Language of document : ECLI:EU:C:2017:774

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

19. Oktober 2017(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 92/43/EWG – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Durchführungsbeschluss (EU) 2015/72 – Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region – Verkleinerung eines Gebiets – Wissenschaftlicher Irrtum – Gültigkeit“

In der Rechtssache C‑281/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 18. Mai 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Mai 2016, in dem Verfahren

Vereniging Hoekschewaards Landschap

gegen

Staatssecretaris van Economische Zaken

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, der Richter C. Vajda und E. Juhász, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos (Berichterstatter),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Mai 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Vereniging Hoekschewaards Landschap, vertreten durch A. Jonkhoff und W. Zwier, advocaten,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman, B. Koopman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Manhaeve und C. Hermes als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 15. Juni 2017

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit des Durchführungsbeschlusses (EU) 2015/72 der Kommission vom 3. Dezember 2014 zur Annahme einer achten aktualisierten Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region (ABl. 2015, L 18, S. 385).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Vereniging Hoekschewaards Landschap und dem Staatssecretaris van Economische Zaken (Staatssekretär für Wirtschaft, Niederlande, im Folgenden: Staatssecretaris) über die Rechtmäßigkeit eines Beschlusses zur Verkleinerung eines besonderen Schutzgebiets.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 92/43/EWG

3        Art. 1 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7) in der durch die Richtlinie 2006/105/EG des Rates vom 20. November 2006 (ABl. 2006, L 363, S. 368) geänderten Fassung (im Folgenden: Habitat-Richtlinie) bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:

a)      ‚Erhaltung‘: alle Maßnahmen, die erforderlich sind, um die natürlichen Lebensräume und die Populationen wildlebender Tier- und Pflanzenarten in einem günstigen Erhaltungszustand im Sinne des Buchstabens e) oder i) zu erhalten oder diesen wiederherzustellen.

e)      ‚Erhaltungszustand eines natürlichen Lebensraums‘: die Gesamtheit der Einwirkungen, die den betreffenden Lebensraum und die darin vorkommenden charakteristischen Arten beeinflussen und die sich langfristig auf seine natürliche Verbreitung, seine Struktur und seine Funktionen sowie das Überleben seiner charakteristischen Arten in dem in Artikel 2 genannten Gebiet auswirken können.

Der ‚Erhaltungszustand‘ eines natürlichen Lebensraums wird als ‚günstig‘ erachtet, wenn

–        sein natürliches Verbreitungsgebiet sowie die Flächen, die er in diesem Gebiet einnimmt, beständig sind oder sich ausdehnen und

–        die für seinen langfristigen Fortbestand notwendige Struktur und spezifischen Funktionen bestehen und in absehbarer Zukunft wahrscheinlich weiterbestehen werden

und

–        der Erhaltungszustand der für ihn charakteristischen Arten im Sinne des Buchstabens i) günstig ist.

i)      ‚Erhaltungszustand einer Art‘: die Gesamtheit der Einflüsse, die sich langfristig auf die Verbreitung und die Größe der Populationen der betreffenden Arten in dem in Artikel 2 bezeichneten Gebiet auswirken können.

Der Erhaltungszustand wird als ‚günstig‘ betrachtet, wenn

–        aufgrund der Daten über die Populationsdynamik der Art anzunehmen ist, dass diese Art ein lebensfähiges Element des natürlichen Lebensraumes, dem sie angehört, bildet und langfristig weiterhin bilden wird, und

–        das natürliche Verbreitungsgebiet dieser Art weder abnimmt noch in absehbarer Zeit vermutlich abnehmen wird und

–        ein genügend großer Lebensraum vorhanden ist und wahrscheinlich weiterhin vorhanden sein wird, um langfristig ein Überleben der Populationen dieser Art zu sichern.

k)      ‚Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung‘: Gebiet, das in der oder den biogeographischen Region(en), zu welchen es gehört, in signifikantem Maße dazu beiträgt, einen natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs I oder eine Art des Anhangs II in einem günstigen Erhaltungszustand zu bewahren oder einen solchen wiederherzustellen und auch in signifikantem Maße zur Kohärenz des in Artikel 3 genannten Netzes ‚Natura 2000’ und/oder in signifikantem Maße zur biologischen Vielfalt in der biogeographischen Region beitragen kann.

l)      ‚Besonderes Schutzgebiet‘: ein von den Mitgliedstaaten durch eine Rechts- oder Verwaltungsvorschrift und/oder eine vertragliche Vereinbarung als ein von gemeinschaftlicher Bedeutung ausgewiesenes Gebiet, in dem die Maßnahmen, die zur Wahrung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes der natürlichen Lebensräume und/oder Populationen der Arten, für die das Gebiet bestimmt ist, erforderlich sind, durchgeführt werden.

