ auch um eine Reihe von Gestaltungen handeln, und sie kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen.

48      Darüber hinaus wird im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 ausgeführt: „Für die Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, da die Steuerplanungsstrukturen immer ausgefeilter werden und sich häufig die höhere Mobilität von Kapital und Personen im Binnenmarkt zunutze machen. Derartige Strukturen umfassen häufig Gestaltungen, die für mehrere Hoheitsgebiete gemeinsam entwickelt werden und durch die steuerpflichtige Gewinne in Staaten mit vorteilhafteren Steuersystemen verlagert werden oder die eine Verringerung der Gesamtsteuerbelastung der Steuerpflichtigen bewirken.“

49      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Begriff „Gestaltung“ in seiner üblichen Bedeutung als Mechanismus, Vorgang, Struktur oder Kniff zu verstehen ist und im Kontext der geänderten Richtlinie 2011/16 die Durchführung einer Steuerplanung zum Gegenstand hat. In Anbetracht der großen Vielfalt und Ausgefeiltheit möglicher Steuerplanungsstrukturen, auf die im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 hingewiesen wird, kann, wie im Wesentlichen in Art. 3 Nr. 18 in fine der geänderten Richtlinie 2011/16 dargelegt wird, nicht ausgeschlossen werden, dass eine Gestaltung ihrerseits aus mehreren Gestaltungen besteht. Dies kann bei einer Gestaltung der Fall sein, mit der u. a. in verschiedenen Mitgliedstaaten oder nach einem gestaffelten Zeitplan gesonderte rechtliche und steuerliche Mechanismen koordiniert umgesetzt werden, die nicht nur Schritte oder Teile dieser Gestaltung sind, sondern mit denen bereits individuell und getrennt voneinander die Verwirklichung von Steuerplanungen und in Verbindung miteinander die Verwirklichung einer Gesamtsteuerplanung verfolgt werden.

50      Hinzuzufügen ist, dass die Berücksichtigung der Steuerplanungspraktiken durch den allgemeinen Begriff „Gestaltung“ eine gängige Vorgehensweise ist; dies spiegeln u. a. die Model Mandatory Disclosure Rules for CRS Avoidance Arrangements and Opaque Offshore Structures (Mustervorschriften für verbindliche Offenlegungsregeln für die Bekämpfung von Gestaltungen zur Umgehung des gemeinsamen Meldestandards und von undurchsichtigen Offshore-Strukturen) der OECD von 2018 (im Folgenden: OECD-Mustervorschriften) wider, die gestützt auf die im Bericht über den Aktionspunkt 12 des BEPS-Projekts empfohlene bewährte Praxis erarbeitet und vom Unionsgesetzgeber am Ende des vierten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2018/822 angesprochen wurden. In Nr. 23 der in den OECD-Mustervorschriften enthaltenen Kommentare heißt es, dass der Begriff „Gestaltung“ integraler Bestandteil der Definition der „Gestaltungen zur Umgehung des gemeinsamen Meldestandards“ ist und dass diese Definition weit und umfassend genug sein soll, um alle Vereinbarungen, Vorhaben oder Pläne zu erfassen sowie alle Schritte und Transaktionen, die Teil der Gestaltung sind oder sie umsetzen.

51      Der OBFG trägt vor, da die Meldepflicht für jede „meldepflichtige Gestaltung“ gelte, sei der Umstand, dass eine solche Gestaltung aus einer Reihe von Gestaltungen bestehen könne, geeignet, Unsicherheit über den Umfang der zu beachtenden konkreten Meldepflichten auszulösen.

52      Insoweit geht aus Art. 8ab der geänderten Richtlinie 2011/16 hervor, dass die Meldepflicht grundsätzlich für jede „meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung“ gilt, d. h. nach Art. 3 Nr. 19 der Richtlinie für jede grenzüberschreitende Gestaltung, die mindestens eines der in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen umfasst; diese deuten nach Art. 3 Nr. 20 der Richtlinie auf ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung hin. In diesem Kontext gilt nur dann, wenn und soweit eine Gestaltung ihrerseits aus Mechanismen besteht, die nicht nur Schritte oder Teile der Gestaltung darstellen, sondern bereits individuell und getrennt voneinander die Verwirklichung von Steuerplanungen verfolgen und bereits „meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen“ darstellen, d. h. aus Gestaltungen, von denen jede individuell und isoliert ein „potenzielles Risiko der Steuervermeidung“ mit sich bringt, die Meldepflicht für jede dieser Gestaltungen und darüber hinaus zu gegebener Zeit für die von ihnen gebildete Gesamtgestaltung. Besteht eine „meldepflichtige Gestaltung“ aus Mechanismen, die diese Merkmale nicht aufweisen, besteht die Meldepflicht hingegen nur für diese Gestaltung und entsteht erst dann, wenn die Gestaltung eine der in Art. 8ab Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehenen zeitlichen Voraussetzungen erfüllt.

53      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und im Licht der oben in den Rn. 36 bis 45 angeführten Rechtsprechung erscheint der Begriff „Gestaltung“ hinsichtlich der Anforderungen, die sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ergeben, hinreichend klar und bestimmt.

54      Zweitens werden die Begriffe „grenzüberschreitende Gestaltung“, „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“ in Art. 3 Nrn. 18, 24 und 25 der geänderten Richtlinie 2011/16 definiert.

55      Für die Einstufung als „grenzüberschreitende Gestaltung“ sind nach Art. 3 Nr. 18 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Wesentlichen die steuerliche Ansässigkeit des oder der an einer solchen Gestaltung Beteiligten, der Ort, an dem sie eine Geschäftstätigkeit ausüben, die möglichen Auswirkungen der Gestaltung auf den automatischen Informationsaustausch oder die Identifizierung ihrer wirtschaftlichen Eigentümer maßgebend.

56      Zunächst ist zu den Begriffen „steuerliche Ansässigkeit“ und „Ort, an dem sie eine Geschäftstätigkeit ausüben“, festzustellen, dass sie keine besondere Verständnisschwierigkeit aufwerfen.

57      Sodann ist der Begriff „an der Gestaltung Beteiligter“, auch wenn er in der geänderten Richtlinie 2011/16 nicht eigens definiert wird, gleichwohl ohne Weiteres so zu verstehen, dass darunter der „relevante Steuerpflichtige“ im Sinne von Art. 3 Nr. 22 der Richtlinie fällt, a priori aber nicht der „Intermediär“ im Sinne von Art. 3 Nr. 21 der Richtlinie, unbeschadet der Möglichkeit, dass der Intermediär nicht nur die in Nr. 21 genannten Transaktionen vornimmt, sondern auch als relevanter Steuerpflichtiger aktiv an der Gestaltung beteiligt ist.

58      Schließlich wird die Beurteilung der möglichen „Auswirkungen auf den automatischen Informationsaustausch oder die Identifizierung der wirtschaftlichen Eigentümer“ einer Gestaltung in Anhang IV hinreichend erläutert, da dort in Kategorie D die spezifischen Kennzeichen hinsichtlich des automatischen Informationsaustauschs und der wirtschaftlichen Eigentümer aufgeführt sind. Kategorie D enthält in den Nrn. 1 und 2 Listen verschiedener Organisations- oder Funktionsmodalitäten, aufgrund deren eine Gestaltung zu einer Aushöhlung der Meldepflicht oder, durch den Rückgriff auf intransparente Eigentümerketten, zu einer Verschleierung der Identität der wirtschaftlichen Eigentümer, die von diesen Organisations- oder Funktionsmodalitäten profitieren, führen kann.

59      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Begriff „grenzüberschreitende Gestaltung“ in seinen verschiedenen Aspekten bei der Prüfung der Bestimmungen der geänderten Richtlinie 2011/16 unter Berücksichtigung der oben in den Rn. 36 bis 45 angeführten Rechtsprechung hinsichtlich der Anforderungen, die sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ergeben, hinreichend klar und bestimmt erscheint.

