Language of document : ECLI:EU:T:2024:127

URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)

28. Februar 2024(*)

„Wirtschafts- und Währungspolitik – Aufsicht über Kreditinstitute – Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 – Erhebung von Abschöpfungszinsen durch die EZB nach österreichischem Recht im Fall eines Verstoßes gegen Art. 395 der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 und nach einem Beschluss, mit dem eine Verwaltungsgeldbuße nach Art. 18 der Verordnung Nr. 1024/2013 verhängt wurde – Verhältnismäßigkeit“

In den Rechtssachen T‑647/21 und T‑99/22,

Sber Vermögensverwaltungs AG, vormals Sberbank Europe AG, mit Sitz in Wien (Österreich), vertreten durch Rechtsanwalt M. Fellner,

Klägerin,

gegen

Europäische Zentralbank (EZB), vertreten durch K. Lackhoff, J. Poscia und M. Ioannidis als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Republik Österreich, vertreten durch J. Schmoll, F. Koppensteiner und A. Posch als Bevollmächtigte,

Streithelferin,


erlässt

DAS GERICHT (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten F. Schalin sowie des Richters I. Nõmm (Berichterstatter) und der Richterin G. Steinfatt,

Kanzler: V. Di Bucci,

–        aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

–        aufgrund des Umstands, dass keine der Parteien innerhalb von drei Wochen nach Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, und der Entscheidung gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihren Klagen nach Art. 263 AEUV beantragt die Klägerin, die Sber Vermögensverwaltungs AG, die Nichtigerklärung des Beschlusses ECB‑SSM‑2021‑ATSBE‑7 vom 2. August 2021 bzw. des Beschlusses ECB‑SSM‑2021‑ATSBE‑12 vom 21. Dezember 2021 der Europäischen Zentralbank (EZB). Diese beiden Beschlüsse ergingen gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 3 sowie Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 des Rates vom 15. Oktober 2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank (ABl. 2013, L 287, S. 63) in Verbindung mit Art. 395 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 (ABl. 2013, L 176, S. 1, berichtigt in ABl. 2013, L 208, S. 68, und ABl. 2013, L 321, S. 6) und § 97 Abs. 1 Z 2 des Bundesgesetzes über das Bankwesen (Bankwesengesetz) vom 30. Juli 1993 (BGBl. 532/1993) in der Fassung des Bundesgesetzes, mit dem das Bankwesengesetz, das Börsegesetz 2018, das Finalitätsgesetz, das Finanzmarkt-Geldwäsche-Gesetz, das Sanierungs- und Abwicklungsgesetz, das Wertpapieraufsichtsgesetz 2018 und das Zentrale Gegenparteien-Vollzugsgesetz geändert werden, vom 28. Mai 2021 (BGBl. I 98/2021) (im Folgenden: BWG).

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

2        Die Klägerin ist ein österreichisches Kreditinstitut, das der direkten Aufsicht der EZB unterliegt.

3        Am 1. Oktober 2015 teilte die Klägerin der EZB und der Finanzmarktaufsichtsbehörde (Österreich) (im Folgenden: FMA) mit, dass ihre Risikopositionen gegenüber einem Kreditinstitut im Jahr 2015 die Obergrenze für Großkredite nach Art. 395 Abs. 1 der Verordnung Nr. 575/2013 überschritten hätten. Sie wies darauf hin, dass sie diese Überschreitungen beendet habe.

4        Am 15. Februar 2019 beschloss die EZB, gegen die Klägerin eine Verwaltungsgeldbuße in Höhe von 630 000 Euro nach Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1024/2013 wegen eines Verstoßes gegen Art. 395 Abs. 1 der Verordnung Nr. 575/2013 durch Überschreitung der dort festgelegten Obergrenzen für Großkredite auf Einzelbasis und konsolidierter Basis zu verhängen. Um die Höhe dieser Geldbuße zu bestimmen, unterschied sie zwischen dem auf konsolidierter Basis begangenen Verstoß (der nach der durchgeführten Berechnung zu einer Geldbuße in Höhe von 520 000 Euro führen könnte) und dem Verstoß auf Einzelbasis (der nach der durchgeführten Berechnung zu einer Geldbuße in Höhe von 330 000 Euro führen könnte). Da die beiden Verstöße auf denselben Sachverhalt zurückgingen, war die EZB der Ansicht, dass die kumulierte Verhängung dieser beiden Beträge nicht verhältnismäßig wäre, und setzte daher die Geldbuße auf 630 000 Euro fest.

5        Am 17. Februar 2021 teilte die EZB der Klägerin mit, dass sie beabsichtige, ihr gemäß § 97 Abs. 1 Z 2 BWG Abschöpfungszinsen auf die von den Überschreitungen betroffenen Beträge aufzuerlegen, und übermittelte ihr einen entsprechenden Beschlussentwurf.

6        Am 3. März 2021 nahm die Klägerin zu diesem Beschlussentwurf Stellung.

7        Am 29. Juni 2021 gab die EZB der Klägerin nach der am 28. Mai 2021 erfolgten Änderung von § 97 Abs. 1 BWG Gelegenheit, zu einer überarbeiteten Fassung des Beschlussentwurfs Stellung zu nehmen.

8        Am 6. Juli 2021 nahm die Klägerin zu der überarbeiteten Fassung des Beschlussentwurfs Stellung.

9        Am 2. August 2021 erließ die EZB den Beschluss ECB‑SSM‑2021‑ATSBE‑7 (im Folgenden: Beschluss vom 2. August 2021), mit dem der Klägerin für die Überschreitungen, die zwischen Februar und Juni 2015 stattgefunden hatten, Abschöpfungszinsen in Höhe von 2 120 926,08 Euro auferlegt wurden.

