Language of document : ECLI:EU:C:2022:865

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

10. November 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2005/212/JI – Anwendbarkeit – Verhängung einer Geldstrafe gegen eine juristische Person wegen der Nichtzahlung von Steuerschulden – Begriff ‚Einziehung‘ – Art. 48, 49 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Sanktionen strafrechtlicher Natur – Grundsätze der Unschuldsvermutung, der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Verteidigungsrechte – Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion gegen eine juristische Person wegen einer vom Vertreter dieser juristischen Person begangenen Straftat – Nicht abgeschlossenes paralleles Strafverfahren gegen diesen Vertreter – Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑203/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Okrazhen sad – Burgas (Regionalgericht Burgas, Bulgarien) mit Entscheidung vom 12. März 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 31. März 2021, in dem Strafverfahren gegen

DELTA STROY 2003,

Beteiligte:

Okrazhna prokuratura – Burgas,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Juni 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 4 und 5 des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten (ABl. 2005, L 68, S. 49) sowie von Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens gegen die DELTA STROY 2003 EOOD (im Folgenden: Delta Stroy) zur Verhängung einer Geldstrafe gegen dieses Unternehmen wegen einer ihrer Geschäftsführerin und Vertreterin zur Last gelegten Straftat im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Rahmenbeschluss 2005/212

3        Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) des Rahmenbeschlusses 2005/212 sieht vor:

„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck

–        ‚Ertrag‘ jeden wirtschaftlichen Vorteil, der durch Straftaten erlangt wird. Dieser Vorteil kann aus Vermögensgegenständen aller Art gemäß der Begriffsbestimmung unter dem folgenden Gedankenstrich bestehen;

–        ‚Vermögensgegenstände‘ Vermögensgegenstände jeder Art, körperliche oder nichtkörperliche, bewegliche oder unbewegliche, sowie rechtserhebliche Schriftstücke oder Urkunden, die das Recht auf solche Vermögensgegenstände oder Rechte daran belegen;

–        ‚Tatwerkzeuge‘ alle Gegenstände, die in irgendeiner Weise ganz oder teilweise zur Begehung einer oder mehrerer Straftaten verwendet werden oder verwendet werden sollen;

–        ‚Einziehung‘ eine Strafe oder Maßnahme, die von einem Gericht im Anschluss an ein eine Straftat oder mehrere Straftaten betreffendes Verfahren angeordnet wurde und die zur endgültigen Einziehung von Vermögensgegenständen führt;

…“

4        Art. 2 („Einziehung“) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge aus Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind, oder Vermögensgegenstände, deren Wert diesen Erträgen entspricht, ganz oder teilweise eingezogen werden können.

(2)      In Verbindung mit Steuerstraftaten können die Mitgliedstaaten andere Verfahren als Strafverfahren anwenden, um den Tätern die Erträge aus der Straftat zu entziehen.“

5        Art. 4 („Rechtsmittel“) des Rahmenbeschlusses lautet:

„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass alle von den Maßnahmen nach den Artikeln 2 und 3 betroffenen Parteien über wirksame Rechtsmittel zur Wahrung ihrer Rechte verfügen.“

6        Art. 5 („Garantien“) des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, einschließlich insbesondere der Unschuldsvermutung, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

 Rahmenbeschluss 2005/214/JI

7        Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (ABl. 2005, L 76, S. 16) bestimmt:

„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck

b)      ‚Geldstrafe oder Geldbuße‘ die Verpflichtung zur Zahlung

i)      eines in einer Entscheidung festgesetzten Geldbetrags aufgrund einer Verurteilung wegen einer Zuwiderhandlung;

Unter den Ausdruck ‚Geldstrafe oder Geldbuße‘ fallen nicht

–        Anordnungen über die Einziehung von Tatwerkzeugen oder von Erträgen aus Straftaten;

…“

 Richtlinie 2014/42/EU

8        Art. 2 der Richtlinie 2014/42/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Sicherstellung und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union (ABl. 2014, L 127, S. 39) bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Ertrag‘ jeden wirtschaftlichen Vorteil, der direkt oder indirekt durch eine Straftat erlangt wird; dieser Vorteil kann aus Vermögensgegenständen aller Art bestehen und schließt eine spätere Reinvestition oder Umwandlung direkter Erträge sowie geldwerte Vorteile ein;

2.      ‚Vermögensgegenstände‘ körperliche oder unkörperliche, bewegliche oder unbewegliche Vermögensgegenstände jeder Art sowie Urkunden oder rechtserhebliche Schriftstücke, die das Recht auf solche Vermögensgegenstände oder Rechte daran belegen;

4.      ‚Einziehung‘ eine von einem Gericht in Bezug auf eine Straftat angeordnete endgültige Entziehung von Vermögensgegenständen;

…“

9        Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die Gemeinsame Maßnahme 98/699/JI [vom 3. Dezember 1998 – vom Rat aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union angenommen – betreffend Geldwäsche, die Ermittlung, das Einfrieren, die Beschlagnahme und die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten (ABl. 1998, L 333, S. 1)], Artikel 1 Buchstabe a sowie die Artikel 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2001/500/JI [des Rates vom 26. Juni 2001 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten (ABl. 2001, L 182, S. 1)] und die Artikel 1 Gedankenstriche 1 bis 4 und Artikel 3 des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI werden durch die vorliegende Richtlinie für die Mitgliedstaaten ersetzt, die durch die vorliegende Richtlinie gebunden sind, unbeschadet der Pflichten dieser Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit den Fristen für die Umsetzung dieser Rahmenbeschlüsse in innerstaatliches Recht.“

 Bulgarisches Recht

 ZANN

10      Das Zakon za administrativnite narushenia i nakazania (Gesetz über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Verwaltungssanktionen) (DV Nr. 92 vom 28. November 1969) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZANN) enthält ein Kapitel 4 („Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur gegen juristische Personen und Einzelunternehmer“), das die Art. 83, 83a, 83b und 83d bis 83g dieses Gesetzes enthält.