60      Gleiches gilt für die – einander ausschließenden – Begriffe „marktfähige Gestaltung“ und „maßgeschneiderte Gestaltung“, wobei mit Ersterem eine grenzüberschreitende Gestaltung bezeichnet wird, die konzipiert wird, vermarktet wird, umsetzungsbereit ist oder zur Umsetzung bereitgestellt wird, ohne dass sie individuell angepasst werden muss, während Letzterer als jede grenzüberschreitende Gestaltung definiert wird, bei der es sich nicht um eine marktfähige Gestaltung handelt. Insbesondere wird nämlich das Merkmal des fehlenden individuellen Anpassungsbedarfs durch das Kennzeichen A.3 des Anhangs IV dergestalt erläutert, dass es bei einer Gestaltung vorliegt, deren Dokumentation und/oder Struktur im Wesentlichen standardisiert ist und für mehr als einen relevanten Steuerpflichtigen verfügbar ist, ohne dass sie für die Umsetzung wesentlich individuell angepasst werden muss.

61      Drittens wird der Begriff „Intermediär“ in Art. 3 Nr. 21 der geänderten Richtlinie 2011/16 so definiert, dass er jede Person bezeichnet, „die eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung konzipiert, vermarktet, organisiert oder zur Umsetzung bereitstellt oder die die Umsetzung einer solchen Gestaltung verwaltet“ (Abs. 1), aber auch „jede Person, die – unter Berücksichtigung der relevanten Fakten und Umstände und auf der Grundlage der verfügbaren Informationen sowie des einschlägigen Fachwissens und Verständnisses, die für die Erbringung solcher Dienstleistungen erforderlich sind – weiß oder vernünftigerweise wissen müsste, dass sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung im Hinblick auf Konzeption, Vermarktung, Organisation, Bereitstellung zur Umsetzung oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung geleistet hat“ (Abs. 2).

62      Weiter heißt es in Art. 3 Nr. 21, dass eine Person, damit sie als Intermediär fungieren kann, mindestens eine der folgenden vier zusätzlichen, eine Verbindung zum Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten herstellenden Voraussetzungen erfüllen muss: Sie ist in einem Mitgliedstaat steuerlich ansässig, hat eine Betriebsstätte in einem Mitgliedstaat, durch die die Dienstleistungen im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Gestaltung erbracht werden, ist nach dem Recht eines Mitgliedstaats eingetragen oder unterliegt dem Recht eines Mitgliedstaats oder ist in einem Mitgliedstaat Mitglied in einer Organisation für juristische, steuerliche oder beratende Dienstleistungen.

63      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass sich die Zweifel des vorlegenden Gerichts vor allem darauf beziehen, dass der Begriff „Intermediär“ nach Art. 3 Nr. 21 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 Personen erfasst, die der Sache nach nur „Auxiliarintermediäre“ oder, nach der Terminologie in den OECD-Mustervorschriften, „Dienstleistungserbringer“ sind, da sie nur „Hilfe, Unterstützung oder Beratung“ leisten (im Folgenden: Auxiliarintermediäre), während die in Art. 3 Nr. 21 Abs. 1 der Richtlinie genannten Personen die grenzüberschreitende Gestaltung konzipieren, vermarkten, organisieren, zur Umsetzung bereitstellen oder ihre Umsetzung verwalten (im Folgenden: Hauptintermediäre) und in den Mustervorschriften als „Promoter“ der Gestaltung bezeichnet werden.

64      In diesem Kontext ist aber festzustellen, dass der Formulierung, die in Art. 3 Nr. 21 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 nach seinem oben in Rn. 61 wiedergegebenen Inhalt enthalten ist, in Anbetracht der oben in den Rn. 36 bis 45 angeführten Rechtsprechung nicht die erforderliche Bestimmtheit fehlt, damit die betreffenden Wirtschaftsteilnehmer erkennen können, ob sie zur Kategorie der meldepflichtigen Personen gehören. Dies gilt insbesondere für die insoweit zentrale Wendung, dass die Person „unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung“ leistet.

65      Viertens wird der Begriff „verbundenes Unternehmen“ in Art. 3 Nr. 23 der geänderten Richtlinie 2011/16 definiert, der vorsieht, dass ein solches Unternehmen für die Zwecke von Art. 8ab der Richtlinie eine Person ist, die mit einer anderen Person auf eine der verschiedenen in Art. 3 Nr. 23 aufgeführten Arten verbunden ist, sofern sie unter bestimmten Modalitäten und Bedingungen an der Geschäftsleitung, der Kontrolle, dem Kapital oder den Gewinnen der anderen Person beteiligt ist. Diese Bestimmung sieht ferner u. a. vor, dass im Fall einer gemeinsamen Beteiligung mehrerer Personen an der Geschäftsleitung, der Kontrolle, dem Kapital oder den Gewinnen einer oder mehrerer anderer Personen alle beteiligten Personen als verbundene Unternehmen gelten. Sie regelt außerdem die Modalitäten für die Berücksichtigung mittelbarer Beteiligungen und stellt klar, dass eine natürliche Person, ihr Ehepartner und ihre Verwandten in aufsteigender oder absteigender gerader Linie als eine einzige Person behandelt werden.

66      In Anbetracht der oben in den Rn. 36 bis 45 angeführten Rechtsprechung genügt eine solche Vorschrift, auch wenn sie weit gefasst ist, offensichtlich den Erfordernissen der Klarheit und Bestimmtheit, die sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ergeben. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Ausführungen des OBFG in seinen Erklärungen zu dieser Definition weniger auf einen etwaigen Mangel an Klarheit dieser Vorschrift beziehen als auf ihren Umfang.

67      Fünftens heißt es in Bezug auf die in Anhang IV der geänderten Richtlinie 2011/16 aufgeführten Kennzeichen im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 im Wesentlichen, dass es angesichts dessen, dass die aggressive Steuerplanung immer komplexer geworden ist und ständig an die Gegenmaßnahmen der Steuerbehörden angepasst wird, wirksamer ist, potenziell aggressive Steuerplanungsgestaltungen durch die Zusammenstellung einer Liste von Merkmalen und Elementen, die „Kennzeichen“ dieser Gestaltungen darstellen, zu erfassen, statt den Begriff der aggressiven Steuerplanung zu definieren.

68      In Art. 3 Nr. 20 der geänderten Richtlinie 2011/16 wird „Kennzeichen“ definiert als „ein Merkmal oder eine Eigenschaft einer grenzüberschreitenden Gestaltung gemäß Anhang IV, das bzw. die auf ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung hindeutet“.

69      Die in Anhang IV definierten Kennzeichen sind in verschiedene Kategorien unterteilt, und zwar „Allgemeine Kennzeichen in Verbindung mit dem ‚Main benefit‘-Test“ (Kategorie A) und „Spezifische Kennzeichen“, erstens in Verbindung mit dem „‚Main benefit‘-Test“ (Kategorie B), zweitens im Zusammenhang mit „grenzüberschreitenden Transaktionen“ (Kategorie C), drittens hinsichtlich des „automatischen Informationsaustauschs und der wirtschaftlichen Eigentümer“ (Kategorie D) und viertens hinsichtlich der „Verrechnungspreisgestaltung“ (Kategorie E).

70      Während bei bestimmten Kennzeichen die Tatsache, dass eine grenzüberschreitende Gestaltung sie aufweist, als Nachweis dafür genügt, dass diese Gestaltung ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung aufweist, können andere, und zwar die der Kategorien A und B sowie der Kategorie C Abs. 1 Buchst. b Ziff. i, Buchst. c und Buchst. d, nur berücksichtigt werden, wenn sie das in Teil I von Anhang IV definierte Kriterium des „Main benefit“-Tests erfüllen. Dieser Test ist erfüllt, wenn „festgestellt werden kann, dass der Hauptvorteil oder einer der Hauptvorteile, den eine Person unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände vernünftigerweise von einer Gestaltung erwarten kann, die Erlangung eines Steuervorteils ist“.

71      Die in Anhang IV definierten Kennzeichen beziehen sich auf spezifische und konkrete Merkmale von Steuergestaltungen, die Intermediäre im Sinne der geänderten Richtlinie 2011/16, die in der Regel Steuerfachleute sind, oder – in Ermangelung eines Intermediärs – Steuerpflichtige, die selbst grenzüberschreitende Steuerplanungsgestaltungen konzipieren, ohne übermäßige Schwierigkeiten ermitteln können.

72      Außerdem können die in Anhang IV enthaltenen Definitionen der Kennzeichen mit den detaillierten Analysen im Bericht über den Aktionspunkt 12 des BEPS-Projekts und in der Folgenabschätzung verknüpft werden.