10      Erstens wies die EZB darauf hin, dass die Klägerin sie und die FMA darüber informiert habe, dass eine ihrer Risikopositionen den in Art. 395 Abs. 1 der Verordnung Nr. 575/2013 vorgesehenen Schwellenwert von 25 % ihrer anrechenbaren Eigenmittel überschritten habe.

11      Zweitens habe die Klägerin diesen Schwellenwert zum einen auf Einzelbasis an 59 Werktagen in der Zeit vom 5. Februar bis zum 29. Juni 2015 und zum anderen auf konsolidierter Basis an 53 Werktagen in der Zeit vom 10. Februar bis zum 29. Juni 2015 überschritten. Diese Überschreitungen seien innerhalb von vier Kalendermonaten erfolgt.

12      Drittens zog die EZB daraus den Schluss, dass der Klägerin gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 3 sowie Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1024/2013 nach § 97 Abs. 1 Z 2 BWG wegen Verstoßes gegen Art. 395 Abs. 1 der Verordnung Nr. 575/2013 Abschöpfungszinsen sowohl auf Einzelbasis in Höhe von 1 105 359,95 Euro als auch auf konsolidierter Basis in Höhe von 2 120 926,08 Euro aufzuerlegen seien.

13      Am 30. August 2021 beantragte die Klägerin gemäß Art. 24 Abs. 1, 5 und 6 der Verordnung Nr. 1024/2013 in Verbindung mit Art. 7 des Beschlusses der EZB vom 14. April 2014 zur Einrichtung eines administrativen Überprüfungsausschusses und zur Festlegung der Vorschriften für seine Arbeitsweise (ABl. 2014, L 175, S. 47) eine Überprüfung des Beschlusses vom 2. August 2021.

14      Am 12. Oktober 2021 erhob die Klägerin in der Rechtssache T‑647/21 Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses vom 2. August 2021.

15      Am 25. Oktober 2021 gab der administrative Überprüfungsausschuss (Administrative Board of Review, im Folgenden: ABoR) eine Stellungnahme ab, in der er die Auffassung vertrat, dass der Beschluss vom 2. August 2021 erstens hinsichtlich der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der Anwendung von Art. 70 der Richtlinie 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, zur Änderung der Richtlinie 2002/87/EG und zur Aufhebung der Richtlinien 2006/48/EG und 2006/49/EG (ABl. 2013, L 176, S. 338) sowie der Anwendung von § 99e BWG unzureichend begründet sei, zweitens gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer verstoße und drittens hinsichtlich der Entscheidung der EZB, Abschöpfungszinsen für Überschreitungen bei Großkrediten sowohl auf Einzelbasis als auch auf konsolidierter Basis zu erheben, unzureichend begründet sei.

16      Am 21. Dezember 2021 erließ die EZB einen neuen Beschluss, den Beschluss ECB‑SSM‑2021‑ATSBE‑12 (im Folgenden: Beschluss vom 21. Dezember 2021), der nach seinem Abschnitt 3.1 „den Beschluss vom [2. August 2021] ersetzt und ändert“ und nach seinem Abschnitt 3.3 „am Tag der Bekanntgabe des Beschlusses [vom 2. August 2021] wirksam wird“.

17      Die EZB behielt denselben Betrag an Abschöpfungszinsen wie im Beschluss vom 2. August 2021 bei.

18      In Anbetracht der Stellungnahme des ABoR fügte die EZB erstens hinzu, dass es sich bei der Erhebung von Abschöpfungszinsen nach § 97 Abs. 1 Z 2 BWG wegen eines Verstoßes gegen die Pflichten eines Instituts nach Art. 395 der Verordnung Nr. 575/2013 um eine gebundene Entscheidung der zuständigen Behörde handele, so dass ihr kein Ermessen zustehe. Die in § 99e BWG in Bezug auf „Sanktionen“ genannten Elemente seien daher unerheblich. Zweitens seien nach der Rechtsprechung der österreichischen Gerichte bei einer sowohl auf Einzelbasis als auch auf konsolidierter Basis erfolgenden Überschreitung Abschöpfungszinsen aus beiden Gründen zu erheben. Drittens sei entgegen dem Vorbringen des ABoR die Pflicht zur Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer in Verwaltungsverfahren in Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falles nicht verletzt worden, und der ABoR selbst habe festgestellt, dass die Dauer des Verfahrens keine Auswirkungen auf die Ausübung der Verteidigungsrechte der Klägerin gehabt habe.

 Anträge der Parteien

19      In der Rechtssache T‑647/21 beantragt die Klägerin,

–        den Beschluss vom 2. August 2021 für nichtig zu erklären;

–        der EZB die Kosten aufzuerlegen.

20      Die EZB und die Republik Österreich beantragen,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

21      Darüber hinaus hat die EZB am 28. Januar 2022 beantragt, die Hauptsache für erledigt zu erklären; die Entscheidung über diesen Antrag wurde am 31. Mai 2022 dem Endurteil vorbehalten.

22      In der Rechtssache T‑99/22 beantragt die Klägerin,

–        den Beschluss vom 21. Dezember 2021 für nichtig zu erklären;

–        der EZB die Kosten aufzuerlegen.

23      Die EZB und die Republik Österreich beantragen,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

24      Nachdem die Parteien hierzu angehört worden sind, entscheidet das Gericht, die vorliegenden Rechtssachen gemäß Art. 68 seiner Verfahrensordnung zu gemeinsamem Urteil zu verbinden.