11      Art. 83 dieses Gesetzes bestimmt:

„(1)      In den in einem einschlägigen Gesetz oder einer einschlägigen Verordnung, Verordnung des Ministerrats oder Gemeindeverordnung vorgesehenen Fällen kann gegen juristische Personen und Einzelunternehmer wegen eines Verstoßes gegen ihre gegenüber dem Staat oder der Gemeinde bestehenden Pflichten bei der Ausübung ihrer Tätigkeit eine Geldstrafe verhängt werden.

(2)      Die im vorstehenden Absatz genannte Strafe wird nach den in diesem Gesetz vorgesehenen Modalitäten verhängt, wenn im entsprechenden normativen Akt nichts anderes bestimmt ist.“

12      Art. 83a dieses Gesetzes sieht vor:

„(1)      Gegen eine juristische Person, die sich bereichert hat oder bereichern könnte durch eine Straftat gemäß Art. 255 … des Strafgesetzbuchs sowie durch eine sonstige Straftat, die zugunsten oder im Auftrag einer organisierten kriminellen Vereinigung begangen wurde, durch

1.      eine Person, die befugt ist, die juristische Person zu verpflichten,

2.      eine Person, die die juristische Person vertritt,

3.      eine Person, die in ein Kontroll- oder Aufsichtsorgan der juristischen Person gewählt wurde, oder

4.      einen Arbeiter oder Angestellten, dem die juristische Person eine besondere Aufgabe übertragen hat, wenn die Straftat im Rahmen oder bei Gelegenheit dieser Aufgabe begangen wurde,

wird eine Geldstrafe von bis zu 1 000 000 [bulgarische Leva (BGN), ungefähr 511 000 Euro] verhängt, mindestens jedoch in Höhe des erlangten Vorteils, wenn es sich um einen Vermögensvorteil handelt …

(2)      Die Geldstrafe wird auch gegen juristische Personen verhängt, die ihren Sitz nicht im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien haben, wenn die in Abs. 1 genannte Straftat im Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien begangen wurde.

(3)      Die Geldstrafe wird gegen die juristische Person selbst dann verhängt, wenn die in Abs. 1 Nrn. 1, 2 und 3 genannten Personen zu den genannten Straftaten angestiftet oder dabei Beihilfe geleistet haben oder wenn die Straftat das Stadium des Versuchs nicht überschritten hat.

(4)      Die Geldstrafe wird unabhängig von der tatsächlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit der an der Straftat nach Abs. 1 beteiligten Personen verhängt.

(5)      Der unmittelbare oder mittelbare Vorteil, den die juristische Person aus der Straftat nach Abs. 1 erlangt hat, wird zugunsten des Staates eingezogen, sofern er nicht der Erstattung oder Rückgewähr oder der Einziehung nach dem Strafgesetzbuch unterliegt. Ist die Sache oder der Vermögensgegenstand, die bzw. der Gegenstand der Straftat ist, abhandengekommen oder veräußert worden, wird der Gegenwert in Leva [BGN] zugesprochen.

…“

13      Art. 83b ZANN bestimmt:

„(1)      Das Verfahren nach Art. 83a wird auf den mit Gründen versehenen Antrag des Staatsanwalts, der für die Untersuchung des Falles oder der Akte der betreffenden Straftat zuständig ist, beim Okrazhen sad [Regionalgericht] des Sitzes der juristischen Person und in den Fällen nach Art. 83а Abs. 2 beim Sofiyski gradski sad [Stadtgericht Sofia] eingeleitet:

1.      nach Einreichung bei Gericht der Anklageschrift, eines Beschlusses mit dem Antrag, den Täter von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit freizustellen und gegen ihn eine Verwaltungssanktion zu verhängen, oder einer Vereinbarung zur Erledigung im Wege der Verständigung;

(2)      Der Antrag muss enthalten:

1.      eine Beschreibung der Straftat, Angaben zu den Umständen, unter denen sie begangen wurde, und eine Darlegung des Bestehens eines Kausalzusammenhangs zwischen der Straftat und dem Vorteil für die juristische Person;

2.      Angaben zu Art und Höhe des Vorteils;

3.      den Namen, den Gegenstand der Tätigkeit, den Sitz und die Anschrift der Geschäftsleitung der juristischen Person;

4.      die personenbezogenen Daten des Vertreters der juristischen Person;

5.      die personenbezogenen Daten der wegen der Straftat angeklagten oder verurteilten Personen;

6.      ein Verzeichnis der schriftlichen Unterlagen, die die Umstände nach den Nrn. 1 und 2 belegen, oder beglaubigte Kopien dieser Unterlagen;

7.      eine Liste der zu ladenden Personen;

8.      das Datum und den Ort seiner Erstellung sowie den Namen, die Funktion und die Unterschrift des Staatsanwalts.