73      Überdies implizieren zwar, wie der Generalanwalt in Nr. 88 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Vielfalt und die Tragweite der Kennzeichen, dass sie eine heterogene Gesamtheit von Gestaltungen abdecken, doch ist dieser Umstand nicht geeignet, die Anwendung der Meldepflicht für die ihr unterliegenden Personen unvorhersehbar werden zu lassen.

74      Zum Vorbringen des OBFG, das Kriterium des Hauptvorteils stelle ein subjektives Kriterium dar, ist festzustellen, dass es auf den Vorteil Bezug nimmt, „den eine Person unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände vernünftigerweise von einer Gestaltung erwarten kann“. Es dürfte für einen Intermediär – und in Ermangelung eines meldepflichtigen Intermediärs für den relevanten Steuerpflichtigen – nicht besonders schwierig sein, sich dazu zu äußern, ob der Hauptvorteil oder einer der Hauptvorteile, der vernünftigerweise von der von ihnen konzipierten und/oder genutzten Gestaltung erwartet werden kann, steuerlicher Natur ist. Hierzu heißt es im Bericht über den Aktionspunkt 12 des BEPS-Projekts, dass bei dem Kriterium des Hauptsteuervorteils die Höhe des erwarteten Steuervorteils mit allen übrigen Vorteilen verglichen wird, die sich aus der Gestaltung ergeben können, was den Vorzug hat, sich auf eine objektive Bewertung der Steuervorteile zu stützen.

75      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und im Licht der oben in den Rn. 36 bis 45 angeführten Rechtsprechung erscheinen die in Anhang IV definierten Kennzeichen hinsichtlich der Anforderungen, die sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ergeben, hinreichend klar und bestimmt.

76      Sechstens beginnt nach Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 die Frist von 30 Tagen für die Erfüllung der Meldepflicht durch die Intermediäre an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird, oder an dem Tag, nach dem diese Gestaltung umsetzungsbereit ist, oder wenn der erste Schritt zur Umsetzung dieser Gestaltung gemacht wurde, je nachdem, was früher eintritt.

77      Ferner bestimmt Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie: „Ungeachtet des Unterabsatzes 1 sind auch die in Artikel 3 Nummer 21 Absatz 2 genannten Intermediäre zur Vorlage der Informationen innerhalb von 30 Tagen, beginnend an dem Tag, nach dem sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung geleistet haben, verpflichtet.“

78      Schließlich bestimmt Art. 8ab Abs. 7 der Richtlinie für den Fall, dass die Meldepflicht in Ermangelung eines meldepflichtigen Intermediärs dem relevanten Steuerpflichtigen obliegt, im Wesentlichen und mit ähnlichen Worten wie bei den Hauptintermediären, dass die Frist von 30 Tagen an dem Tag beginnt, nach dem die Gestaltung dem relevanten Steuerpflichtigen zur Umsetzung bereitgestellt wird oder zur Umsetzung durch ihn bereit ist oder wenn der erste Schritt zu ihrer Umsetzung im Zusammenhang mit dem Steuerpflichtigen gemacht wurde, je nachdem, was früher eintritt.

79      Der Grundgedanke der geänderten Richtlinie 2011/16 und der durch sie auferlegten Meldepflicht implizieren, den Zeitpunkt festzulegen, zu dem diese Pflicht entsteht. Wie sich aus den oben in den Rn. 76 bis 78 erwähnten Bestimmungen ergibt, handelt es sich bei der Umsetzung der meldepflichtigen Gestaltung oder der Leistung von Hilfe, Unterstützung oder Beratung um die vom Unionsgesetzgeber insoweit gewählten Gegebenheiten.

80      Zum einen bezeichnet die Wendung „Bereitstellung der grenzüberschreitenden Gestaltung zur Umsetzung“, wie der Generalanwalt in Nr. 107 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und wie der gewöhnliche Sprachgebrauch nahelegt, den Übergang von der Konzeptphase der Gestaltung zu ihrer operationellen Phase. Dieser Begriff kann nicht als unbestimmt oder unklar für den oder die Intermediäre im Sinne von Art. 3 Nr. 21 Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 bzw., in Ermangelung eines Intermediärs, für den relevanten Steuerpflichtigen angesehen werden. Denn die Intermediäre bzw., in Ermangelung eines Intermediärs, der relevante Steuerpflichtige kennen die fragliche Gestaltung und sind daher in der Lage, den Zeitpunkt, zu dem ein solcher Übergang erfolgt, genau zu bestimmen.

81      Zum anderen ist hinsichtlich der für die in Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 genannten Intermediäre, bei denen es sich um Intermediäre im Sinne ihres Art. 3 Nr. 21 Abs. 2 handelt, geltenden Bezugnahme auf die Leistung von Hilfe, Unterstützung oder Beratung festzustellen, dass sich diese Leistung über einen gewissen Zeitraum erstrecken kann.

82      In Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 2 wird allerdings nicht klargestellt, ob die den Intermediären zur Verfügung stehende Meldefrist am Tag nach dem ersten oder dem letzten Tag des Zeitraums beginnt, in dem Hilfe, Unterstützung oder Beratung geleistet wird.

83      Außerdem ist hervorzuheben, dass die Meldepflicht der Intermediäre im Sinne von Art. 3 Nr. 21 Abs. 2 der Richtlinie logischerweise erst dann bestehen kann, wenn die betreffende Person weiß oder vernünftigerweise wissen müsste, dass sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung im Hinblick auf Konzeption, Vermarktung oder Organisation einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung geleistet hat und somit ein der Meldepflicht unterliegender „Intermediär“ ist. Dieser Zeitpunkt kann gegebenenfalls, je nach den Informationen, die dieser Person über die genaue Art der fraglichen Gestaltung zur Verfügung stehen, nach dem Beginn der Hilfe, Unterstützung oder Beratung durch sie liegen. In Anbetracht insbesondere dieses Umstands heißt es in Art. 3 Nr. 21 Abs. 2 der Richtlinie, dass die betreffende Person das Recht hat, Beweise zu erbringen, wonach sie nicht wusste oder vernünftigerweise nicht wissen konnte, dass sie an einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt war.

84      Schließlich ist, wie der Generalanwalt in Nr. 109 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und wie sich aus dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 ergibt, davon auszugehen, dass die frühzeitige (d. h. vor der Umsetzung der Gestaltung erfolgende) Vorlage von Informationen bei der Steuerverwaltung vorzugswürdig ist. Gleichwohl ist, wie der Generalanwalt in Nr. 112 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, die Gefahr möglichst gering zu halten, dass Meldepflichten in Bezug auf Gestaltungen zu erfüllen sind, deren Umsetzung ungewiss bleibt, was insbesondere bei Auxiliarintermediären der Fall sein könnte, bei denen es, da sie nicht so unmittelbar involviert sind wie die Hauptintermediäre, weniger wahrscheinlich ist, dass sie genau über den Stand der Umsetzung der betreffenden Gestaltung informiert sind.

85      Unter diesen Umständen ist sowohl aus der Verwendung einer Vergangenheitsform in Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 2 der geänderten Richtlinie 2011/16 („geleistet haben“) als auch aus der für die Hauptintermediäre geltenden Regel, wonach die Meldefrist nicht schon ab dem Beginn ihrer Beteiligung an der Konzipierung der Gestaltung läuft, sondern erst im Stadium ihrer Umsetzung, abzuleiten, dass die Meldefrist für Auxiliarintermediäre erst an dem Tag beginnen kann, nach dem sie ihre Hilfe, Unterstützung oder Beratung beendet haben, und spätestens an dem in Art. 8ab Abs. 1 Unterabs. 1 festgelegten Tag, ihre Kenntnis vorausgesetzt. Hinzuzufügen ist, dass diese Erwägungen ihre Möglichkeit unberührt lassen, ihrer Meldepflicht, wenn sie dies wünschen, nachzukommen, bevor die hierfür geltende Frist von 30 Tagen zu laufen beginnt, also etwa schon zu Beginn ihrer Hilfe, Unterstützung oder Beratung.

86      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und im Licht der oben in den Rn. 36 bis 45 angeführten Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass der Beginn der Meldefrist für die verschiedenen von der geänderten Richtlinie 2011/16 erfassten Kategorien von Intermediären sowie für den relevanten Steuerpflichtigen, wenn ihm die Meldepflicht obliegt, in einer hinsichtlich der Anforderungen, die sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen ergeben, hinreichend klaren und bestimmten Weise festgelegt ist.

