Language of document : ECLI:EU:T:2014:991

Rechtssache T‑402/13

Orange

gegen

Europäische Kommission

„Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Beschluss, mit dem eine Nachprüfung angeordnet wird – Verhältnismäßigkeit – Angemessenheit – Erforderlichkeit – Fehlen von Willkür – Begründung“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 25. November 2014

1.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Nachprüfungsbefugnis der Kommission – Wahl eines Nachprüfungsbeschlusses – Ermessen der Kommission – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 20 Abs. 4)

2.      Wettbewerb – Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden – Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde, mit der Verpflichtungszusagen angenommen werden oder festgestellt wird, dass ein Tätigwerden nicht erforderlich ist – Kein Einfluss auf die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem

(Art. 101 AEUV und Art. 102 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 5)

3.      Wettbewerb – Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden – Mitteilung des Entwurfs einer Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde – Verpflichtung der Kommission, dieser Behörde ihre Zuständigkeit zu nehmen – Fehlen – Kein Einfluss auf die Möglichkeit der Kommission, später eine eigene Untersuchung einzuleiten

(Art. 101 AEUV und Art. 102 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 11 Abs. 4 und 6)

4.      Gerichtliches Verfahren – Vorbringen neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens – Voraussetzungen – Erweiterung eines bereits vorgetragenen Angriffs- oder Verteidigungsmittels – Zulässigkeit

(Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 44 § 1 Buchst. c und 48 § 2)

5.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Erst nach Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte bestehende Möglichkeit des betroffenen Unternehmens, diese Rechte umfassend geltend zu machen – Verpflichtung der Kommission, das Unternehmen im Stadium der ersten ihm gegenüber ergriffenen Maßnahme über Gegenstand und Zweck der Ermittlungen zu informieren

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates)

6.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Nachprüfungsbefugnis der Kommission – Beschluss, mit dem eine Nachprüfung angeordnet wird – Begründungspflicht – Umfang – Klare Angabe ernsthafter Indizien, die für den Verdacht einer Zuwiderhandlung ausreichen – Gerichtliche Nachprüfung – Verpflichtung des Gerichts, diese Indizien inhaltlich zu überprüfen – Voraussetzungen

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 20 Abs. 4)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 22-24, 53, 68, 72)

2.      Sicherlich ist der Grundsatz ne bis in idem in wettbewerbsrechtlichen Verfahren, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet sind, zu beachten. Dieser Grundsatz verbietet es im Bereich des Wettbewerbsrechts, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut verurteilt oder verfolgt wird.

Jedoch haben die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten keine Befugnis, Entscheidungen zu treffen, die ein Unternehmen für eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV oder Art. 102 AEUV für nicht verantwortlich erklären, d. h., die das Fehlen einer Zuwiderhandlung gegen diese Artikel feststellen, da sich sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der Systematik der Verordnung Nr. 1/2003 und dem mit dieser verfolgten Ziel hervorgeht, dass die Feststellung des Nichtvorliegens einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV oder Art. 102 AEUV der Kommission vorbehalten ist, selbst wenn dieser Artikel in einem von einer nationalen Wettbewerbsbehörde durchgeführten Verfahren angewandt wird. Der Erlass einer solchen „negativen“ Sachentscheidung durch eine nationale Wettbewerbsbehörde könnte die einheitliche Anwendung des Art. 101 AEUV und des Art. 102 AEUV beeinträchtigen, die eines der im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1/2003 hervorgehobenen Ziele dieser Verordnung ist, weil sie die Kommission daran hindern könnte, später festzustellen, dass die fragliche Verhaltensweise eine Zuwiderhandlung gegen diese unionsrechtlichen Bestimmungen darstellt. Wenn daher eine Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats gemäß Art. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 Verpflichtungszusagen annimmt oder feststellt, dass kein Anlass besteht, tätig zu werden, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie im Ergebnis eine Entscheidung erlassen hat, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV oder Art. 102 AEUV ausgeschlossen wird. Deshalb kann ein Unternehmen die einer nationalen Wettbewerbsbehörde ihm gegenüber erlassene Entscheidung für die Anwendung des Verbots der Doppelbestrafung nicht nutzbringend geltend machen.

(vgl. Rn. 29-31)

3.      Im Wettbewerbsrecht kann der Empfang von Entscheidungsentwürfen einer nationalen Wettbewerbsbehörde durch die Kommission nach Art. 11 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 zwar für die Kommission die Gelegenheit sein, das Vorrecht und das Ermessen auszuüben, die ihr gemäß Art. 11 Abs. 6 dieser Verordnung übertragen werden, um einer Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats in einem spezifischen Fall ihre Zuständigkeit zur Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV zu nehmen. Hieraus ergibt sich jedoch weder, dass die Kommission dann, wenn sie die in dem von der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats mitgeteilten Entscheidungsentwurf vorgenommene Würdigung hinsichtlich der Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV nicht teilt oder wenn sie in dieser Hinsicht Zweifel hegt, notwendigerweise verpflichtet ist, ein Verfahren nach Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 zu eröffnen, noch dass das Fehlen der Eröffnung eines Verfahrens verhindert, dass sie danach ihre eigene Untersuchung durchführen kann, um zu einem anderen Ergebnis zu kommen als demjenigen, zu dem diese Wettbewerbsbehörde gelangt ist.

Daher kann das fehlende Einschreiten der Kommission nach Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 nicht als eine Billigung der Begründung der Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörde hinsichtlich des Art. 102 AEUV angesehen werden.

(vgl. Rn. 35, 36, 39)

4.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 45-47, 85, 86)

5.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 77-81, 90)

6.      Das Erfordernis eines Schutzes vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der Betätigung einer natürlichen oder juristischen Person stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar.

Zur Wahrung dieses allgemeinen Grundsatzes muss ein Nachprüfungsbeschluss der Kommission gemäß Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 auf die Erlangung von Unterlagen gerichtet sein, die erforderlich sind, um die Richtigkeit und die Tragweite einer bestimmten Sach- und Rechtslage zu prüfen, in Bezug auf die die Kommission bereits über Erkenntnisse verfügt, die hinreichend ernsthafte Indizien beinhalten, die für den Verdacht eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln ausreichen.

In diesem Zusammenhang stellt die Überprüfung, ob die Kommission im Besitz hinreichend ernsthafter Indizien war, die es erlaubten, vor dem Erlass eines Nachprüfungsbeschlusses eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln zu vermuten, nicht das einzige Mittel dar, das es dem Gericht ermöglicht, sich zu vergewissern, dass dieser Beschluss nicht willkürlich ist. Denn die Kontrolle der Begründung eines Beschlusses erlaubt es dem Richter ebenfalls, über die Beachtung des Grundsatzes des Schutzes vor willkürlichen und unverhältnismäßigen Maßnahmen zu wachen, indem sie es ermöglicht, die Berechtigung des beabsichtigten Eingriffs in den betroffenen Unternehmen aufzuzeigen.

Deshalb kann das Gericht in den Fällen, in denen es feststellt, dass die Vermutungen, denen die Kommission nachzugehen beabsichtigt, und die Punkte, auf die sich die Nachprüfung beziehen soll, in ihrem Nachprüfungsbeschluss hinreichend genau bestimmt sind, auf das Fehlen von Willkür bei diesem Beschluss schließen, ohne dass es erforderlich ist, die zum Zeitpunkt seines Erlasses im Besitz der Kommission befindlichen Indizien inhaltlich zu überprüfen.

(vgl. Rn. 83, 84, 87, 89, 91)