…“

14      Art. 83d dieses Gesetzes bestimmt:

„…

(2)      Das Gericht, das in Einzelrichterbesetzung tagt, prüft den Antrag in öffentlicher Sitzung, an der die Staatsanwaltschaft teilnimmt und zu der die juristische Person geladen wird.

(3)      Das Nichterscheinen des Vertreters der juristischen Person trotz ordnungsgemäßer Ladung steht einer Entscheidung des Gerichts in der Rechtssache nicht entgegen.

(4)      Das Gericht führt die Beweisaufnahme von Amts wegen oder auf Antrag der Parteien durch.

(5)      Das Gericht prüft die Rechtssache und beurteilt auf der Grundlage der Beweisaufnahme:

1.      ob die betreffende juristische Person einen rechtswidrigen Vorteil erlangt hat;

2.      ob zwischen dem Täter und der juristischen Person eine Verbindung besteht;

3.      ob zwischen der Straftat und dem von der juristischen Person erlangten Vorteil ein Zusammenhang besteht;

4.      die Art und Höhe des Vorteils, wenn es sich um einen Vermögensvorteil handelt.

(6)      Das Gericht erlässt eine Entscheidung, mit der es

1.      eine Geldstrafe verhängt, [oder]

2.      die Verhängung einer Geldstrafe ablehnt.

(7)      Die Entscheidung nach Abs. 6 Nr. 1 enthält:

1.      Angaben zur juristischen Person;

2.      Angaben zum Ursprung, zur Art und zur Höhe des Vorteils;

3.      den Betrag der verhängten Geldbuße;

4.      die Beschreibung des Vermögensgegenstands, der gegebenenfalls zugunsten des Staates eingezogen wird;

5.      die Kostenfestsetzung.

…“

15      In Art. 83e des Gesetzes heißt es:

„…

(1)      Gegen die Entscheidung des Okrazhen sad [Regionalgericht] nach Art. 83d Abs. 6 kann innerhalb einer Frist von 14 Tagen nach ihrer Zustellung an die Parteien beim Apelativen sad [Berufungsgericht] Berufung [durch die Person, gegen die eine Strafe verhängt wurde] oder Widerspruch [‚Protest‘] [durch die Staatsanwaltschaft] eingelegt werden.

(2)      Die Sache wird in öffentlicher Sitzung unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft erörtert. Die juristische Person wird ebenfalls zur Sitzung geladen.

(3)      Im Verfahren … sind lediglich schriftliche Beweise zugelassen.

(4)      Der Apelativen sad [(Berufungsgericht)] erlässt eine Entscheidung, mit der er

1.      die Entscheidung des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] aufheben und die Sache zur erneuten Prüfung zurückverweisen kann, wenn im erstinstanzlichen Verfahren wesentliche Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften begangen wurden;

2.      die Entscheidung des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] aufheben und eine Geldstrafe verhängen kann;

3.      die Entscheidung des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] aufheben und die Verhängung einer Geldstrafe ablehnen kann;

4.      die Entscheidung des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] abändern kann;

5.      die Entscheidung des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] bestätigen kann.

(5)      Die Entscheidung des Apelativen sad [(Berufungsgericht)] ist endgültig.“

16      Art. 83f ZANN lautet:

„…

(1)      Ein Verfahren, in dem ein rechtskräftiges Urteil des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] oder des Apelativen sad [(Berufungsgericht)] ergangen ist, kann wiederaufgenommen werden, wenn

1.      durch ein rechtskräftiges Urteil oder eine rechtskräftige Entscheidung festgestellt wird, dass einige der schriftlichen Beweise, auf deren Grundlage die Entscheidung ergangen ist, falsch sind oder unzutreffende Informationen enthalten;

2.      durch ein rechtskräftiges Urteil oder eine rechtskräftige Entscheidung festgestellt wird, dass der Richter, der Staatsanwalt, eine Partei oder ein Verfahrensbeteiligter im Zusammenhang mit seiner Teilnahme am Verfahren eine Straftat begangen hat;

3.      nach Rechtskraft der Entscheidung, mit der gegen die juristische Person eine Geldstrafe verhängt wurde, die in Art. 83a Abs. 1 Nrn. 1 bis 4 genannte Person durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil freigesprochen wurde oder die Staatsanwaltschaft das ausgesetzte Ermittlungsverfahren in den in Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung genannten Fällen eingestellt hat;

4.      nach Rechtskraft der Entscheidung Umstände oder Beweismittel bekannt werden, die der Partei oder dem Gericht nicht bekannt waren und für die Rechtssache von wesentlicher Bedeutung sind;

5.      durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten festgestellt wurde, die für die Rechtssache von wesentlicher Bedeutung ist;

6.      im Laufe des Verfahrens ein wesentlicher Verstoß gegen Verfahrensvorschriften begangen wurde.

(2)      Der Antrag auf Wiederaufnahme kann innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab Kenntnis der begründenden Umstände und in den Fällen nach Abs. 1 Nr. 6 ab Rechtskraft der Entscheidung des Okrazhen sad [(Regionalgericht)] oder des Apelativen sad [(Berufungsgericht)] gestellt werden.