87      Unter diesen Umständen stellt die Prüfung der zweiten und der dritten Frage die Gültigkeit der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen nicht in Frage.

88      Hinsichtlich der Beachtung von Art. 7 der Charta geht es bei der zweiten und der dritten Frage im Wesentlichen darum, ob die darin angesprochenen Begriffe und Fristen unabhängig von der Frage der Wahrung des Berufsgeheimnisses hinreichend genau sind, um sicherzustellen, dass der mit der Meldepflicht verbundene Eingriff in das Privatleben des Intermediärs und des relevanten Steuerpflichtigen im Hinblick auf die Informationen, die diese Meldung enthalten muss, seinerseits hinreichend genau bestimmt wird.

89      Da, wie der Generalanwalt in Nr. 123 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Art. 7 der Charta hinsichtlich des Erfordernisses der Klarheit und Genauigkeit der verwendeten Begriffe und der festgelegten Fristen keine strengere Verpflichtung als ihr Art. 49 aufstellt, ist davon auszugehen, dass der mit der Meldepflicht verbundene Eingriff in das Privatleben des Intermediärs und des relevanten Steuerpflichtigen im Hinblick auf die Informationen, die diese Meldung enthalten muss, seinerseits hinreichend genau bestimmt wird. Diese Erwägung gilt jedoch unbeschadet der Prüfung, ob der Eingriff nicht über das hinausgeht, was zur Wahrung der mit der geänderten Richtlinie 2011/16 verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Ziele erforderlich ist; dies ist Gegenstand der fünften Vorlagefrage.

90      Nach alledem hat die Prüfung der Aspekte, auf die sich die zweite und die dritte Vorlagefrage beziehen, nichts ergeben, was die Gültigkeit der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht des Grundsatzes der Rechtssicherheit, des in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankerten Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen und des durch Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens berühren könnte.

 Zur vierten Vorlagefrage

91      Die vierte Frage betrifft die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Unterrichtungspflicht und ähnelt der in Bezug auf Rechtsanwälte in der Rechtssache, in der das Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963), ergangen ist, gestellten Frage. Im vorliegenden Fall betrifft sie Intermediäre, für die, ohne dass sie Rechtsanwälte sind, nach nationalem Recht eine Verschwiegenheitspflicht besteht.

 Vorbemerkungen zur Tragweite von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16

92      Vor der Prüfung dieser Frage ist auf die in der mündlichen Verhandlung wiederholten Erklärungen der Kommission einzugehen, wonach die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Möglichkeit der Mitgliedstaaten, die Meldepflicht durch die Unterrichtungspflicht zu ersetzen, nicht für alle Berufsangehörigen eingeführt worden sei, für die nach nationalem Recht eine Verschwiegenheitspflicht bestehe, sondern nur für diejenigen unter ihnen, die Rechtsanwälten gleichzustellen seien, da sie nach nationalem Recht befugt seien, Parteien vor Gericht zu vertreten. Die Kommission hat hinzugefügt, angesichts der Vielfalt der nationalen Rechtssysteme habe der Unionsgesetzgeber die Bestimmung dieser Berufsangehörigen in das Ermessen jedes Mitgliedstaats stellen wollen.

93      In seinen schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung hat auch der Rat der Europäischen Union die Auffassung vertreten, dass es in Bezug auf die Verschwiegenheitspflicht nicht gerechtfertigt sei, den Intermediären, die keine Rechtsanwälte seien, den gleichen Schutz wie Rechtsanwälten zu gewähren. Insoweit hat er im Wesentlichen geltend gemacht, dass die in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Möglichkeit, die Meldepflicht durch die Unterrichtungspflicht zu ersetzen, den Mitgliedstaaten nur eingeräumt worden sei, damit sie den Anforderungen nachkommen könnten, die sich aus der Charta sowie der Rechtsprechung des EGMR und des Gerichtshofs ergäben.

94      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur deren Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 20. Oktober 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückführung eines Opfers des Menschenhandels], C‑66/21, EU:C:2022:809, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

95      Zum Wortlaut von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 ist festzustellen, dass die Sprachfassungen dieser Bestimmung voneinander abweichen. In der englischen Sprachfassung wird der Ausdruck „legal professional privilege“ verwendet, der im Kontext des Unionsrechts, wie die Kommission geltend macht, als Bezugnahme auf das Berufsgeheimnis des Rechtsanwalts und Angehöriger anderer Berufe anzusehen ist, die ihm gleichzustellen sind, da sie nach dem anwendbaren nationalen Recht zur rechtlichen Vertretung eines Mandanten vor den nationalen Gerichten befugt sind. Zwei Sprachfassungen, und zwar die maltesische und die rumänische, enthalten eine wörtliche Übersetzung dieses englischen Ausdrucks (privileġġ professjonali legali und privilegiu profesional legal). In der griechischen Fassung wird ausdrücklich auf das „Berufsgeheimnis des Rechtsanwalts nach nationalem Recht“ (το δικηγορικό απόρρητο βάσει της εθνικής νομοθεσίας) Bezug genommen. Dagegen enthalten die übrigen achtzehn Sprachfassungen Ausdrücke, die im Wesentlichen auf das nach nationalem Recht bestehende Berufsgeheimnis verweisen, ohne Bezugnahme auf das anwaltliche Berufsgeheimnis. Diese anderen Sprachfassungen können daher Berufe (wie Steuerberater, Notar, Wirtschaftsprüfer, Buchprüfer oder Bankier) erfassen, die nach nationalem Recht einem Berufsgeheimnis unterliegen, aber a priori nicht zur Vertretung vor Gericht befugt sind.

96      Der achte, die Einfügung von Art. 8ab Abs. 5 in die Richtlinie 2011/16 betreffende Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 weist in seinen 22 Sprachfassungen die gleichen terminologischen Unterschiede sowie folgende zusätzliche Besonderheiten auf. In der griechischen Sprachfassung dieses Erwägungsgrundes (το επαγγελματικό απόρρητο) wird auf das Berufsgeheimnis im Allgemeinen Bezug genommen, ohne dass – wie in der griechischen Fassung von Art. 8ab Abs. 5 – das anwaltliche Berufsgeheimnis erwähnt wird. Umgekehrt nimmt die dänische Fassung dieses Erwägungsgrundes Bezug auf den Rechtsanwalt und sieht vor, dass die Meldepflicht im Fall der „Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten oder einer ähnlichen gesetzlichen Verpflichtung“ („på grund af fortroligheden af korrespondance mellem advokat og klient, eller en tilsvarende lovbaseret tavshedspligt“) nicht auferlegt werden darf, während in der dänischen Fassung von Art. 8ab Abs. 5 Rechtsanwälte nicht erwähnt werden.

97      Daraus ergibt sich, dass die Auslegung des Wortlauts von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 es nicht erlaubt, klar und eindeutig zu bestimmen, welche Tragweite die den Mitgliedstaaten durch die geänderte Richtlinie 2011/16 eingeräumte Befugnis, die Meldepflicht durch die Unterrichtungspflicht zu ersetzen, hinsichtlich der möglicherweise betroffenen Berufe hat.

98      Zum Kontext und zu den mit der geänderten Richtlinie 2011/16 verfolgten Zielen ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2018/822, wie sich aus ihrem zweiten Erwägungsgrund ergibt, es den Mitgliedstaaten ermöglichen soll, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen wirksam gegen die Aushöhlung zu schützen, die ihnen aufgrund der Schaffung immer ausgefeilterer Steuerplanungsstrukturen durch Steuerpflichtige droht. Aus diesem Erwägungsgrund geht ferner hervor, dass die Mitgliedstaaten, um einen solchen wirksamen Schutz zu ermöglichen, umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen erhalten müssen, damit sie zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorgehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen schließen können. Überdies soll die Richtlinie, wie aus ihren Erwägungsgründen 4 und 8 hervorgeht, durch die Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung im Binnenmarkt dessen reibungsloses Funktionieren gewährleisten. Zur Verwirklichung jedes dieser Ziele hat der Unionsgesetzgeber, wie sich aus den Erwägungsgründen 6 bis 8 der Richtlinie ergibt, die verpflichtende Offenlegung von Informationen zu potenziell aggressiven Steuerplanungsgestaltungen mittels Meldepflichten der Intermediäre für unabdingbar erachtet.