 Zur Klage in der Rechtssache T99/22

25      Das Vorbringen der Klägerin zur Stützung des Antrags auf Nichtigerklärung des Beschlusses vom 21. Dezember 2021 lässt sich im Wesentlichen in sieben Klagegründe unterteilen, mit denen erstens ein Verstoß gegen den in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verankerten Grundsatz ne bis in idem, zweitens, dass die Bestandskraft des Beschlusses der EZB vom 15. Februar 2019 unter Verstoß gegen österreichisches Recht in Frage gestellt werde, drittens ein Verstoß gegen Art. 49 der Charta und Art. 7 EMRK sowie Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1024/2013, viertens ein Verstoß gegen § 97 Abs. 1 Z 2 BWG, fünftens ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen Art. 70 der Richtlinie 2013/36, sechstens ein Verstoß gegen die Pflicht der EZB, innerhalb einer angemessenen Verfahrensdauer zu entscheiden, und siebtens ein Ermessensmissbrauch gerügt wird.

 Zum ersten Klagegrund: Verletzung des Grundsatzes ne bis in idem

26      Die Klägerin macht geltend, die Verhängung von Abschöpfungszinsen nach § 97 Abs. 1 Z 2 BWG stelle einen Verstoß gegen den in Art. 50 der Charta und Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK verankerten Grundsatz ne bis in idem dar, da die EZB gegen sie bereits eine Verwaltungsgeldbuße in Höhe von 630 000 Euro wegen desselben Sachverhalts verhängt habe. Dieser Grundsatz gelte auch für Verwaltungssanktionen mit möglichem Strafcharakter, zu denen Abschöpfungszinsen zählten, soweit sie über den Entzug des wirtschaftlichen Vorteils hinausgingen, der sich aus dem Verstoß gegen Art. 395 der Verordnung Nr. 575/2013 ergebe. Außerdem habe sich der Gerichtshof im Urteil vom 7. August 2018, VTB Bank (Austria) (C‑52/17, EU:C:2018:648), nicht zu der Frage geäußert, ob Abschöpfungszinsen Strafcharakter hätten oder nicht.

27      Die EZB, unterstützt durch die Republik Österreich, ist der Ansicht, dass dieser Klagegrund zurückzuweisen sei.

28      Beim Grundsatz ne bis in idem handelt es sich um einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts (Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 59), der nunmehr in Art. 50 der Charta niedergelegt ist.

29      Art. 50 der Charta enthält ein Recht, das dem in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK entspricht. Nach Art. 52 Abs. 3 der Charta haben die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden. Daher ist unbeschadet der Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bei der Auslegung von Art. 50 der Charta zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 23 und 60).

30      Art. 50 der Charta lautet: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“ Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (vgl. Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37, und vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 26). Die Anwendung von Art. 50 der Charta beschränkt sich jedoch nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern erstreckt sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die nach den beiden anderen Kriterien strafrechtlicher Natur sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 30).

32      Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 395 Abs. 1 der Verordnung Nr. 575/2013 in der im streitigen Zeitraum geltenden Fassung „[e]in Institut … gegenüber einem Kunden oder einer Gruppe verbundener Kunden nach Berücksichtigung der Wirkung der Kreditrisikominderung gemäß den Artikeln 399 bis 403 [dieser Verordnung] keine Risikoposition [halten darf], deren Wert 25 % seiner anrechenbaren Eigenmittel übersteigt“ und, wenn „der Kunde ein Institut [ist] oder … zu einer Gruppe verbundener Kunden ein oder mehr als ein Institut [gehört], … der Risikopositionswert den jeweils höheren Wert von entweder 25 % der anrechenbaren Eigenmittel oder 150 Mio. [Euro] nicht übersteigen [darf], sofern nach Berücksichtigung der Wirkung der Kreditrisikominderung gemäß den Artikeln 399 bis 403 [dieser Verordnung] die Summe der Risikopositionswerte gegenüber sämtlichen verbundenen Kunden, die keine Institute sind, 25 % der anrechenbaren Eigenmittel des Instituts nicht übersteigt.“

33      Außerdem hat die FMA nach § 97 Abs. 1 Z 2 BWG „den Kreditinstituten, gemäß § 30 Abs. 6 [BWG] verantwortlichen Unternehmen und der Zentralorganisation bei einem Kreditinstitute-Verbund gemäß § 30a [BWG] für folgende Beträge Zinsen vorzuschreiben: … 2 vH der Überschreitung der Obergrenze für Großkredite gemäß Art. 395 Abs. 1 der [Verordnung Nr. 575/2013], gerechnet pro Jahr, für 30 Tage, ausgenommen bei einer zulässigen Überschreitung der Obergrenze gemäß Art. 395 Abs. 5 der [Verordnung Nr. 575/2013], bei Aufsichtsmaßnahmen gemäß § 70 Abs. 2 [BWG] oder bei Überschuldung des Kreditinstitutes.“

34      Erstens ist darauf hinzuweisen, dass gegen die Klägerin am 15. Februar 2019 mit bestandskräftig gewordener Entscheidung nach Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1024/2013 eine Verwaltungsgeldbuße in Höhe von 630 000 Euro verhängt wurde, um einen Verstoß zu ahnden, der in Überschreitungen der in Art. 395 Abs. 1 der Verordnung Nr. 575/2013 festgelegten Obergrenzen für Großkredite bestand. Die EZB bestreitet nicht, dass die von ihr mit dem Beschluss vom 21. Dezember 2021 festgesetzten Abschöpfungszinsen im Zusammenhang mit demselben Sachverhalt verhängt wurden.

35      Zweitens fallen die nach Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1024/2013 verhängten Verwaltungsgeldbußen in den Anwendungsbereich von Art. 50 der Charta.