…“

4        Art. 2 der Habitat-Richtlinie sieht vor:

„(1)      Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der [AEU‑]Vertrag Geltung hat, beizutragen.

(2)      Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen.

(3)      Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.“

5        Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Habitat-Richtlinie lautet:

„Es wird ein kohärentes europäisches ökologisches Netz besonderer Schutzgebiete mit der Bezeichnung ‚Natura 2000‘ errichtet. Dieses Netz besteht aus Gebieten, die die natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I sowie die Habitate der Arten des Anhang II umfassen, und muss den Fortbestand oder gegebenenfalls die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet gewährleisten.“

6        In Art. 4 der Habitat-Richtlinie heißt es:

„(1)      Anhand der in Anhang III (Phase 1) festgelegten Kriterien und einschlägiger wissenschaftlicher Informationen legt jeder Mitgliedstaat eine Liste von Gebieten vor, in der die in diesen Gebieten vorkommenden natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und einheimischen Arten des Anhangs II aufgeführt sind. … Die Mitgliedstaaten schlagen gegebenenfalls die Anpassung dieser Liste im Lichte der Ergebnisse der in Artikel 11 genannten Überwachung vor.

(2)      Auf der Grundlage der in Anhang III (Phase 2) festgelegten Kriterien und im Rahmen der neun in Artikel 1 Buchstabe c) Ziffer iii) erwähnten biogeographischen Regionen sowie des in Artikel 2 Absatz 1 genannten Gesamtgebietes erstellt die Kommission jeweils im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten aus den Listen der Mitgliedstaaten den Entwurf einer Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung, in der die Gebiete mit einem oder mehreren prioritären natürlichen Lebensraumtyp(en) oder einer oder mehreren prioritären Art(en) ausgewiesen sind.

Die Liste der Gebiete, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung ausgewählt wurden und in der die Gebiete mit einem oder mehreren prioritären natürlichen Lebensraumtyp(en) oder einer oder mehreren prioritären Art(en) ausgewiesen sind, wird von der Kommission nach dem Verfahren des Artikels 21 festgelegt.

(4)      Ist ein Gebiet aufgrund des in Absatz 2 genannten Verfahrens als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung bezeichnet worden, so weist der betreffende Mitgliedstaat dieses Gebiet so schnell wie möglich – spätestens aber binnen sechs Jahren – als besonderes Schutzgebiet aus und legt dabei die Prioritäten nach Maßgabe der Wichtigkeit dieser Gebiete für die Wahrung oder die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes eines natürlichen Lebensraumtyps des Anhangs I oder einer Art des Anhangs II und für die Kohärenz des Netzes Natura 2000 sowie danach fest, inwieweit diese Gebiete von Schädigung oder Zerstörung bedroht sind.

…“

7        Art. 9 der Habitat-Richtlinie lautet:

„Die Kommission beurteilt im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 21 in regelmäßigen Zeitabständen den Beitrag von Natura 2000 zur Verwirklichung der in den Artikeln 2 und 3 genannten Ziele. In diesem Zusammenhang kann die Aufhebung der Klassifizierung als besonderes Schutzgebiet in den Fällen erwogen werden, in denen die gemäß Artikel 11 beobachtete natürliche Entwicklung dies rechtfertigt.“

8        Art. 11 der Habitat-Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten überwachen den Erhaltungszustand der in Artikel 2 genannten Arten und Lebensräume, wobei sie die prioritären natürlichen Lebensraumtypen und die prioritären Arten besonders berücksichtigen.“

9        Anhang III der Habitat-Richtlinie enthält die Kriterien zur Auswahl der Gebiete, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung (im Folgenden: GGB) bestimmt und als besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden könnten. Was insbesondere die Kriterien für Phase 1, nämlich die „[f]ür jeden natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs I und jede Art des Anhangs II (einschließlich der prioritären natürlichen Lebensraumtypen und der prioritären Arten) auf nationaler Ebene vorzunehmende Beurteilung der relativen Bedeutung der Gebiete“, anbelangt, bestimmt Anhang III Folgendes:

„A.      Kriterien zur Beurteilung der Bedeutung des Gebietes für einen natürlichen Lebensraumtyp des Anhangs I

a)      Repräsentativitätsgrad des in diesem Gebiet vorkommenden natürlichen Lebensraumtyps.

b)      Vom natürlichen Lebensraumtyp eingenommene Fläche im Vergleich zur Gesamtfläche des betreffenden Lebensraumtyps im gesamten Hoheitsgebiet des Staates.

c)      Erhaltungsgrad der Struktur und der Funktionen des betreffenden natürlichen Lebensraumtyps und Wiederherstellungsmöglichkeit.

d)      Gesamtbeurteilung des Wertes des Gebietes für die Erhaltung des betreffenden natürlichen Lebensraumtyps.

B.      Kriterien zur Beurteilung der Bedeutung des Gebiets für eine gegebene Art des Anhangs II

a)      Populationsgröße und ‑dichte der betreffenden Art in diesem Gebiet im Vergleich zu den Populationen im ganzen Land.

b)      Erhaltungsgrad der für die betreffende Art wichtigen Habitatselemente und Wiederherstellungsmöglichkeit.

c)      Isolierungsgrad der in diesem Gebiet vorkommenden Population im Vergleich zum natürlichen Verbreitungsgebiet der jeweiligen Art.

d)      Gesamtbeurteilung des Wertes des Gebietes für die Erhaltung der betreffenden Art.“

 Von der Kommissionnach Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 3 der Habitat-Richtlinie angenommene Entscheidung bzw. angenommener Durchführungsbeschluss

10      Mit ihrer Entscheidung 2004/813/EG vom 7. Dezember 2004 gemäß der Richtlinie 92/43/EWG des Rates zur Verabschiedung der Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region (ABl. 2004, L 387, S. 1) wählte die Kommission auf Vorschlag des Königreichs der Niederlande das Gebiet Haringvliet (Niederlande), mit dem Code NL 1000015 und einer Fläche von 11 108 Hektar (ha), als GGB aus.

11      In den sieben darauffolgenden aktualisierten Fassungen der Liste von GGB in der atlantischen biogeografischen Region war das Gebiet Haringvliet weiterhin, mit derselben Fläche, aufgeführt.

12      Im Durchführungsbeschluss 2015/72 zur Annahme einer achten aktualisierten Fassung dieser Liste führte die Kommission das Gebiet Haringvliet als GGB nur mit einer Fläche von 10 988 ha auf.

 Niederländisches Recht

13      Art. 10a Abs. 1 der Natuurbeschermingswet 1998 (Naturschutzgesetz 1998) vom 25. Mai 1998 bestimmt:

„Der Minister weist die Gebiete für die Umsetzung … der [Habitat-Richtlinie] aus.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

14      Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge handelt es sich beim Leenheerenpolder um einen Polder mit einer Fläche von ungefähr 110 ha, der zum Gebiet Haringvliet gehörte, als dieses – durch die Entscheidung 2004/813 – wegen der Wiederherstellungsmöglichkeiten, die dieser Polder für die anderswo im GGB Haringvliet vorhandenen natürlichen Lebensraumtypen und vorkommenden Arten bot, in die Liste der GGB in der atlantischen biogeografischen Region aufgenommen wurde. Obwohl der Leenheerenpolder aus Agrarland bestand und keine der natürlichen Lebensraumtypen umfasste und dort keine der Arten vorkamen, die jeweils anderswo im GGB Haringvliet geschützt sind, sollte er nämlich einer sogenannten „Entpolderung“ unterzogen werden, also einer Umwandlung in eine natürliche Fläche unter Gezeiteneinfluss, um sein Potenzial zu entwickeln.

15      Durch Beschluss vom 4. Juli 2013 wies das Königreich der Niederlande das Gebiet Haringvliet gemäß Art. 10a des Naturschutzgesetzes 1998 als besonderes Schutzgebiet aus, allerdings mit Ausnahme des Leenheerenpolders. Mit Urteil vom 1. Oktober 2014 erklärte der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) diesen Beschluss insoweit für nichtig, als der Leenheerenpolder nicht in dieses Gebiet einbezogen worden war. Er vertrat nämlich die Auffassung, das Königreich der Niederlande hätte den Leenheerenpolder nach Art. 4 Abs. 4 der Habitat-Richtlinie in dieses Gebiet einbeziehen müssen, da er innerhalb der Grenzen des GGB Haringvliet liege, von denen die Kommission seit ihrer Entscheidung 2004/813 ausgehe.