99      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 202 bis 204 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, hätte eine Auslegung von Art. 8ab der geänderten Richtlinie 2011/16, wonach er es den Mitgliedstaaten gestattet, alle Intermediäre, u. a. Steuerberater, Notare, Wirtschaftsprüfer, Buchprüfer oder Bankiers, von der Meldepflicht zu befreien, sofern für sie nach dem einschlägigen nationalen Recht eine Verschwiegenheitspflicht besteht, potenziell zur Folge, dass der Weg zu einer Infragestellung der Wirksamkeit des vom Unionsgesetzgeber geschaffenen Meldesystems offenstünde.

100    Zweitens ist der Kommission und den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 206 seiner Schlussanträge beizupflichten, dass die geänderte Richtlinie 2011/16 und insbesondere die in ihrem Art. 8ab vorgesehene Melde- und Unterrichtungspflicht eng mit OECD-Dokumenten und insbesondere mit der Vorschrift 2.4 der OECD-Mustervorschriften verbunden sind.

101    Diese Vorschrift („Umstände, unter denen ein Intermediär von der Meldepflicht befreit ist“) bestimmt, dass die Befreiung von der Meldepflicht aufgrund von innerstaatlichen Vorschriften über das Berufsgeheimnis nur gilt, „soweit durch die Meldung vertrauliche Informationen offenbart würden, die ein Rechtsanwalt oder ein anderer zugelassener Rechtsvertreter [‚attorney, solicitor or other admitted legal representative‘ in der englischen Sprachfassung] in Bezug auf einen Mandanten gemäß der Definition im Kommentar zu Art. 26 des OECD-Musterabkommens hat“.

102    Desgleichen heißt es in Nr. 80 von Teil III („Kommentar“) der OECD- Mustervorschriften: „Vorschriften über die Meldepflicht verpflichten einen Rechtsanwalt oder einen anderen zugelassenen Rechtsvertreter [‚attorney, solicitor or other admitted legal representative‘ in der englischen Sprachfassung] nicht zur Offenbarung von Informationen, die durch das Berufsgeheimnis oder gleichwertige berufliche Verschwiegenheitspflichten geschützt sind.“

103    Auch in Nr. 19.4 des Kommentars zu Art. 26 des OECD-Musterabkommens zur Beseitigung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen wird auf den Schutz vertraulicher Kommunikationen zwischen einem Mandanten und einem „Rechtsanwalt oder einem anderen zugelassenen Rechtsvertreter [‚attorney, solicitor or other admitted legal representative‘ in der englischen Sprachfassung]“ Bezug genommen.

104    Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Arbeiten, auf denen der Wortlaut der geänderten Richtlinie 2011/16 in Bezug auf die Meldepflicht und die Unterrichtungspflicht beruht, im Wesentlichen nur zum Schutz der Berufsgeheimnisse von Rechtsanwälten und anderer Berufsangehöriger dienten, die wie Erstere von Rechts wegen zur Vertretung vor Gericht befugt sind.

105    Drittens dürfte die Bezugnahme in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 auf die „nach dem nationalen Recht“ bestehende Verschwiegenheitspflicht damit zu erklären sein, dass der verstärkte Schutz der Kommunikation zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten auf Unionsebene zwar bereits aufgrund der Art. 7 und 47 der Charta gewährleistet ist, doch sind die Modalitäten dieses Schutzes und vor allem die Bedingungen und Grenzen, unter denen sich andere der Verschwiegenheitspflicht unterliegende Berufsangehörige gegebenenfalls auf einen vergleichbaren Schutz berufen können, im nationalen Recht geregelt. Insoweit geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass einige Mitgliedstaaten die Befugnis zur Vertretung vor Gericht auf andere Berufe als den des Rechtsanwalts ausdehnen.

106    Somit ist es zwar, wie in Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehen, gerechtfertigt, dass die Mitgliedstaaten in diesem Kontext über einen Spielraum bei der Ausübung ihrer Befugnis verfügen, die Meldepflicht durch die Unterrichtungspflicht zu ersetzen, damit sie andere von ihnen zur Vertretung vor Gericht ermächtigte Berufsgruppen als Rechtsanwälte berücksichtigen können; gleichwohl soll dieser Spielraum es den Mitgliedstaaten nicht ermöglichen, die mit dieser Ersetzung von Pflichten verbundene Vergünstigung auf Berufe auszudehnen, die nicht vor Gericht auftreten dürfen.

107    Hinzuzufügen ist, dass bei einer anderen Auslegung von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 und der Befugnis der Mitgliedstaaten, die Meldepflicht durch die Unterrichtungspflicht zu ersetzen, die Gefahr der Schaffung von Verzerrungen zwischen Mitgliedstaaten bestünde, da eine weite Ausübung dieser Befugnis in Form der Einbeziehung von Berufen, die einer Verschwiegenheitspflicht unterliegen, aber nicht vor Gericht auftreten, durch einige Mitgliedstaaten dazu führen könnte, dass potenziell aggressive Steuerplanungstätigkeiten in ihr Hoheitsgebiet verlagert und dadurch die Wirksamkeit und Einheitlichkeit der Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung im Binnenmarkt auf Unionsebene beeinträchtigt werden.

108    In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist davon auszugehen, dass die Befugnis der Mitgliedstaaten nach Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16, die Meldepflicht durch die Unterrichtungspflicht zu ersetzen, nur für Berufsangehörige besteht, die im nationalen Recht wie Rechtsanwälte zur Vertretung vor Gericht befugt sind.

109    Zu klären bleibt jedoch noch, ob – wie der Gerichtshof in Bezug auf das Verhältnis zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten bereits in seinem Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 19 in fine und 27), entschieden hat – schon die Existenz einer Beziehung zwischen einem zur Vertretung vor Gericht befugten Berufsangehörigen, der kein Rechtsanwalt ist, und seinem Kunden Dritten gegenüber geheim bleiben sollte, mit der Folge, dass es gar nicht in Betracht käme, einem solchen Berufsangehörigen die subsidiäre Meldepflicht aufzuerlegen, mit der die Offenbarung der Existenz einer Beziehung zwischen ihm und seinem Kunden gegenüber Dritten verbunden wäre.

110    Auf die letztgenannte Frage ist im Wesentlichen im Rahmen der Prüfung der vierten Vorlagefrage einzugehen.

 Prüfung der Frage

111    Mit der vierten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen, die Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht von Art. 7 der Charta zu prüfen, soweit die Anwendung von Art. 8ab Abs. 5 durch die Mitgliedstaaten zur Folge hat, dass ein Intermediär, der, obwohl kein Rechtsanwalt, zur Vertretung vor Gericht befugt ist, verpflichtet ist, sofern er aufgrund seiner Verschwiegenheitspflicht von der in Art. 8ab Abs. 1 der Richtlinie vorgesehenen Meldepflicht befreit ist, jeden anderen Intermediär, der nicht sein Kunde ist, unverzüglich über dessen Meldepflichten gemäß Art. 8ab Abs. 6 der Richtlinie zu unterrichten.

112    Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Charta, der jeder Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation zuerkennt, Art. 8 Abs. 1 EMRK entspricht (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 25).

113    Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta, der die notwendige Kohärenz zwischen den in ihr enthaltenen Rechten und den entsprechenden durch die EMRK garantierten Rechten gewährleisten soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts berührt wird, muss der Gerichtshof daher bei der Auslegung der durch Art. 7 der Charta garantierten Rechte die entsprechenden durch Art. 8 Abs. 1 EMRK garantierten Rechte in ihrer Auslegung durch den EGMR als Mindestschutzstandard berücksichtigen (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 26).

114    Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, ergibt sich aus der Rechtsprechung des EGMR, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK die Vertraulichkeit jeder Korrespondenz zwischen Privatpersonen schützt und dem Schriftwechsel zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten einen verstärkten Schutz zuweist (vgl. in diesem Sinne EGMR, 6. Dezember 2012, Michaud/Frankreich, CE:ECHR:2012:1206JUD001232311, §§ 117 und 118). Ebenso wie diese Bestimmung, deren Schutz nicht nur die Verteidigungstätigkeit, sondern auch die Rechtsberatung umfasst, garantiert Art. 7 der Charta notwendigerweise das Rechtsberatungsgeheimnis, und zwar im Hinblick sowohl auf den Inhalt als auch auf die Existenz der Beratung. Wie der EGMR ausgeführt hat, können nämlich Personen, die einen Rechtsanwalt konsultieren, vernünftigerweise erwarten, dass ihre Kommunikation privat und vertraulich bleibt (EGMR, 9. April 2019, Altay/Türkei [Nr. 2], CE:ECHR:2019:0409JUD001123609, § 49). Abgesehen von Ausnahmefällen ist es daher legitim, wenn diese Personen darauf vertrauen, dass ihr Anwalt ohne ihre Zustimmung niemandem offenlegen wird, dass sie ihn konsultieren (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 27).