36      Die nach Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1024/2013 verhängten Verwaltungsgeldbußen sind eindeutig den Geldbußen nachempfunden, die die Europäische Kommission nach Art. 23 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) verhängen kann, und von ähnlicher Art und Schärfe sind. Diese Sanktionen haben nämlich denselben Abschreckungszweck, wie sich ausdrücklich aus Art. 18 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1024/2013 ergibt, in dem es heißt, dass die „Sanktionen … wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein [müssen]“, und die gleiche Schärfe, was ihre Höhe anbelangt, die bis zu 10 % des gesamten Jahresumsatzes des betreffenden Kreditinstituts betragen kann. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Grundsatz ne bis in idem in wettbewerbsrechtlichen Verfahren, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet sind, zu beachten (vgl. Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Einstufung ist daher auf die genannten Sanktionen entsprechend anzuwenden.

37      Drittens ist folglich zu prüfen, ob die nach § 97 Abs. 1 Z 2 BWG verhängten Abschöpfungszinsen auch in den Anwendungsbereich von Art. 50 der Charta fallen.

38      Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs (Österreich) und des Verwaltungsgerichtshofs (Österreich), die die Republik Österreich in ihrem Streithilfeschriftsatz vorgelegt hat, dass Abschöpfungszinsen als aufsichtsrechtliche Maßnahmen ohne Strafcharakter eingestuft werden.

39      Insbesondere stellte der Verwaltungsgerichtshof in einer Entscheidung vom 22. Februar 1999 fest, dass sich hinsichtlich des ersten maßgeblichen Kriteriums, nämlich der rechtlichen Einordnung des Verstoßes im innerstaatlichen Recht, aus der Systematik des BWG ergebe, dass der österreichische Gesetzgeber § 97 BWG nicht als Strafvorschrift eingestuft habe. In Bezug auf das zweite und das dritte Kriterium, d. h. die gleichwertige Art der Zuwiderhandlung und die Schärfe der Sanktion, entschied er, dass „weder Zweck und Art der Sanktion noch Art oder Ausmaß ihrer Schwere […] die vorliegende Angelegenheit in den strafrechtlichen Bereich [bringen]“. Die Abschöpfungszinsen würden „ohne Prüfung des Verschuldens“ verhängt und hätten den Zweck, „durch Sicherung der Liquidität der Kreditinstitute und Risikobegrenzung bei der Kreditvergabe ein funktionierendes Bankwesen mit ausreichendem Gläubigerschutz zu gewährleisten“, indem bei Überschreitung der anwendbaren Obergrenzen für Großinvestitionen ein Beitrag zu zahlen sei, „der in Relation zu der Überschreitung der Obergrenzen steh[e] und der den aus der Überschreitung in ungehöriger Weise gezogenen betriebswirtschaftlichen Vorteil ausgleichen soll[e]“.

40      Aus der Rechtsprechung der österreichischen Gerichte ist daher abzuleiten, dass die Erhebung von Abschöpfungszinsen nach § 97 Abs. 1 Z 2 BWG nicht in den Anwendungsbereich von Art. 50 der Charta fällt.

41      Diese Schlussfolgerung wird durch das Urteil vom 7. August 2018, VTB Bank (Austria) (C‑52/17, EU:C:2018:648, Rn. 40 bis 42), bestätigt. Denn der Gerichtshof hat zwar festgestellt, dass die nach einer früheren Fassung von § 97 BWG erhobenen Abschöpfungszinsen unter Art. 65 der Richtlinie 2013/36 fallen, der „Verwaltungssanktionen und andere Verwaltungsmaßnahmen“ betrifft, jedoch der Einstufung als „Verwaltungsmaßnahme“ gegenüber der als „Verwaltungssanktion“ den Vorzug gegeben, indem er auf seine Rechtsprechung zur Prüfung der von den Mitgliedstaaten zum Schutz der finanziellen Interessen der Union ergriffenen finanziellen Korrekturmaßnahmen verwiesen hat, in der er die Verpflichtung, einen durch eine Unregelmäßigkeit unrechtmäßig erlangten Vorteil zurückzugewähren, als „Verwaltungsmaßnahme“ eingestuft hat.

42      Nach alledem ist festzustellen, dass die Erhebung von Abschöpfungszinsen durch die EZB nach § 97 Abs. 1 Z 2 BWG für ein Verhalten, das bereits Gegenstand einer Verwaltungsgeldbuße nach Art. 18 der Verordnung Nr. 1024/2013 war, nicht gegen den Grundsatz ne bis in idem verstößt.

43      Der erste Klagegrund ist daher zurückzuweisen.

 Zum fünften Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen Art. 70 der Richtlinie 2013/36

44      Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Erhebung von Abschöpfungszinsen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie Art. 70 der Richtlinie 2013/36 verkenne. Als Erstes sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von der EZB sowohl bei Verhängung einer Sanktion als auch bei Erlass einer Verwaltungsmaßnahme einzuhalten. Zweitens sei die EZB verpflichtet, § 99e BWG im Licht von Art. 70 der Richtlinie 2013/36 anzuwenden, dessen Umsetzung er gewährleiste. Daher gelte § 99e BWG nicht nur für Verwaltungssanktionen, sondern auch für andere Verwaltungsmaßnahmen. Drittens habe die EZB ihr in Anbetracht der Kriterien dieser Bestimmung bei einem geringfügigen Verstoß von geringer Dauer, der nicht zur Entstehung eines Vorteils zu ihren Gunsten geführt habe, und in Anbetracht ihrer Kooperation Abschöpfungszinsen in sehr viel niedrigerer Höhe auferlegen oder sogar ganz von der Erhebung absehen müssen.

45      Außerdem wirft die Klägerin der EZB vor, die Verhältnismäßigkeit der gleichzeitigen Verhängung von Abschöpfungszinsen sowohl auf Einzelbasis als auch auf konsolidierter Basis nicht geprüft zu haben. Die Verwaltungsgeldbuße sei auf 630 000 Euro statt auf 840 000 Euro festgesetzt worden, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Überschreitungen auf Einzelbasis und konsolidierter Basis auf demselben Verhalten beruhten. Sie wirft der EZB vor, im Beschluss vom 21. Dezember 2021 nicht dem gleichen Ansatz gefolgt zu sein und zu diesem Punkt keine angemessene Begründung gegeben zu haben.