16      Im Oktober 2013 schlug das Königreich der Niederlande der Kommission vor, den Leenheerenpolder aus dem GGB Haringvliet herauszunehmen und dieses somit um die Fläche des Leenheerenpolders zu verkleinern.

17      Mit Schreiben vom 10. September 2014 ersuchte die Kommission die Niederlande, das Vorhaben, das GGB Haringvliet zu verkleinern, näher zu erläutern.

18      Mit Schreiben vom 30. September 2014 wies der Staatssecretaris die Kommission darauf hin, dass der Leenheerenpolder keine Naturwerte umfasse und dass die ursprünglichen Pläne, diesen umzuwandeln, aufgegeben worden seien, weil die Wiederherstellung der Feuchtgebiete von Beningerwaard, von Tiengemeten und von Poldern, die kleiner als das GGB Haringvliet seien, ausreichend sei, um die Ziele der Erhaltung dieses GGB zu erreichen. Der Staatssecretaris teilte in diesem Schreiben auch mit, man habe das Vorhaben der Entpolderung aus politischen, sozialen und haushaltsrechtlichen Gründen fallen lassen.

19      Mit Schreiben vom 24. Oktober 2014 antworteten die Dienststellen der Kommission, sie nähmen den Vorschlag zur Abänderung des GGB Haringvliet angesichts dessen an, dass zum einen die niederländischen Behörden das Wiederherstellungspotenzial in anderen Teilen dieses Gebiets positiv beurteilt hätten und dass zum anderen an anderen Orten bereits eine Reihe von Wiederherstellungsmaßnahmen umgesetzt worden oder geplant seien. In diesem Schreiben vertrat die Kommission die Auffassung, dass der ursprüngliche Vorschlag, den Leenheerenpolder in das GGB Haringvliet einzubeziehen, einen „wissenschaftlichen Irrtum“ darstelle.

20      Mit dem Durchführungsbeschluss 2015/72 beließ die Kommission das Gebiet Haringvliet auf der Liste der GGB in der atlantischen biogeografischen Region, nahm aber den Leenheerenpolder aus diesem Gebiet heraus.

21      Mit Beschluss vom 28. April 2015 wies der Staatssecretaris das GGB Haringvliet gemäß Art. 10a Abs. 1 des Naturschutzgesetzes 1998 und zwecks Umsetzung des Durchführungsbeschlusses 2015/72 als besonderes Schutzgebiet aus, wobei der Leenheerenpolder hiervon ausgenommen war.

22      Da die Vereniging Hoekschewaards Landschap der Ansicht ist, dass dieser Polder ein einzigartiges Potenzial für die Wiederherstellung eines Mündungsgebiets biete, das anderswo im GGB Haringvliet fehle, erhob sie beim Raad van State (Staatsrat) Klage gegen den Beschluss vom 28. April 2015.

23      Der Raad van State (Staatsrat) weist darauf hin, dass der Staatssecretaris vor ihm geltend gemacht habe, dass der wissenschaftliche Irrtum darin bestehe, dass er bei seinem Vorschlag, das Gebiet Haringvliet in die Liste der GGB aufzunehmen, zu Unrecht angenommen habe, dass der Leenheerenpolder nicht nur geeignet, sondern notwendig sei, um die Ziele der Erhaltung dieses Gebiets zu erreichen. Der Raad van State (Staatsrat) möchte wissen, ob unter diesen Umständen die Verkleinerung dieses Gebiets, soweit der Antrag des Königreichs der Niederlande durch hinreichende Daten untermauert wurde, durch einen solchen Grund gerechtfertigt werden konnte.

24      Vor diesem Hintergrund hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist der Durchführungsbeschluss 2015/72 gültig, soweit mit diesem das Gebiet Haringvliet in diese Liste aufgenommen wird, der Leenheerenpolder jedoch nicht darin einbezogen ist?

 Zur Vorlagefrage

25      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verkleinerung des Gebiets Haringvliet durch Herausnahme des Leenheerenpolders, die darauf gestützt wird, dass dessen ursprüngliche Einbeziehung in dieses Gebiet auf einem wissenschaftlichen Irrtum beruhe, gültig ist.

26      Zunächst ist anzumerken, dass die vorliegende Rechtssache nicht in den Anwendungsbereich von Art. 9 der Habitat-Richtlinie fällt, nach dem eine Klassifizierung als besonderes Schutzgebiet „in den Fällen“ aufgehoben werden kann, „in denen die gemäß Artikel 11 beobachtete natürliche Entwicklung dies rechtfertigt“, da das Königreich der Niederlande keine solche Entwicklung geltend gemacht hat.