(3)      Durch den Antrag auf Wiederaufnahme wird die Vollstreckung der rechtskräftig gewordenen Entscheidung nicht gehemmt, es sei denn, das Gericht ordnet etwas anderes an.

(4)      Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens kann gestellt werden:

1.      vom Staatsanwalt der Regionalstaatsanwaltschaft;

2.      von der juristischen Person, gegen die eine Geldstrafe verhängt wurde.

(5)      Der Wiederaufnahmeantrag wird vom Apelativen sad [(Berufungsgericht)] des Gerichtsbezirks geprüft, in dem sich die Stelle befindet, die die in Kraft getretene Entscheidung erlassen hat.

(6)      Der Apelativen sad [(Berufungsgericht)] prüft den Antrag in einem mit drei Richtern besetzten Spruchkörper. Betrifft der Antrag eine Entscheidung des Apelativen sad [(Berufungsgericht)], so wird der Wiederaufnahmeantrag von einer anderen Kammer dieses Apelativen sad [(Berufungsgericht)] geprüft.

(7)      Die Sache wird in öffentlicher Sitzung unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft erörtert. Die juristische Person wird ebenfalls zur Sitzung geladen.

(8)      Hält der Apelativen sad [(Berufungsgericht)] den Antrag für begründet, so hebt er die Entscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung zurück, wobei er angibt, ab welchem Verfahrensschritt die Untersuchung erneut durchgeführt werden muss.“

17      Art. 83g dieses Gesetzes bestimmt:

„Für Fragestellungen, die nicht in den Art. 83b und 83d bis 83f geregelt sind, gelten die Bestimmungen der Strafprozessordnung.“

 Strafgesetzbuch

18      Art. 255 Abs. 1 des Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch) bestimmt:

„Wer sich der Festsetzung oder der Zahlung von Steuerschulden in großer Höhe entzieht, indem er

2.      falsche Informationen vorlegt oder die Wahrheit in der von ihm vorgelegten Erklärung verschweigt,

3.      es versäumt, eine Rechnung oder andere Buchhaltungsunterlagen vorzulegen,

wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu sechs Jahren und mit Geldstrafe von bis zu 2 000 [BGN] bestraft“.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

19      ZK ist Geschäftsführerin und Vertreterin der in Burgas (Bulgarien) ansässigen Delta Stroy. In dieser Eigenschaft wurde ZK am 5. August 2019 zur Last gelegt, durch eine fortgesetzte Straftat die Zahlung von Steuerverbindlichkeiten in Höhe von insgesamt 11 388,98 BGN (ca. 5 800 Euro) – der für die Besteuerungszeiträume März, April und Juli 2009 geschuldeten Mehrwertsteuer – vermieden zu haben, was eine Straftat nach Art. 255 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 des Strafgesetzbuchs darstelle. Zum Zeitpunkt der Einreichung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens war dieses Strafverfahren beim Okrazhen sad – Burgas (Regionalgericht Burgas, Bulgarien) anhängig.

20      Am 9. Dezember 2020 beantragte der Staatsanwalt der Okrazhna prokuratura – Burgas (Regionalstaatsanwaltschaft Burgas, Bulgarien) beim genannten Gericht in einem gesonderten Verfahren gemäß den Art. 83a ff. ZANN die Verhängung einer Geldstrafe gegen Delta Stroy wegen Erlangung eines Vermögensvorteils aus der von ZK begangenen Straftat. Dem Antrag war die ZK betreffende Anklageschrift beigefügt.

21      Der Okrazhen sad – Burgas (Regionalgericht Burgas) hegt Zweifel an der Vereinbarkeit der Art. 83a ff. ZANN mit dem Rahmenbeschluss 2005/212 und dem in Art. 49 der Charta verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, da sie es dem Strafgericht ermöglichten, gegen eine juristische Person wegen einer Straftat, die Gegenstand eines parallelen, noch nicht endgültig abgeschlossenen Strafverfahrens sei, eine Geldstrafe zu verhängen.

22      Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass nach einer früheren Fassung der einschlägigen Bestimmungen des ZANN eine Geldstrafe gegen eine juristische Person wegen einer von einer natürlichen Person im Zusammenhang mit der Tätigkeit dieser juristischen Person begangenen Straftat erst dann habe verhängt werden dürfen, wenn die gerichtliche Entscheidung, mit der diese natürliche Person verurteilt worden sei, rechtskräftig geworden sei. Nach der Änderung dieser Bestimmungen sei dieses Erfordernis jedoch aufgegeben worden.

23      In der vorliegenden Rechtssache seien zwei parallele Verfahren eingeleitet worden, eines gegen ZK, nach Art. 255 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs, wegen einer Steuerstraftat, die sie begangen haben solle, und ein anderes gegen Delta Stroy, nach den Art. 83a ff. ZANN, das darauf gerichtet sei, gegen diese Gesellschaft eine Geldstrafe in Höhe des sich aus dieser Straftat ergebenden Vermögensvorteils zu verhängen. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das ZANN nicht die Möglichkeit vorsehe, das Verfahren nach seinen Art. 83a ff. auszusetzen, bis das Strafverfahren gegen ZK abgeschlossen sei.

24      Sodann stellt nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Verhängung einer Geldstrafe gegen eine juristische Person wegen der Begehung einer Straftat durch eine natürliche Person in Höhe des Vorteils, den diese juristische Person aus dieser Straftat erlangt habe oder erlangen könnte, eine vollständige oder teilweise Einziehung der Erträge aus der Straftat im Sinne von Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212 dar.