46      Die EZB entgegnet als Erstes, § 97 Abs. 1 Z 2 BWG räume ihr kein Ermessen ein, das es ihr erlauben würde, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme anhand der Kriterien des § 99e BWG zu prüfen.

47      Als Zweites stelle § 97 Abs. 1 BWG ein spezifisches Instrument dar, das unabhängig von subjektiven Kriterien wie der Verantwortlichkeit für die Verletzung der Obergrenzen für Großkredite funktioniere, um das Ziel der Einhaltung dieser Grenzen mit einem hohen Maß an Effizienz zu erreichen, gegenüber deren Verhältnismäßigkeit die österreichischen Gerichte keinen verfassungsrechtlichen Vorbehalt geäußert hätten.

48      Als Drittes stehe ihre Auslegung von § 97 Abs. 1 Z 2 BWG im Einklang mit der Rechtsprechung der österreichischen Gerichte. Daraus ergebe sich erstens, dass seine Anwendung automatisch erfolge, zweitens, dass er als „pauschalierte Abschöpfung des … gewonnenen oder erzielbaren Vorteiles“ eingestuft worden sei, und drittens, dass sie daher bei der Anwendung von § 97 Abs. 1 Z 2 BWG weder verpflichtet noch befugt gewesen sei, § 99e BWG anzuwenden, mit dem Art. 70 der Richtlinie 2016/36 umgesetzt worden sei.

49      Als Viertes macht die EZB geltend, selbst wenn das Gericht feststellen sollte, dass bei der Anwendung von § 97 Abs. 1 Z 2 BWG Verhältnismäßigkeitserwägungen zu berücksichtigen seien, seien die Kriterien in § 99e BWG und in Art. 70 der Richtlinie 2013/36 nicht einschlägig.

50      Erstens regele § 99e BWG nur die Höhe der Geldbußen und nicht die Höhe der Abschöpfungszinsen.

51      Zweitens seien die Faktoren in § 99e BWG und Art. 70 der Richtlinie 2013/36 bei der Festsetzung der Art der Maßnahme nur anwendbar, soweit dies angemessen sei, d. h. soweit sie dazu geeignet seien, die verfolgten legitimen Ziele zu erreichen. Zum einen seien aber diese Faktoren, die die Schwere und Dauer des Verstoßes, die Höhe der erzielten Gewinne bzw. verhinderten Verluste, die Dritten entstandenen Verluste oder das Maß der Zusammenarbeit mit der zuständigen Behörde beträfen, nicht geeignet, die legitimen Ziele von § 97 Abs. 1 Z 2 BWG zu erreichen. Zum anderen sei auch das lediglich in Art. 70 der Richtlinie erwähnte Kriterium der Intention, die dem Verstoß zugrunde gelegen habe, nicht angemessen.

52      Die Republik Österreich macht geltend, dass die Kriterien des § 99e BWG im konkreten Fall auf den Erlass der aufsichtsrechtlichen Maßnahme nicht anwendbar seien, da sie vielmehr Sanktionen beträfen. Nur das Kriterium der Finanzkraft könne berücksichtigt werden, da es auch in § 97 Abs. 1 Z 2 BWG enthalten sei, der ausschließe, dass bei Überschuldung des Kreditinstituts Abschöpfungszinsen erhoben würden. Die Erhebung von Abschöpfungszinsen für eine Überschreitung sowohl auf Einzelbasis als auch auf konsolidierter Basis stehe im Einklang mit der Rechtsprechung und sei verhältnismäßig.

53      Nach Art. 65 Abs. 1 Satz 3 der Richtlinie 2013/36 müssen „Verwaltungssanktionen und andere Verwaltungsmaßnahmen … wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein“.

54      Art. 70 („Wirksame Verhängung von Sanktionen und Wahrnehmung der Sanktionsbefugnisse durch die zuständigen Behörden“) der Richtlinie 2013/36 lautet:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Behörden bei der Festsetzung der Art der Verwaltungssanktionen oder anderen Verwaltungsmaßnahmen und der Höhe der Bußgelder allen maßgeblichen Umständen Rechnung tragen. Dazu zählen gegebenenfalls:

a)      die Schwere und Dauer des Verstoßes,

b)      der Grad an Verantwortung der für den Verstoß verantwortlichen natürlichen oder juristischen Person,

c)      die Finanzkraft der für den Verstoß verantwortlichen natürlichen oder juristischen Person, wie sie sich beispielsweise aus dem Gesamtumsatz einer juristischen Person oder den Jahreseinkünften einer natürlichen Person ablesen lässt,

d)      die Höhe der erzielten Gewinne bzw. verhinderten Verluste der für den Verstoß verantwortlichen natürlichen oder juristischen Person, sofern diese sich beziffern lassen,

e)      die Verluste, die Dritten durch den Verstoß entstanden sind, sofern diese sich beziffern lassen,

f)      das Maß der Bereitschaft der für den Verstoß verantwortlichen natürlichen oder juristischen Person zur Zusammenarbeit mit der zuständigen Behörde,

g)      frühere Verstöße der für den Verstoß verantwortlichen natürlichen oder juristischen Person,