27      Während die Kommission durch die Entscheidung 2004/813 auf Vorschlag des Königreichs der Niederlande und anhand der in Anhang III der Habitat-Richtlinie aufgeführten Kriterien den Leenheerenpolder angesichts seines Potenzials für die Wiederherstellung der im GGB Haringvliet vorhandenen natürlichen Lebensraumtypen und vorkommenden Arten in dieses GGB aufgenommen hatte, rechtfertigte sie die mit dem Durchführungsbeschluss 2015/72 erfolgte Herausnahme des Leenheerenpolders aus dem GGB Haringvliet damit, dass dessen ursprüngliche Einbeziehung in dieses GGB auf einem wissenschaftlichen Irrtum beruht habe.

28      Um die dem Gerichtshof vorgelegte Frage beantworten zu können, ist daher zu prüfen, ob die Kommission nach der Habitat-Richtlinie dazu befugt ist, auf Vorschlag des betreffenden Mitgliedstaats ein GGB zu verkleinern, wenn die ursprüngliche Aufnahme des Gebiets in die Liste der GGB auf einem wissenschaftlichen Irrtum beruhte, und gegebenenfalls, ob die im Ausgangsverfahren fragliche Verkleinerung durch einen solchen Irrtum gerechtfertigt werden konnte.

29      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof hinsichtlich der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. 1979, L 103, S. 1) entschieden hat, dass ein Übermittlungsfehler gegenüber der Kommission bei der Ausweisung eines besonderen Schutzgebiets durch Berichtigung dieses Fehlers zu einer Verkleinerung dieses Gebiets führen konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 1999, Kommission/Frankreich, C‑96/98, EU:C:1999:580, Rn. 55). In diesem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass der unterlaufene Bearbeitungsfehler verwaltungstechnischer Art, der die angegebene Fläche betraf, durch Anpassung des betreffenden Schutzgebiets korrigiert werden konnte.

30      In Ermangelung einer besonderen Regelung in der Habitat-Richtlinie ist zudem davon auszugehen, dass die Anpassung der Liste der GGB, die die Mitgliedstaaten der Kommission gemäß Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie vorschlagen, die Verkleinerung eines Gebiets, die nach dem gleichen Verfahren durchzuführen ist wie die Aufnahme des Gebiets in die Liste, einschließen kann (vgl. entsprechend Urteil vom 3. April 2014, Cascina Tre Pini, C‑301/12, EU:C:2014:214, Rn. 26).

31      Hierzu ist festzustellen, dass, um einen Entwurf einer Liste der GGB zu erstellen, der zur Errichtung eines kohärenten europäischen ökologischen Netzes besonderer Schutzgebiete führen kann, die Kommission über ein umfassendes Verzeichnis der Gebiete verfügen muss, denen auf nationaler Ebene erhebliche ökologische Bedeutung für das Ziel der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im Sinne der Habitat-Richtlinie zukommt (Urteil vom 7. November 2000, First Corporate Shipping, C‑371/98, EU:C:2000:600, Rn. 22).

32      Nur auf diese Weise ist das in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Habitat-Richtlinie gesetzte Ziel der Wahrung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet, das sich über eine oder mehrere Binnengrenzen der Europäischen Union erstrecken kann, zu erreichen. Wie sich nämlich aus Art. 1 Buchst. e und i dieser Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 2 Abs. 1 ergibt, ist für die Beurteilung des günstigen Erhaltungszustands eines natürlichen Lebensraums oder einer Art auf das gesamte europäische Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der EU-Vertrag Geltung hat, abzustellen (Urteil vom 7. November 2000, First Corporate Shipping, C‑371/98, EU:C:2000:600, Rn. 23).

33      Nach Art. 4 Abs. 1 der Habitat-Richtlinie schlägt der betreffende Mitgliedstaat anhand der in ihrem Anhang III festgelegten Kriterien und einschlägiger wissenschaftlicher Informationen ein Gebiet vor. In Anbetracht der oben in Rn. 29 angeführten Rechtsprechung ergibt sich daraus, dass der wissenschaftlich fundierte Nachweis eines Fehlers, mit dem diese einschlägigen wissenschaftlichen Informationen behaftet sind, gegebenenfalls die Verkleinerung eines GGB rechtfertigen kann.