25      Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass in Art. 49 der Charta der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen verankert sei, der es verbiete, eine Strafe zu verhängen, bevor das Vorliegen einer Straftat festgestellt worden sei. Was das ZANN angehe, gehöre jedoch die Frage, ob von der natürlichen Person tatsächlich eine Straftat begangen worden sei, nicht zu den Punkten, die das Strafgericht nach Art. 83d Abs. 5 dieses Gesetzes im Hinblick auf die Verhängung einer etwaigen Geldstrafe gegen die juristische Person beurteilen müsse.

26      So erlaube es das Verfahren nach den Art. 83a ff. ZANN in der Praxis, gegen eine juristische Person eine Strafe zu verhängen, die allein auf den in der Anklage gegen den Geschäftsführer und Vertreter dieser juristischen Person enthaltenen Angaben zu einer bestimmten Straftat beruhe, deren Vorliegen noch nicht durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung festgestellt worden sei.

27      Unter diesen Umständen hat der Okrazhen sad – Burgas (Regionalgericht Burgas) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die Art. 4 und 5 des Rahmenbeschlusses 2005/212 sowie Art. 49 der Charta dahin auszulegen, dass sie eine Regelung eines Mitgliedstaats zulassen, nach der das nationale Gericht in einem Verfahren wie dem Ausgangsverfahren gegen eine juristische Person wegen einer konkreten Straftat, deren Begehung noch nicht festgestellt wurde, weil sie Gegenstand eines nicht endgültig abgeschlossenen parallelen Strafverfahrens ist, eine Strafe verhängen kann?

2.      Sind die Art. 4 und 5 des Rahmenbeschlusses 2005/212 sowie Art. 49 der Charta dahin auszulegen, dass sie eine Regelung eines Mitgliedstaats zulassen, nach der das nationale Gericht in einem Verfahren wie dem Ausgangsverfahren gegen eine juristische Person eine Strafe verhängen kann, indem es die Höhe dieser Strafe auf den Betrag des Ertrags festsetzt, der durch eine konkrete Straftat erlangt worden wäre, deren Begehung noch nicht festgestellt wurde, weil sie Gegenstand eines nicht endgültig abgeschlossenen parallelen Strafverfahrens ist?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

 Vorbemerkungen

28      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Es ist nämlich Aufgabe des Gerichtshofs, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um in den bei ihnen anhängigen Verfahren zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den dem Gerichtshof vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 2022, Pensionsversicherungsanstalt [Kindererziehungszeiten im Ausland], C‑576/20, EU:C:2022:525, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Hierzu ist als Erstes festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage zwar wissen möchte, wie die Art. 4 und 5 des Rahmenbeschlusses 2005/212, der die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten betrifft, auszulegen sind, es im Ausgangsverfahren jedoch nicht um ein solches Einziehungsverfahren geht.

30      Was zunächst den Begriff „Einziehung“ angeht, ist nämlich nicht auf die Definition in Art. 1 vierter Gedankenstrich des Rahmenbeschlusses 2005/212 abzustellen, sondern auf die Definition in Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/42, da diese Richtlinie nach ihrem Art. 14 Abs. 1 u. a. Art. 1 Gedankenstriche 1 bis 4 dieses Rahmenbeschlusses ersetzt hat. Nach der letztgenannten Definition ist eine Einziehung „eine von einem Gericht in Bezug auf eine Straftat angeordnete endgültige Entziehung von Vermögensgegenständen“.

31      Sodann verlangt Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212, dass jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen trifft, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge aus Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind, oder Vermögensgegenstände, deren Wert diesen Erträgen entspricht, ganz oder teilweise eingezogen werden können.

32      Schließlich ergibt sich aus Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2014/42, dass ein „Ertrag“ jeder wirtschaftliche Vorteil ist, der durch eine Straftat erlangt wird, und dass dieser Vorteil aus Vermögensgegenständen aller Art bestehen kann.

33      In diesem Rahmen stellt ein Geldbetrag zwar einen „Vermögensgegenstand“ dar, der eingezogen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2021, Okrazhna prokuratura – Varna, C‑845/19 und C‑863/19, EU:C:2021:864, Rn. 58), doch kann ein solcher Vermögensgegenstand nur dann Gegenstand einer Einziehungsmaßnahme nach Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212 sein, wenn er dem aus einer Straftat stammenden Vorteil, d. h. dem Ertrag dieser Straftat, oder dem Tatwerkzeug dieser Straftat, d. h. dem Gegenstand, der zur Begehung dieser Straftat verwendet wurde oder verwendet werden sollte, entspricht.

34      Dagegen bezeichnet der Begriff „Geldstrafe oder Geldbuße“ nach der Definition in Art. 1 Buchst. b Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2005/214 die Verpflichtung zur Zahlung eines in einer Entscheidung in Strafsachen festgesetzten Geldbetrags aufgrund einer Verurteilung wegen einer Zuwiderhandlung. Diese Bestimmung stellt klar, dass dieser Begriff u. a. Entscheidungen über die Einziehung von Tatwerkzeugen oder Erträgen aus Straftaten nicht umfasst.