115    Wie der Gerichtshof ferner entschieden hat, wird der durch Art. 7 der Charta und Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährte besondere Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses, der vor allem in anwaltlichen Pflichten zum Ausdruck kommt, dadurch gerechtfertigt, dass den Rechtsanwälten in einer demokratischen Gesellschaft eine grundlegende Aufgabe übertragen wird, nämlich die Verteidigung der Rechtsunterworfenen (EGMR, 6. Dezember 2012, Michaud/Frankreich, CE:ECHR:2012:1206JUD001232311, §§ 118 und 119). Diese grundlegende Aufgabe umfasst zum einen das in allen Mitgliedstaaten als bedeutsam anerkannte Erfordernis, dass es dem Einzelnen möglich sein muss, sich völlig frei an seinen Rechtsanwalt zu wenden, zu dessen Beruf schon dem Wesen nach die Aufgabe gehört, all denen unabhängig Rechtsberatung zu erteilen, die sie benötigen, und zum anderen die damit zusammenhängende Loyalität des Rechtsanwalts seinem Mandanten gegenüber (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 28).

116    Aus der oben in den Rn. 114 und 115 angeführten Rechtsprechung geht hervor, dass die Vertraulichkeit der Beziehung zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten einen ganz spezifischen Schutz genießt, der sich aus der singulären Stellung des Rechtsanwalts innerhalb der Gerichtsorganisation der Mitgliedstaaten sowie der ihm übertragenen grundlegenden Aufgabe ergibt, die von allen Mitgliedstaaten anerkannt wird. Aufgrund dieser Erwägungen hat der Gerichtshof im Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963), festgestellt, dass die dem Rechtsanwalt auferlegte Unterrichtungspflicht gegen Art. 7 der Charta verstößt.

117    Insoweit ist schließlich darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis, dass der Berater, von dem die zu schützende Kommunikation ausgeht, die Position und Eigenschaft eines unabhängigen Rechtsanwalts haben muss, auf einem Verständnis von der Rolle des Anwalts als eines Mitgestalters der Rechtspflege beruht, der in völliger Unabhängigkeit und in deren vorrangigem Interesse dem Mandanten die rechtliche Unterstützung zu gewähren hat, die dieser benötigt. Das Gegenstück zu diesem Schutz bilden die Berufs‑ und Standespflichten, die im allgemeinen Interesse festgelegt und kontrolliert werden. Ein solches Verständnis entspricht den gemeinsamen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten und hat auch in der Unionsrechtsordnung ihren Niederschlag gefunden, wie sich aus Art. 19 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ergibt (Urteil vom 14. September 2010, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission u. a., C‑550/07 P, EU:C:2010:512, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

118    Im Licht dieser Erwägungen und der singulären Stellung, die sie dem Beruf des Rechtsanwalts in der Gesellschaft im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuerkennen, ist davon auszugehen, dass sich die im Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963), in Bezug auf Rechtsanwälte entwickelte Lösung nur auf Personen erstrecken kann, die ihre beruflichen Tätigkeiten unter einer der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 98/5 aufgeführten Berufsbezeichnungen ausüben.

119    Bei anderen Berufsangehörigen, die zwar – wie z. B. Universitätsprofessoren in einigen Mitgliedstaaten – von den Mitgliedstaaten zur Vertretung vor Gericht ermächtigt worden sein mögen, aber nicht die oben genannten Merkmale aufweisen, lässt somit nichts den Schluss zu, dass Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 gemessen an Art. 7 der Charta ungültig ist, weil die von einem Mitgliedstaat anstelle der Meldepflicht vorgesehene Unterrichtungspflicht zur Folge hat, dass die auf einer Konsultation beruhende Beziehung zwischen dem unterrichtungspflichtigen Intermediär und seinem Kunden dem unterrichteten Intermediär und letztlich der Steuerverwaltung zur Kenntnis gebracht wird.

120    Unter diesen Umständen ist auf die vierte Frage zu antworten, dass die vom Gerichtshof im Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C‑694/20, EU:C:2022:963), festgestellte Ungültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht von Art. 7 der Charta nur für Personen gilt, die ihre beruflichen Tätigkeiten unter einer der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 98/5 aufgeführten Berufsbezeichnungen ausüben.

 Zur fünften Vorlagefrage

121    Mit dieser Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen, die Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens zu prüfen, soweit diese Bestimmungen bewirken, dass Intermediäre, die nicht in den Genuss der in Art. 8ab Abs. 5 genannten Befreiung kommen, und – in Ermangelung eines meldepflichtigen Intermediärs – der relevante Steuerpflichtige verpflichtet sind, die in Art. 8ab Abs. 1 vorgesehene Erklärung abzugeben.

122    Insoweit weist das vorlegende Gericht insbesondere darauf hin, dass die Meldepflicht grenzüberschreitende Gestaltungen betreffen könne, die rechtmäßig, authentisch und nicht missbräuchlich seien und deren Hauptvorteil nicht steuerlicher Art sei.

123    Somit geht die fünfte Frage dahin, ob sich aus der Pflicht zur Meldung einer Gestaltung, mit der in legaler und nicht missbräuchlicher Weise ein Steuervorteil angestrebt wird, ein Eingriff in das Recht auf Schutz des Privatlebens ergeben kann, da sie die Freiheit des Steuerpflichtigen, den Weg der geringsten steuerlichen Belastung zu wählen, sowie die Freiheit des Intermediärs, diesen Weg zu konzipieren und ihm anzuraten, einschränken würde.

124    Wie oben in den Rn. 112 und 113 ausgeführt, entspricht Art. 7 der Charta Art. 8 Abs. 1 EMRK, und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta berücksichtigt der Gerichtshof bei der Auslegung der durch ihren Art. 7 garantierten Rechte die entsprechenden durch Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR garantierten Rechte.

125    In diesem Kontext hat der Gerichtshof entschieden, dass Bestimmungen, die vorschreiben oder gestatten, dass personenbezogene Daten wie der Name, der Wohnsitz oder die finanziellen Mittel natürlicher Personen ohne deren Einwilligung einer Behörde übermittelt werden, unabhängig von der späteren Verwendung dieser Daten als Eingriff in ihr Privatleben und damit – unbeschadet einer etwaigen Rechtfertigung – als Einschränkung des durch Art. 7 der Charta garantierten Rechts einzustufen sind (Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 124).

126    Überdies geht aus der Rechtsprechung des EGMR hervor, dass der Begriff des Privatlebens ein weiter Begriff ist, der den Begriff der persönlichen Autonomie einschließt. Insbesondere hat der EGMR entschieden, dass Art. 8 EMRK „das Recht auf persönliche Entfaltung, sei es in Form der persönlichen Entwicklung oder der persönlichen Autonomie, [schützt,] das ein wichtiges, der Auslegung der Garantien von Art. 8 zugrunde liegendes Prinzip widerspiegelt“. Er hat ausgeführt, dass diese Bestimmung „das Recht jeder Person [umfasst], sich anderen zuzuwenden, um Beziehungen zu ihnen und zur Außenwelt zu knüpfen und auszubauen, d. h. das Recht auf ein ‚soziales Privatleben‘, was berufliche Tätigkeiten oder Tätigkeiten, die in einem öffentlichen Kontext stattfinden, einschließen kann“ (EGMR, 18. Januar 2018, FNASS u. a./Frankreich, CE:ECHR:2018:0118JUD004815111, § 153 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dabei hat er u. a. festgestellt, dass es im Prinzip keinen Grund dafür gibt, berufliche oder gewerbliche Tätigkeiten vom Begriff „Privatleben“ auszuschließen, und dass die Auslegung, wonach er solche Tätigkeiten erfasst, dem wesentlichen Ziel und Zweck von Art. 8 EMRK entspricht, den Einzelnen vor willkürlichen staatlichen Eingriffen zu schützen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 16. Dezember 1992, Niemietz/Deutschland, CE:ECHR:1992:1216JUD001371088, §§ 29 und 31).