h)      alle möglichen systemrelevanten Auswirkungen des Verstoßes.“

55      Im Beschluss vom 21. Dezember 2021 wies die EZB ausdrücklich darauf hin, dass „§ 97 Abs. 1 BWG der zuständigen Behörde hinsichtlich der Frage, ob Abschöpfungszinsen erhoben werden oder nicht, keinerlei Ermessen [einräume]“ und „ihr auch kein Ermessen hinsichtlich der Berücksichtigung besonderer Umstände bei der Bestimmung des Betrags der zu erhebenden Zinsen [gewähre]“. Sie stützte diese Feststellung auf die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs, wonach das Gesetz „nur auf die Unter- oder Überschreitung der Grenzen ab[stelle]“ (Verwaltungsgerichtshof, Erkenntnis 95/17/0139 vom 15. Mai 2000), „[d]ie Gründe, aus denen ein anderes Verhalten als das vom Gesetzgeber als gewünscht angesehene, gewählt wird, … nicht maßgeblich [seien]“ (Verwaltungsgerichtshof, Erkenntnis 97/17/0413 vom 26. April 1999) und es der zuständigen Behörde verwehrt sei, „den Unrechtsgehalt der Übertretung mitzuberücksichtigen“ (Verwaltungsgerichtshof, Erkenntnis 95/17/0139 vom 15. Mai 2000).

56      Folglich hat die EZB die Verhältnismäßigkeit der Erhebung von Abschöpfungszinsen nicht anhand der Umstände des vorliegenden Falles geprüft, da sie der Ansicht war, sie sei aufgrund der Auslegung von § 97 Abs. 1 Z 2 BWG durch die österreichischen Gerichte daran gehindert.

57      Im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes ist daher zu prüfen, ob die EZB § 97 Abs. 1 Z 2 BWG richtig ausgelegt hat, als sie feststellte, dass sie für den Fall, dass seine Voraussetzungen erfüllt seien, über kein Ermessen hinsichtlich seiner Anwendung verfüge.

58      Als Erstes ist, da es um die Auslegung einer Vorschrift des innerstaatlichen Rechts geht, darauf hinzuweisen, dass die Bedeutung der innerstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften grundsätzlich unter Berücksichtigung ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte zu beurteilen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei, C‑433/13, EU:C:2015:602, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59      Wenn das Gericht zu prüfen hat, ob die EZB das innerstaatliche Recht, mit dem eine Richtlinie umgesetzt wird, richtig angewandt hat, genügt daher die Auslegung der nationalen Gerichte, um die Bedeutung dieses innerstaatlichen Rechts festzustellen, wenn sich daraus die Vereinbarkeit mit der Richtlinie ergibt, deren Umsetzung es sicherstellt. In einem solchen Fall sind Rügen, mit denen die Richtigkeit der Auslegung dieser Gerichte in Frage gestellt werden soll, ohne Weiteres zurückzuweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. April 2018, Caisse régionale de crédit agricole mutuel Alpes Provence u. a./EZB, T‑133/16 bis T‑136/16, EU:T:2018:219, Rn. 84 bis 92).

60      Etwas anderes gilt jedoch, wenn die Auslegung der nationalen Gerichte es nicht ermöglicht, die Vereinbarkeit des innerstaatlichen Rechts mit einer Richtlinie sicherzustellen.

61      In einem solchen Fall bedeutet die Wahrung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts nämlich, dass das Gericht, soweit erforderlich, wie ein nationales Gericht das nationale Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der umgesetzten Richtlinie auslegt, um das in ihr festgelegte Ziel zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Januar 2012, Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 24).

62      Zwar findet die Verpflichtung, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts das Unionsrecht heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen, doch umfasst das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung die Verpflichtung, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie nicht vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. April 2016, DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 32 und 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63      Wenn das Gericht eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, ist es wie ein nationales Gericht, das die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, verpflichtet, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – Bestimmung des nationalen Rechts, die einer Bestimmung des Unionsrechts, die unmittelbare Wirkung hat, entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 58 und 61).

64      Als Zweites ist festzustellen, dass Art. 70 der Richtlinie 2013/36 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1, Art. 65 Abs. 1 und dem 37. Erwägungsgrund dieser Richtlinie dahin zu verstehen ist, dass es Sache der FMA und damit der EZB ist, die Art der Verwaltungsmaßnahme unter Berücksichtigung aller Umstände zu bestimmen, was zwangsläufig bedeutet, dass ihnen Ermessen zusteht, und eine gebundene Entscheidung ausschließt.

65      Erstens ergibt sich dies aus der Auslegung nach Wortlaut und Systematik von Art. 70 Abs. 1 der Richtlinie 2013/36.

66      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich die Überschrift von Art. 70 der Richtlinie 2013/36 zwar nur auf „Sanktionen“ bezieht, diese Vorschrift nach ihrem Wortlaut aber auch die Bestimmung der Art der „anderen Verwaltungsmaßnahmen“ betrifft. Daher gilt der Hinweis auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass die zuständigen Behörden alle Umstände – von denen eine nicht abschließende Aufstellung vorgelegt wird – berücksichtigen, auch für sie.

67      Sodann ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2013/36, dass die in Art. 70 der Richtlinie 2013/36 genannten „zuständigen Behörden“ diejenigen sind, die „die in dieser Richtlinie … vorgesehenen Funktionen und Aufgaben wahrnehmen“, d. h., was Österreich betrifft, die FMA und, was die Durchführung von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1024/2013 betrifft, die EZB.

68      Schließlich sind Art. 65 Abs. 1 und Art. 70 im selben Abschnitt „Aufsichtsbefugnisse, Sanktionsbefugnisse und Rechtsmittel“ der Richtlinie 2013/36 enthalten, so dass davon auszugehen ist, dass der Begriff „Verwaltungsmaßnahmen“ in diesen beiden Bestimmungen dieselbe Bedeutung hat. Da sich aus dem Urteil vom 7. August 2018, VTB Bank (Austria) (C‑52/17, EU:C:2018:648), ergibt, dass Abschöpfungszinsen eine Verwaltungsmaßnahme im Sinne von Art. 65 Abs. 1 der Richtlinie 2013/36 darstellen, unterliegt ihre Anwendung Art. 70 der Richtlinie.