35      Hierzu ist festzustellen, dass die Höhe der Geldstrafe oder Geldbuße nicht notwendig dem Wert des wirtschaftlichen Vorteils entsprechen wird, der aus der Straftat gezogen wurde, die mit dieser Strafe oder Buße geahndet wird. Diese kann nämlich auf einen Betrag festgesetzt werden, der unter dem Wert dieses Vorteils liegt, diesem Wert entspricht oder diesen übersteigt, und sogar verhängt werden, wenn kein solcher Vorteil vorliegt, oder mit der Einziehung der Erträge aus der Straftat einhergehen. Im Übrigen kann eine solche Geldstrafe oder Geldbuße auch nicht mit der Einziehung des Tatwerkzeugs, mit dem die betreffende Straftat begangen wurde, gleichgesetzt werden.

36      Somit zeigt sich, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Rahmenbeschlüsse 2005/212 und 2005/214 zwischen Maßnahmen betreffend die Einziehung von Vermögensgegenständen, die den Ertrag aus Straftaten oder das hierfür verwendete Tatwerkzeug darstellen, und Maßnahmen, die die mit solchen Straftaten verbundene Geldstrafe oder Geldbuße betreffen, unterscheiden wollte.

37      Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die Verhängung einer Geldstrafe gegen eine juristische Person wegen der Begehung einer Straftat durch eine natürliche Person in Höhe des Vorteils, den diese juristische Person aus dieser Straftat erlangt hat oder erlangen könnte, eine vollständige oder teilweise Einziehung der Erträge aus der Straftat im Sinne von Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/212 darstelle. Es erklärt jedoch, dass das bulgarische Recht die Verhängung einer solchen Geldstrafe auch dann erlaube, wenn tatsächlich kein Vorteil erlangt worden sei oder der Vorteil nicht vermögensrechtlicher Art sei. Ferner konzentriere sich das Verfahren nach den Art. 83a ff. ZANN nicht ausschließlich auf rechtswidrig erworbene Vermögensgegenstände. Außerdem ergibt sich aus Art. 83a Abs. 1 ZANN, dass die Höhe der Geldstrafe, die verhängt werden kann, den Wert des erlangten Vorteils übersteigen kann.

38      Nach alledem stellt eine Geldstrafe wie die in Art. 83a Abs. 1 ZANN vorgesehene keine Einziehungsmaßnahme im Sinne des Rahmenbeschlusses 2005/212 und der Richtlinie 2014/42 dar, selbst wenn die Höhe dieser Strafe dem Wert des aus der Straftat gezogenen Vermögensvorteils entspricht.

39      Folglich ist dieser Rahmenbeschluss auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar, so dass seine Art. 4 und 5 im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens nicht auszulegen sind.

40      Als Zweites ist zu den Zweifeln des vorlegenden Gerichts hinsichtlich der Vereinbarkeit der Art. 83a ff. ZANN mit Art. 49 der Charta erstens festzustellen, dass Gegenstand des Ausgangsverfahrens die Verhängung einer Geldstrafe gegen eine Gesellschaft wegen eines rechtswidrigen Vermögensvorteils ist, den diese aufgrund einer Straftat erlangt hat, die ihre Vertreterin und Geschäftsführerin im Bereich der Mehrwertsteuererklärung begangen haben soll.

41      Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass von den nationalen Steuerbehörden verhängte Verwaltungssanktionen und wegen Mehrwertsteuerstraftaten eingeleitete Strafverfahren als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen sind, da sie die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherstellen und Betrug bekämpfen sollen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26 und 27, sowie vom 5. Mai 2022, BV, C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 26). Dies gilt auch für von einem Gericht im Kontext solcher Strafverfahren verhängte Strafen. Die Charta ist folglich auf das Ausgangsverfahren anwendbar.

42      Zweitens steht fest, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sanktionsregelung strafrechtlicher Natur ist. Das vorlegende Gericht weist insbesondere darauf hin, dass das Verfahren nach den Art. 83a ff. ZANN alle Merkmale eines Strafverfahrens aufweise.

43      Drittens ist in Art. 49 der Charta u. a. der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen verankert, und dieser Artikel entspricht, wie sich aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) ergibt, Art. 7 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK).

44      Soweit die Charta Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, haben diese nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in dieser Konvention verliehen werden. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung von Art. 49 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das nicht hinter dem in Art. 7 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierten Schutzniveau zurückbleibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      Wie das vorlegende Gericht selbst ausgeführt hat, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass Art. 7 EMRK die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion gegen eine Person ausschließt, wenn nicht ihre persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit zuvor festgestellt und erklärt wurde, da andernfalls auch die von Art. 6 Abs. 2 EMRK garantierte Unschuldsvermutung verletzt würde (EGMR, Urteil vom 28. Juni 2018, G.I.E.M. s.r.l. u. a./Italien, CE:ECHR:2018:0628JUD000182806, § 251).

46      Da Art. 49 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dieselben Vorgaben enthält wie die, die sich aus Art. 7 EMRK ergeben und in der vorstehenden Randnummer genannt sind, ist Art. 49 der Charta für die Beantwortung der ersten Vorlagefrage relevant.

47      Allerdings entsprechen, wie die in Rn. 45 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung bestätigt, diese Vorgaben auch denen, die sich aus dem in Art. 6 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatz der Unschuldsvermutung ergeben, der in Art. 48 Abs. 1 der Charta ausdrücklich niedergelegt ist.