127    Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Begriff des Privatlebens ein weiter Begriff ist und den Begriff der persönlichen Autonomie einschließt, der zumindest die Freiheit jeder Person umfasst, ihr Leben und ihre persönlichen, beruflichen oder geschäftlichen Tätigkeiten zu gestalten. Der Gerichtshof hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen ist, wonach der Eingriffsvorbehalt in Art. 8 Abs. 2 EMRK bei beruflichen oder geschäftlichen Tätigkeiten durchaus weiter gehen könnte als in anderen Fällen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Oktober 2002, Roquette Frères, C‑94/00, EU:C:2002:603, Rn. 29).

128    Im vorliegenden Fall ist hervorzuheben, dass die Freiheit der Wirtschaftsteilnehmer, ihre Tätigkeiten so zu gestalten, dass ihre Steuerlast begrenzt wird, u. a. im elften Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/1164 zum Ausdruck kommt, in dem es im Wesentlichen heißt, dass in der Union zwar die allgemeinen Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch auf unangemessene Gestaltungen angewendet werden sollten, anderenfalls der Steuerpflichtige aber das Recht haben sollte, die steuereffizienteste Struktur für seine geschäftlichen Angelegenheiten zu wählen. Zudem soll die in Rede stehende Meldung, wie sich aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 ergibt, es u. a. den Steuerverwaltungen und den nationalen Gesetzgebern ermöglichen, zeitnah auf Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsvorschriften oder auf Regelungslücken zu reagieren, die häufig dazu führen, dass grenzüberschreitende Steuergestaltungen zur Verringerung der Steuerlast der Steuerpflichtigen entwickelt werden.

129    Die in Rede stehende Meldepflicht impliziert, dass der Steuerverwaltung zusammen mit den die betreffenden Personen identifizierenden Daten Informationen über die in Rede stehende grenzüberschreitende Gestaltung offenbart werden. Zu diesen Informationen gehören nach Art. 8ab Abs. 14 der geänderten Richtlinie 2011/16 u. a. eine Zusammenfassung des Inhalts dieser Gestaltung und Einzelheiten zu den nationalen Vorschriften, die ihre Grundlage bilden. Damit stellt diese Pflicht als solche einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens und der Kommunikation dar, der dazu führt, dass der Verwaltung Einblick in das Ergebnis steuerlicher Planungs- und Gestaltungsaktivitäten im Kontext persönlicher, beruflicher oder geschäftlicher Tätigkeiten des Steuerpflichtigen selbst oder, in den meisten Fällen, eines oder mehrerer Intermediäre im Sinne von Art. 3 Nr. 21 der Richtlinie verschafft wird.

130    Damit ist diese Pflicht, da sie den Steuerverwaltungen die Möglichkeit gibt, die den grenzüberschreitenden Gestaltungen zugrunde liegenden Unterschiede und Regelungslücken zeitnah zu beheben, geeignet, das Interesse der Steuerpflichtigen am Rückgriff auf steuerliche Gestaltungen zu verringern, deren sinnvolle Nutzungsdauer für sie sich entsprechend verkürzen kann.

131    Die Meldepflicht ist daher geeignet, sowohl die Steuerpflichtigen als auch ihre Berater von der Konzipierung und Umsetzung von Mechanismen zur grenzüberschreitenden Steuerplanung abzuhalten, die zwar rechtmäßig sind, aber auf vorhandenen Unterschieden zwischen den verschiedenen einschlägigen nationalen Regelungen beruhen.

132    Daraus folgt, dass die Meldepflicht, soweit sie u. a. auf solche Gestaltungen abzielt, zu einer Beschränkung der Freiheit der Steuerpflichtigen und Intermediäre führt, ihre persönlichen, beruflichen und geschäftlichen Tätigkeiten zu gestalten, und daher einen Eingriff in das durch Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens darstellt.

133    Mithin stellt sich die Frage, ob dieser Eingriff gerechtfertigt werden kann.

134    Die in Art. 7 der Charta verankerten Rechte können keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden. Nach ihrem Art. 52 Abs. 1 lässt die Charta nämlich Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte zu, sofern diese gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt der Rechte achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit müssen sie erforderlich sein und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Privacy International, C‑623/17, EU:C:2020:790, Rn. 63 und 64).

135    Erstens bedeutet das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für jede Einschränkung der Ausübung von Grundrechten, dass der Rechtsakt, der den Grundrechtseingriff ermöglicht, selbst festlegen muss, in welchem Umfang die Ausübung des betreffenden Rechts eingeschränkt wird. Dieses Erfordernis schließt aber zum einen nicht aus, dass die fragliche Einschränkung hinreichend offen formuliert ist, um Anpassungen an verschiedene Fallgruppen und an Änderungen der Lage zu erlauben. Zum anderen kann der Gerichtshof gegebenenfalls die konkrete Tragweite der Einschränkung im Wege der Auslegung präzisieren, und zwar anhand sowohl des Wortlauts als auch der Systematik und der Ziele der fraglichen Unionsregelung, wie sie im Licht der durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen sind (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 114 und die dort angeführte Rechtsprechung).

136    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8ab Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16 ausdrücklich vorsieht, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Intermediäre zu verpflichten, die „ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen“ den zuständigen Steuerbehörden vorzulegen. Gibt es keinen meldepflichtigen Intermediär, obliegt diese Pflicht nach Art. 8ab Abs. 6 der Richtlinie dem relevanten Steuerpflichtigen. Außerdem wird der Begriff „meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung“ in Art. 3 Nr. 19 der Richtlinie in Verbindung mit den Kennzeichen in Anhang IV definiert. Und schließlich kann der Inhalt dieser Pflicht Art. 8ab Abs. 14 der geänderten Richtlinie 2011/16 entnommen werden.

137    Unter diesen Umständen ist das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für die Einschränkung der Ausübung von Grundrechten erfüllt.

138    Zweitens ist in Bezug auf das Erfordernis der Achtung des Wesensgehalts des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens festzustellen, dass eine Pflicht wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die nur die Übermittlung von Daten über die Konzeption und Umsetzung einer potenziell aggressiven steuerlichen Gestaltung betrifft, ohne die Möglichkeit ihrer Konzeption oder Umsetzung unmittelbar zu berühren, nicht als Beeinträchtigung des Kernbestands des Rechts auf Achtung des Privatlebens der betreffenden Personen angesehen werden kann.

139    Drittens ist hinsichtlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zunächst zu prüfen, ob mit der in Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehenen Meldepflicht eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verfolgt wird. Sollte dies zu bejahen sein, ist sodann zu klären, ob diese Pflicht zur Erreichung der Zielsetzung geeignet ist, ob der Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens, der sich aus ihr ergeben kann, insofern auf das absolut Notwendige beschränkt ist, als die verfolgte Zielsetzung bei vernünftiger Betrachtung nicht ebenso wirksam durch andere Mittel erreicht werden könnte, die dieses Recht weniger beeinträchtigen, und ob, sofern dies der Fall ist, der Eingriff nicht unverhältnismäßig ist und keine Nachteile mit sich bringt, die außer Verhältnis zu der Zielsetzung stehen, was insbesondere eine Gewichtung ihrer Bedeutung und der Schwere des Eingriffs impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 64 und 66).

140    Zu dem Erfordernis, dass die Einschränkung des Grundrechts einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entsprechen muss, ist festzustellen, dass sich die Änderung der Richtlinie 2011/16 durch die Richtlinie 2018/822 in den Rahmen einer internationalen steuerlichen Zusammenarbeit zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung einfügt, die sich durch einen Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten konkretisiert. Insoweit geht u. a. aus den Erwägungsgründen 2, 4, 8 und 9 der Richtlinie 2018/822 hervor, dass die durch Art. 8ab der geänderten Richtlinie 2011/16 geschaffenen Melde- und Unterrichtungspflichten zur Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und zur Verhinderung der Gefahren von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung beitragen sollen.