34      Diese Auslegung wird durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs gestützt, wonach nicht umsonst Ressourcen für die Verwaltung eines Gebiets eingesetzt werden sollen, das sich für die Erhaltung der natürlichen Lebensräume und Arten als nutzlos erweist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. April 2014, Cascina Tre Pini, C‑301/12, EU:C:2014:214, Rn. 28).

35      Wenn die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 1 der Habitat-Richtlinie eine Liste von Gebieten, die als GGB ausgewiesen werden könnten, vorschlagen, verfügen sie zwar über einen gewissen Spielraum (Urteil vom 3. April 2014, Cascina Tre Pini, C‑301/12, EU:C:2014:214, Rn. 27), doch können sie nicht über denselben Spielraum verfügen, wenn sie der Kommission vorschlagen, ein GGB zu verkleinern.

36      Wie die Generalanwältin in Nr. 28 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, setzt der Vorschlag eines Mitgliedstaats, ein Gebiet der Liste zu verkleinern – weil die Aufnahme eines Gebiets in die Liste die Vermutung begründet, es sei in seiner Gesamtheit für das Ziel der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im Sinne der Richtlinie von Bedeutung – nämlich den Nachweis voraus, dass den fraglichen Flächen auf nationaler Ebene keine erhebliche Bedeutung für die Erreichung dieses Ziels zukommt. Zudem darf die Kommission den Vorschlag nur annehmen bzw. umsetzen, wenn sie zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Flächen auch aus der Perspektive der gesamten Union nicht erforderlich sind.

37      Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die niederländischen Behörden den Antrag, die Kommission möge den Leenheerenpolder aus dem GGB Haringvliet herausnehmen, nicht damit gerechtfertigt haben, dass beim Vorschlag nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Habitat-Richtlinie hinsichtlich des ökologischen Werts dieses Polders und dessen Eignung zur Erreichung der sich aus den Art. 2 und 3 der Richtlinie ergebenden Ziele ein Fehler unterlaufen sei, sondern damit, dass im Jahr 2011 beschlossen worden sei, die nationale Naturpolitik neu zu bewerten. Insbesondere haben diese Behörden zu keinem Zeitpunkt die Auffassung vertreten, dass das Potenzial dieses Polders für die Wiederherstellung der betroffenen natürlichen Lebensraumtypen und Arten durch Umwandlung dieses Agrargebiets in eine natürliche Fläche unter Gezeiteneinfluss weggefallen sei. Im Übrigen haben die niederländischen Behörden in einem Schreiben an die Kommission vom 30. September 2014 angegeben, dass der Plan zur Entwicklung der Naturwerte in diesem Polder aus politischen, sozialen und haushaltsrechtlichen Gründen aufgegeben worden sei, und zwar unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Entwicklungen, die in anderen Teilen des Gebiets Haringvliet bereits teilweise eingetreten seien, ausreichend seien, um die Ziele dieses Gebiets zu erreichen.

38      Insoweit hat die niederländische Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass das Königreich der Niederlande nicht das Vorliegen eines wissenschaftlichen Irrtums geltend gemacht hatte, als es der Kommission seinen Vorschlag zur Verkleinerung des GGB Haringvliet übermittelte.

39      Die Kommission ihrerseits hat dem Gerichtshof zudem keinen wissenschaftlichen Nachweis vorgelegt, durch den belegt werden könnte, dass der ursprüngliche Vorschlag auf einem solchen Irrtum beruht hätte.

40      Folglich war die Kommission nicht berechtigt, sich anlässlich der achten Aktualisierung der Liste von GGB in der atlantischen biogeografischen Region durch den Durchführungsbeschluss 2015/72 auf das ursprüngliche Vorliegen eines wissenschaftlichen Irrtums zu stützen und daher das Gebiet Haringvliet ohne den Leenheerenpolder in diese Liste aufzunehmen.

41      Nach alledem ist festzustellen, dass der Durchführungsbeschluss 2015/72 ungültig ist, soweit durch ihn das Gebiet Haringvliet ohne den Leenheerenpolder in die Liste von GGB in der atlantischen biogeografischen Region aufgenommen worden ist.

 Kosten

42      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Der Durchführungsbeschluss (EU) 2015/72 der Kommission vom 3. Dezember 2014 zur Annahme einer achten aktualisierten Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region ist ungültig, soweit durch ihn das Gebiet Haringvliet (NL 1000015) ohne den Leenheerenpolder in diese Liste aufgenommen worden ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.