48      In Anbetracht des Gegenstands des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens, das im Wesentlichen die über eine Vermutung erfolgende Zuweisung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit an eine juristische Person wegen des Verhaltens ihres Vertreters und Geschäftsführers betrifft, genügt es im Rahmen der Beantwortung dieser Frage somit, nicht auf Art. 49, sondern auf Art. 48 Abs. 1 der Charta Bezug zu nehmen, der – in Übereinstimmung mit der in Rn. 44 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung – so auszulegen ist, dass ein Schutzniveau gewährleistet wird, das nicht hinter dem in Art. 6 EMRK garantierten Schutzniveau zurückbleibt.

49      Art. 48 Abs. 2 der Charta, in dem der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte verankert ist, erscheint für die Erteilung einer sachdienlichen Antwort an das vorlegende Gericht ebenfalls relevant.

50      Daher ist die erste Frage dahin umzuformulieren, dass mit ihr geklärt werden soll, ob Art. 48 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein nationales Gericht gegen eine juristische Person eine strafrechtliche Sanktion wegen einer Straftat verhängen kann, für die eine natürliche Person, die befugt ist, diese juristische Person zu verpflichten oder zu vertreten, verantwortlich sein soll, wenn diese Verantwortlichkeit noch nicht endgültig festgestellt wurde.

 Zur Begründetheit

51      Nach Art. 48 Abs. 1 der Charta gilt jeder Angeklagte bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig. Dieser Grundsatz ist anwendbar, wenn es darum geht, die objektiven Tatbestandsmerkmale eines Verstoßes zu bestimmen, der zur Verhängung von Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur führen kann (Urteil vom 9. September 2021, Adler Real Estate u. a., C‑546/18, EU:C:2021:711, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie in Rn. 42 des vorliegenden Urteils festgestellt, ist dies hier der Fall.

52      Außerdem bestimmt Art. 48 Abs. 2 der Charta, dass jedem Angeklagten die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet wird. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Achtung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu Sanktionen führen können, einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts darstellt (Urteile vom 14. September 2010, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission u. a., C‑550/07 P, EU:C:2010:512, Rn. 92, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 204).

53      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ergibt sich aus Art. 83a Abs. 1 in Verbindung mit den Art. 83b und 83f ZANN, dass gegen eine juristische Person eine Strafe verhängt werden kann, wenn sie sich infolge einer Straftat bereichert hat oder bereichern kann, die einer natürlichen Person zugerechnet wird, die befugt ist, diese juristische Person zu verpflichten, oder diese vertritt, und zwar noch bevor diese natürliche Person wegen dieser Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist.

54      Im Übrigen ergibt sich aus dem Vorlagebeschluss, dass ein Gericht, bei dem der zuständige Staatsanwalt beantragt, gemäß Art. 83a Abs. 1 ZANN eine Geldstrafe gegen eine juristische Person zu verhängen, gemäß Art. 83d Abs. 5 dieses Gesetzes die Sache allein anhand der in dieser Vorschrift genannten Punkte prüfen muss, d. h. des Erlangens eines rechtswidrigen Vorteils durch die fragliche juristische Person, des Bestehens einer Verbindung zwischen dem Täter und der juristischen Person, des Bestehens eines Zusammenhangs zwischen der Straftat und dem erlangten Vorteil sowie der Art und Höhe des Vorteils, wenn es sich um einen Vermögensvorteil handelt. Das vorlegende Gericht führt aus, dass alle diese Punkte auf der Prämisse beruhten, dass eine Straftat begangen wurde. Das mit dem Antrag des zuständigen Staatsanwalts befasste Gericht sei nicht befugt, das Zutreffen dieser Prämisse in Frage zu stellen, da die Frage, ob eine Straftat begangen wurde, nur im Rahmen des Strafverfahrens gegen die natürliche Person behandelt werden könne.

55      Schließlich geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass die juristische Person über einen Rechtsbehelf mit unbeschränkter Nachprüfung verfügen würde, der es ihr ermöglichen würde, in einem späteren Stadium des gegen sie eröffneten Verfahrens das Vorliegen einer Straftat zu bestreiten.

56      Zwar kann diese juristische Person gemäß Art. 83e ZANN Berufung gegen ihre Verurteilung einlegen, doch scheint auch das Berufungsgericht nicht in der Lage zu sein, zu beurteilen, ob diese Prämisse zutrifft.

57      Außerdem kann das Verfahren, das zur Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion gegen die juristische Person geführt hat, gemäß Art. 83f ZANN nur unter bestimmten ganz besonderen Umständen wiederaufgenommen werden. Ohne dass über die Frage entschieden zu werden braucht, ob diese Wiederaufnahmegründe dem mit der Rechtssache befassten Gericht weiterreichende Befugnisse einräumen als die, über die es bei der Entscheidung in erster Instanz oder in der Berufungsinstanz verfügte, genügt daher die Feststellung, dass es sich um einen außerordentlichen Rechtsbehelf handelt, der der nach den Art. 83a ff. ZANN strafrechtlich verurteilten juristischen Person nicht ohne Weiteres zur Verfügung steht.