141    Die Bekämpfung aggressiver Steuerplanung und die Verhinderung der Gefahren von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung stellen von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta dar, die es erlauben, die Ausübung der durch Art. 7 der Charta garantierten Rechte einzuschränken (Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

142    Zu der Frage, ob die in Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 der geänderten Richtlinie 2011/16 vorgesehene Meldepflicht zur Erreichung dieser Zielsetzungen geeignet ist, ist darauf hinzuweisen, dass die Bereitstellung detaillierter Informationen über grenzüberschreitende Steuergestaltungen an die nationalen Steuerbehörden, insbesondere der in Art. 8ab Abs. 14 der Richtlinie genannten Informationen, in dem in ihrem Art. 8ab Abs. 1 vorgesehenen frühen Stadium, wie der Unionsgesetzgeber insbesondere in den Erwägungsgründen 2, 6 und 7 der Richtlinie 2018/822 hervorgehoben hat, besonders geeignet ist, es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken, auch wenn sie rechtmäßig sind, vorzugehen sowie Unterschiede und Regelungslücken zu beseitigen, die die Entwicklung solcher Praktiken erleichtern können.

143    Zu dem Erfordernis, dass sich der Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens, der aus der Meldepflicht resultieren kann, insofern auf das absolut Notwendige beschränkt sein muss, als die verfolgte Zielsetzung bei vernünftiger Betrachtung nicht ebenso wirksam durch andere, dieses Recht weniger beeinträchtigende Mittel erreicht werden kann, ist darauf hinzuweisen, dass diese Pflicht ein besonders wirksames Mittel zur Bekämpfung aggressiver Steuerplanung und zur Verhinderung der Gefahren von Steuervermeidung und ‑hinterziehung ist. Indem der Unionsgesetzgeber den Intermediären und ersatzweise dem relevanten Steuerpflichtigen vorschreibt, der Steuerverwaltung in einem sehr frühen Stadium Informationen über grenzüberschreitende Gestaltungen zu übermitteln, die eines der in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen aufweisen, ermöglicht er es den Mitgliedstaaten nämlich, genau und schnell, gegebenenfalls koordiniert, auf aggressive Steuerplanungsmechanismen zu reagieren, während die nachträgliche Prüfung und Kontrolle steuerlicher Verhaltensweisen dies nicht in gleichem Maß gestatten.

144    Überdies betreffen die nach Art. 8ab Abs. 14 der geänderten Richtlinie 2011/16 im Rahmen der Meldung zu übermittelnden Informationen Angaben zu den Intermediären und den relevanten Steuerpflichtigen sowie gegebenenfalls zu verbundenen Unternehmen dieser Steuerpflichtigen und zu den in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen. Ferner enthalten sie eine Zusammenfassung des Inhalts der betreffenden grenzüberschreitenden Gestaltung, soweit vorhanden einschließlich einer abstrakt gehaltenen Beschreibung der relevanten Geschäftstätigkeiten oder Gestaltungen, die nicht zur Preisgabe eines Handels- oder sonstigen Geheimnisses führt. Sie nennen das Datum der Umsetzung der betreffenden grenzüberschreitenden Gestaltung, die nationalen Vorschriften, die ihre Grundlage bilden, und den Wert der Gestaltung. Sie bezeichnen den oder die wahrscheinlich betroffenen Mitgliedstaaten sowie alle anderen Personen in einem Mitgliedstaat, die wahrscheinlich von der Gestaltung betroffen sind.

145    Diese Informationen gehen nicht über das hinaus, was unbedingt erforderlich ist, um es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, die betreffende grenzüberschreitende Gestaltung hinreichend zu verstehen und zeitnah zu handeln, sei es allein auf der Grundlage der übermittelten Informationen oder durch Kontaktaufnahme mit den betreffenden Intermediären oder Steuerpflichtigen zur Erlangung zusätzlicher Informationen.

146    Außerdem ergibt sich aus Art. 8ab Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2011/16, dass die Meldepflicht für den Intermediär und ersatzweise für den relevanten Steuerpflichtigen nur Informationen betrifft, von denen sie Kenntnis haben, die sie besitzen oder die sie kontrollieren. Folglich braucht der Meldepflichtige über die von ihm bereits kontrollierten Informationen hinaus keine weiteren Informationen zu ermitteln und zu suchen.

147    Schließlich unterscheiden sich die den Steuerverwaltungen der Mitgliedstaaten durch die Meldepflicht verschafften Informationen sowohl in der Natur der dabei übermittelten Daten als auch in den Modalitäten ihrer Übermittlung von den Informationen, die bereits nach der Richtlinie 2011/16 und ihren fünf vor der Richtlinie 2018/822 erfolgten Änderungen unter den Mitgliedstaaten zu teilen waren. Im Unterschied zu den in diesen früheren Fassungen der Richtlinie 2011/16 vorgesehenen Mechanismen des automatischen Informationsaustauschs verschafft die Änderung durch die Richtlinie 2018/822 den Mitgliedstaaten nämlich frühzeitige und gezielte Informationen über konkrete Steuergestaltungen, die eine potenzielle Gefahr der Steuervermeidung mit sich bringen, sowie über ihre Entwickler und ihre Nutzer, was geeignet ist, die Wirksamkeit der Bekämpfung aggressiver Steuerplanung und die Verhinderung von Gefahren der Steuervermeidung und ‑hinterziehung erheblich zu verbessern.

148    Zu der Frage, ob der mit der Meldepflicht verbundene Eingriff in das Recht auf Schutz des Privatlebens nicht unverhältnismäßig ist und nicht außer Verhältnis zu der verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung steht, ist festzustellen, dass dieser Eingriff zwar nicht unerheblich ist, aber die Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung und die Verhinderung der Gefahren von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung wichtige Ziele darstellen. von deren Verfolgung nicht nur, wie in den Erwägungsgründen 2 und 6 der Richtlinie 2018/822 hervorgehoben wird, der Schutz der Steuerbemessungsgrundlage und damit der Steuereinnahmen der Mitgliedstaaten sowie die Schaffung einer gerechten Besteuerung im Binnenmarkt abhängen, sondern auch die Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis der Mitgliedstaaten und eine effiziente Beitreibung der Steuer, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs legitime Ziele darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2018, Sofina u. a., C‑575/17, EU:C:2018:943, Rn. 56 und 67 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Unter diesen Umständen lässt die Tatsache, dass die Meldepflicht womöglich, zu den oben in den Rn. 139 bis 147 genannten Zwecken und unter den dort genannten Voraussetzungen, für rechtmäßige grenzüberschreitende Gestaltungen gelten könnte, nicht den Schluss zu, dass diese Pflicht für den Steuerpflichtigen, der von der betreffenden Gestaltung profitiert, oder den Intermediär, der sie konzipiert hat, unverhältnismäßig ist.

149    Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die mit der Meldepflicht nach Art. 8ab Abs. 1, 6 und 7 der geänderten Richtlinie 2011/16 verbundene Einschränkung des Rechts auf Schutz des Privatlebens, verstanden als das Recht jeder Person, ihr Privatleben zu gestalten, gerechtfertigt ist.

150    Nach alledem hat die Prüfung der Aspekte, auf die sich die fünfte Frage bezieht, nichts ergeben, was die Gültigkeit der geänderten Richtlinie 2011/16 im Licht des in Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens berühren könnte.

 Kosten

151    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Die Prüfung des Aspekts, auf den sich die erste Vorlagefrage bezieht, hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 geänderten Fassung im Licht der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie der Art. 20 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union berühren könnte.

2.      Die Prüfung der Aspekte, auf die sich die zweite und die dritte Vorlagefrage beziehen, hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Richtlinie 2011/16 in der durch die Richtlinie 2018/822 geänderten Fassung im Licht des Grundsatzes der Rechtssicherheit, des in Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte verankerten Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen und des durch Art. 7 der Charta garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens berühren könnte.

3.      Die vom Gerichtshof im Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a. (C694/20, EU:C:2022:963), festgestellte Ungültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16 in der durch die Richtlinie 2018/822 geänderten Fassung im Licht von Art. 7 der Charta der Grundrechte gilt nur für Personen, die ihre beruflichen Tätigkeiten unter einer der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde, aufgeführten Berufsbezeichnungen ausüben.

4.      Die Prüfung der Aspekte, auf die sich die fünfte Vorlagefrage bezieht, hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Richtlinie 2011/16 in der durch die Richtlinie 2018/822 geänderten Fassung im Licht des durch Art. 7 der Charta der Grundrechte garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens berühren könnte.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.