69      Zweitens wird diese Schlussfolgerung durch eine teleologische Auslegung von Art. 70 der Richtlinie 2013/36 bestätigt, da ihr 37. Erwägungsgrund die Absicht des Gesetzgebers offenbart, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, „dass die zuständigen Behörden allen maßgeblichen Umständen Rechnung tragen“.

70      Drittens bedingt die Verpflichtung der EZB, alle Umstände zu berücksichtigen, dass sie eine Prüfung der Umstände des Einzelfalls vornimmt, wenn sie eine Verwaltungsmaßnahme erlässt.

71      Viertens würde daher eine Auslegung von § 97 Abs. 1 Z 2 BWG, nach der die EZB eine gebundene Entscheidung trifft, sie daran hindern, alle relevanten Umstände zu berücksichtigen, und zur Unvereinbarkeit dieser Bestimmung mit Art. 70 der Richtlinie 2013/36 führen.

72      Zwar ergibt sich aus dem Wortlaut von § 97 Abs. 1 Z 2 BWG, dass der Automatismus der Erhebung von Abschöpfungszinsen dadurch ausgeglichen wird, dass diese Bestimmung selbst zwei Umstände berücksichtigt, unter denen ein Verstoß gegen Art. 395 Abs. 1 der Verordnung Nr. 575/2013 nicht zur Erhebung von Abschöpfungszinsen führt. Dies ist zum einen der Fall, wenn die zuständige Behörde dem Kreditinstitut in einer Verwaltungsentscheidung aufgibt, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, weil die Gefahr besteht, dass es seinen Verpflichtungen gegenüber seinen Gläubigern nicht nachkommen kann, oder um die Stabilität des Finanzsystems gemäß § 70 Abs. 2 BWG zu gewährleisten, oder zum anderen, wenn es überschuldet ist.

73      Allerdings ist die Anführung von zwei Situationen durch den österreichischen Gesetzgeber, in denen ein Verstoß gegen Art. 395 Abs. 1 der Verordnung Nr. 575/2013 nicht zur Erhebung von Abschöpfungszinsen führt, nicht gleichbedeutend mit der in Art. 70 der Richtlinie 2013/36 vorgesehenen Berücksichtigung „aller maßgeblichen Umstände“ durch die zuständige Behörde.

74      Auch der Umstand, dass die nach § 97 Abs. 1 Z 2 BWG erhobenen Abschöpfungszinsen als „Verwaltungsmaßnahme“ und nicht als „Verwaltungssanktion“ im Sinne von Art. 65 Abs. 1 der Richtlinie 2013/36 einzustufen sind, ermöglicht es nicht, den Automatismus ihrer Erhebung mit Art. 70 dieser Richtlinie in Einklang zu bringen.

75      Zwar weist die Verpflichtung der zuständigen Behörde, alle Umstände zu berücksichtigen, aufgrund dieser unterschiedlichen Natur nicht zwangsläufig die gleiche Intensität auf, wenn es um eine Verwaltungsmaßnahme wie die Erhebung von Abschöpfungszinsen oder eine Verwaltungssanktion oder gar um eine Verwaltungsgeldbuße geht, doch gilt Art. 70 der Richtlinie 2013/36 nicht nur für Verwaltungssanktionen, sondern auch für Verwaltungsmaßnahmen.

76      Als Drittes ist festzustellen, dass § 97 Abs. 1 Z 2 BWG im Licht von Art. 70 der Richtlinie 2013/36 dahin ausgelegt werden kann, dass er der EZB ein Ermessen einräumt, das es ihr gegebenenfalls erlaubt, keine Abschöpfungszinsen zu erheben, wenn sie der Auffassung ist, dass die Umstände eine solche Entscheidung erfordern.

77      Erstens schließt der Wortlaut von § 97 Abs. 1 Z 2 BWG nicht ausdrücklich die Möglichkeit aus, dass die FMA gegebenenfalls über ein Ermessen hinsichtlich der Frage verfügt, ob sie von dieser Bestimmung Gebrauch machen soll.

78      Zweitens enthält Abschnitt XXII des BWG auch § 99e, der den Inhalt von Art. 70 der Richtlinie 2013/36 übernimmt, aus dem sich ergibt, dass die FMA bei der Bestimmung der Art der Sanktion oder Maßnahme, die wegen Verstößen gegen die Verordnung Nr. 575/2013 zu erlassen ist, soweit angemessen, dieselben Umstände berücksichtigen muss wie die in Art. 70 der Richtlinie 2013/36, deren Aufstellung ebenfalls nicht abschließend ist. Daher kann die Bezugnahme auf „Maßnahmen“ in dieser Vorschrift durchaus so verstanden werden, dass sie die Erhebung von Abschöpfungszinsen nach § 97 Abs. 1 Z 2 BWG einschließt.

79      Drittens hat die Einräumung eines Ermessens der EZB bei der Anwendung von § 97 Abs. 1 Z 2 BWG keine nachteiligen Auswirkungen auf die Klägerin, so dass sie nicht durch die Einhaltung der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Sinne der oben in Rn. 62 angeführten Rechtsprechung eingeschränkt ist.

80      Als Viertes hat die EZB sich folglich, indem sie beim Erlass des Beschlusses vom 21. Dezember 2021 davon ausging, dass die Erhebung von Abschöpfungszinsen automatisch erfolge, auf eine rechtsfehlerhafte Prämisse gestützt, die zu einer fehlerhaften Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Anwendung von § 97 Abs. 1 Z 2 BWG geführt hat, da sie die EZB dazu veranlasst hat, die Umstände des vorliegenden Falles nicht zu prüfen.