58      Daraus folgt, wie der Generalanwalt in den Nrn. 50 und 52 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, dass die juristische Person infolge einer Straftat, die der natürlichen Person zugerechnet wird, die befugt ist, sie zu verpflichten oder zu vertreten, rechtskräftig strafrechtlich belangt werden kann, ohne dass das zuständige Gericht beurteilen kann, ob die Straftat tatsächlich begangen wurde, und ohne dass die juristische Person hierzu in sachdienlicher Weise ihren Standpunkt vortragen kann.

59      Eine solche Situation kann den Grundsatz der Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte, die dieser juristischen Person durch Art. 48 der Charta garantiert werden, in offensichtlich unverhältnismäßiger Weise verletzen.

60      Es trifft zwar zu, dass Art. 48 der Charta einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, Vermutungen tatsächlicher oder rechtlicher Art einzuführen, doch ist es Sache dieses Mitgliedstaats, die in Strafgesetzen enthaltenen Vermutungen angemessen einzugrenzen, wobei das Gewicht der betroffenen Belange zu berücksichtigen ist und die Verteidigungsrechte zu wahren sind, da andernfalls der in Abs. 1 dieses Artikels verankerte Grundsatz der Unschuldsvermutung in unverhältnismäßiger Weise verletzt würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Adler Real Estate u. a., C‑546/18, EU:C:2021:711, Rn. 47).

61      Desgleichen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen eine einfache oder objektive Tatsache als solche bestrafen können. Soweit es um das Strafrecht geht, verpflichtet der EGMR die Mitgliedstaaten jedoch, gewisse Grenzen zu achten. Diese werden überschritten, wenn eine Vermutung es dem Einzelnen unmöglich macht, sich von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu entlasten, und ihn damit des Schutzes von Art. 6 Abs. 2 EMRK beraubt (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 28. Juni 2018, G.I.E.M. s.r.l. u. a./Italien, CE:ECHR:2018:0628JUD000182806, § 243 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62      Wie in Rn. 54 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist das Gericht, das mit der Verhängung einer Strafe gegen die juristische Person befasst ist, nur befugt, über ganz bestimmte Punkte zu entscheiden, ohne beurteilen zu können, ob die Straftat vorliegt, die eine solche Strafe begründen kann. Daraus folgt, dass diese juristische Person nicht in der Lage ist, ihre Verteidigungsrechte sachgerecht auszuüben, da sie das Vorliegen dieser Straftat nicht bestreiten kann und letztlich die Folgen des Bestehens eines gesonderten Verfahrens gegen die natürliche Person, die befugt ist, sie zu verpflichten oder zu vertreten, zu tragen hat.

63      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Verteidigungsrechte subjektiven Charakter haben, so dass die betroffenen Parteien selbst in der Lage sein müssen, sie wirksam auszuüben (Urteil vom 9. September 2021, Adler Real Estate u. a., C‑546/18, EU:C:2021:711, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Übrigen kann keineswegs ausgeschlossen werden, dass die Interessen der juristischen Person und die Interessen der natürlichen Person, die befugt ist, sie zu verpflichten oder zu vertreten, unterschiedlich sind.

64      Dieses Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die juristische Person nach Art. 83f ZANN die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen kann, um die Aufhebung der gegen sie verhängten Geldstrafe zu erwirken, insbesondere wenn die natürliche Person, die befugt ist, diese juristische Person zu verpflichten oder zu vertreten, von den gegen sie erhobenen Vorwürfen freigesprochen wird. Wie in Rn. 55 des vorliegenden Urteils ausgeführt, kann ein solcher Rechtsbehelf nämlich nicht einem Rechtsbehelf mit unbeschränkter Nachprüfung gleichgestellt werden, der von dieser juristischen Person ohne Weiteres eingelegt werden könnte.

65      Im Übrigen ist es zwar richtig, dass das durch die Art. 83a ff. ZANN eingeführte Verfahren den Schutz der finanziellen Interessen der Union ermöglicht, indem eine korrekte Erhebung der Mehrwertsteuer gewährleistet wird, doch kann ein solches Ziel keinen unverhältnismäßigen Verstoß gegen die in Art. 48 der Charta enthaltenen Garantien rechtfertigen (vgl. entsprechend EGMR, Urteil vom 23. November 2006, Jussila/Finnland, CE:ECHR:2006:1123JUD007305301, § 36). Im Übrigen steht nicht fest, dass ein Verfahren wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende erforderlich wäre, um eine systemische Gefahr der Straflosigkeit zu vermeiden.

66      Daraus folgt, dass ein Verfahren wie das in den Art. 83a ff. ZANN vorgesehene einen offensichtlich unverhältnismäßigen Eingriff in die in Art. 48 der Charta verankerten Rechte darstellt.

67      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 48 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein nationales Gericht gegen eine juristische Person eine strafrechtliche Sanktion wegen einer Straftat verhängen kann, für die eine natürliche Person, die befugt ist, diese juristische Person zu verpflichten oder zu vertreten, verantwortlich sein soll, wenn dieser juristischen Person keine Gelegenheit gegeben wurde, das Vorliegen dieser Straftat zu bestreiten.

 Zur zweiten Frage

68      Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

69      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein nationales Gericht gegen eine juristische Person eine strafrechtliche Sanktion wegen einer Straftat verhängen kann, für die eine natürliche Person, die befugt ist, diese juristische Person zu verpflichten oder zu vertreten, verantwortlich sein soll, wenn dieser juristischen Person keine Gelegenheit gegeben wurde, das Vorliegen dieser Straftat zu bestreiten.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Bulgarisch.