81      Daher ist dem vorliegenden Klagegrund stattzugeben und mithin der Beschluss vom 21. Dezember 2021 für nichtig zu erklären, ohne dass die übrigen Klagegründe der Klägerin geprüft werden müssten.

 Zur Klage in der Rechtssache T647/21

82      Die EZB trägt vor, die Klage gegen den Beschluss vom 2. August 2021 sei gegenstandslos geworden, da dieser durch den Beschluss vom 21. Dezember 2021 ersetzt worden sei, der am Tag der Bekanntgabe des Beschlusses vom 2. August 2021 wirksam geworden sei. Folglich sei die Klage gegenstandslos geworden und eine Entscheidung in der Sache würde der Klägerin keinen Vorteil verschaffen.

83      Nach ständiger Rechtsprechung lässt die Rücknahme oder unter bestimmten Umständen die Aufhebung des angefochtenen Rechtsakts durch das beklagte Organ die Nichtigkeitsklage gegenstandslos werden, soweit sie für den Kläger zu dem gewünschten Ergebnis führt und ihm volle Genugtuung verschafft. Der Kläger kann jedoch weiterhin ein Interesse an der Nichtigerklärung einer im Lauf des Verfahrens aufgehobenen Handlung haben, wenn die Nichtigerklärung dieser Handlung für sich genommen Rechtswirkungen zeitigen kann (vgl. Beschluss vom 6. Juli 2011, SIR/Rat, T‑142/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:333, Rn. 18 und 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

84      So besteht bei einer im Lauf des Verfahrens aufgehobenen Handlung ein solches Interesse fort, wenn die Handlung, durch die sie aufgehoben wurde, selbst Gegenstand einer Nichtigkeitsklage ist, so dass die erste Handlung nach der etwaigen Nichtigerklärung der zweiten Handlung wieder aufleben kann (vgl. Beschluss vom 20. Oktober 2011, United Phosphorus/Kommission, T‑95/09, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:610, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Urteil vom 13. Dezember 2017, Crédit mutuel Arkéa/EZB, T‑712/15, EU:T:2017:900, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). Aus ähnlichen Gründen sollte ein Interesse eines Klägers an der Nichtigerklärung einer zurückgenommenen Handlung anerkannt werden, wenn die Handlung, mit der sie zurückgenommen wurde, Gegenstand einer Nichtigkeitsklage ist.

85      Es wurde jedoch entschieden, dass ein Antrag des beklagten Organs, die Hauptsache für erledigt zu erklären, mit dem geltend gemacht wird, dass die angefochtene Handlung zurückgenommen worden sei, einer stillschweigenden, aber sicheren Anerkennung gleichkommt, dass diese Handlung aus der Rechtsordnung der Union getilgt worden sei, so dass das Organ sich selbst dann nicht mehr auf sie berufen kann, wenn die Handlung, mit der sie zurückgenommen wurde, für nichtig erklärt wird (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 17. September 1997, Antillean Rice Mills/Kommission, T‑26/97, EU:T:1997:131, Rn. 14).

86      Außerdem ist festzustellen, dass in der vorliegenden Rechtssache sowohl der Inhalt der Beschlüsse vom 2. August 2021 und vom 21. Dezember 2021 als auch die von der Klägerin in ihren beiden Klagen geltend gemachten Klagegründe sehr ähnlich sind. Wie sich nämlich aus den vorstehenden Rn. 17 und 18 ergibt, folgte die EZB im Beschluss vom 21. Dezember 2021 derselben Argumentation wie im Beschluss vom 2. August 2021 und ergänzte diese im Hinblick auf die Stellungnahme des ABoR. Dies spiegelt sich in einer ähnlichen Argumentation der Klägerin in beiden Klagen. Diese besonderen Umstände bedingen, dass der Beschluss vom 2. August 2021 mit derselben Rechtswidrigkeit behaftet wäre, wie sie oben in den Rn. 44 bis 81 festgestellt worden ist, was die Feststellung stützt, dass sich die EZB nach der Nichtigerklärung des Beschlusses vom 21. Dezember 2021 nicht darauf berufen kann (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 7. September 2023, Versobank/EZB, C‑803/21 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2023:630, Rn. 167 bis 169).

87      In Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falles ist daher festzustellen, dass die Nichtigerklärung des Beschlusses vom 21. Dezember 2021 nicht zur Folge haben kann, dass der Beschluss vom 2. August 2021 wieder auflebt, so dass sich der Rechtsstreit in der Rechtssache T‑647/21 in der Hauptsache erledigt hat.

 Kosten

88      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die EZB in der Rechtssache T‑99/22 unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Klägerin neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Klägerin in dieser Rechtssache aufzuerlegen.

89      Nach Art. 137 der Verfahrensordnung entscheidet das Gericht, wenn es die Hauptsache für erledigt erklärt, nach freiem Ermessen über die Kosten. In der Rechtssache T‑647/21 ist die EZB in Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falles entsprechend dem Antrag der Klägerin zur Tragung ihrer eigenen Kosten sowie der Kosten der Klägerin in dieser Rechtssache zu verurteilen.

90      Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Die Republik Österreich trägt daher sowohl in der Rechtssache T‑99/22 als auch in der Rechtssache T‑647/21 ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Dritte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Rechtssachen T647/21 und T99/22 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

2.      Die Rechtssache T647/21 ist in der Hauptsache erledigt.

3.      In der Rechtssache T99/22 wird der Beschluss ECBSSM2021ATSBE12 der Europäischen Zentralbank (EZB) vom 21. Dezember 2021 für nichtig erklärt.

4.      Die EZB trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Sber Vermögensverwaltungs AG.

5.      Die Republik Österreich trägt ihre eigenen Kosten.

Schalin

Nõmm

Steinfatt

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 28. Februar 2024.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Englisch.