Language of document : ECLI:EU:T:2005:200

Rechtssache T-303/03

Lidl Stiftung & Co. KG

gegen

Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM)

„Gemeinschaftsmarke – Widerspruchsverfahren – Anmeldung der Wortmarke Salvita – Ältere nationale Wortmarke SOLEVITA – Nachweis der Benutzung der älteren nationalen Marke – Zurückweisung des Widerspruchs“

Leitsätze des Urteils

1.      Gemeinschaftsmarke – Bemerkungen Dritter und Widerspruch – Prüfung des Widerspruchs – Nachweis der Benutzung der älteren Marke – Ernsthafte Benutzung – Begriff – Auslegung unter Berücksichtigung des Normzwecks des Artikels 43 Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 40/94

(Verordnung Nr. 40/94 des Rates, Artikel 43 Absätze 2 und 3)

2.      Gemeinschaftsmarke – Bemerkungen Dritter und Widerspruch – Prüfung des Widerspruchs – Nachweis der Benutzung der älteren Marke – Ernsthafte Benutzung – Begriff – Beurteilungskriterien – Erfordernis konkreter und objektiver Beweise

(Verordnung Nr. 40/94 des Rates, Artikel 43 Absätze 2 und 3)

3.      Gemeinschaftsmarke – Bemerkungen Dritter und Widerspruch – Prüfung des Widerspruchs – Nachweis der Benutzung der älteren Marke – Beweiskraft von Beweiselementen – Beurteilungskriterien

(Verordnung Nr. 40/94 des Rates, Artikel 43 Absätze 2 und 3 und 76 Absatz 1 Buchstabe f; Verordnung Nr. 2868/95 der Kommission, Artikel 1Regel 22 Absatz 3)

4.      Gemeinschaftsmarke – Beschwerdeverfahren – Klage beim Gemeinschaftsrichter – Voraussetzung für die Zulässigkeit – Nur gegen die Entscheidungen der Beschwerdekammern gerichtetes Vorbringen

(Verordnung Nr. 40/94 des Rates, Artikel 63 Absatz 1)

5.      Gemeinschaftsmarke – Beschwerdeverfahren – Entscheidung über die Beschwerde –Wahrung der Verteidigungsrechte – Tragweite des Grundsatzes

(Verordnung Nr. 40/94 des Rates, Artikel 73)

6.      Gemeinschaftsmarke – Verfahrensvorschriften – Prüfung des Sachverhalts von Amts wegen – Widerspruchsverfahren – Auf das Vorbringen und die Anträge beschränkte Prüfung – Stützende Beweise – Den Beteiligten obliegende Vorlage dieser Beweise

(Verordnung Nr. 40/94 des Rates, Artikel 74 Absatz 1)

7.      Gemeinschaftsmarke – Bemerkungen Dritter und Widerspruch – Prüfung des Widerspruchs – Nachweis der Benutzung der älteren Marke – Vom Anmelder ausdrücklich und rechtzeitig gestellter Antrag – Wirkung – Dem Widersprechenden obliegende Beweislast – Kein Bestreiten der zur Begründung des Widerspruchs vorgetragenen Gesichtspunkte – Unerheblich

(Verordnung Nr. 40/94 des Rates, Artikel 43 Absätze 2 und 3)

1.      Bei der Auslegung des Begriffes der ernsthaften Benutzung im Sinne des Artikels 43 Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke ist zu berücksichtigen, dass der Normzweck des Erfordernisses, dass die ältere Marke ernsthaft benutzt worden ist, um einer Gemeinschaftsmarkenanmeldung entgegengehalten werden zu können, darin besteht, Markenkonflikte zu begrenzen, soweit kein berechtigter wirtschaftlicher Grund vorliegt, der sich aus einer tatsächlichen Funktion der Marke auf dem Markt ergibt. Dagegen zielt diese Bestimmung weder auf eine Bewertung des kommerziellen Erfolgs noch auf eine Überprüfung der Geschäftsstrategie eines Unternehmens oder darauf ab, den Markenschutz nur umfangreichen kommerziellen Verwertungen von Marken vorzubehalten.

(vgl. Randnr. 35)

2.      Eine Marke wird im Sinne des Artikels 43 Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 40/94 ernsthaft benutzt, wenn sie entsprechend ihrer Hauptfunktion, die darin besteht, die Ursprungsidentität der Waren oder Dienstleistungen, für die sie eingetragen wurde, zu garantieren, benutzt wird, um für diese Waren und Dienstleistungen einen Absatzmarkt zu erschließen oder zu sichern, unter Ausschluss symbolischer Verwendungen, die allein der Wahrung der durch die Marke verliehenen Rechte dienen. Die Bedingung der ernsthaften Benutzung der Marke verlangt daher, dass die Marke, so wie sie im relevanten Gebiet geschützt ist, öffentlich und nach außen benutzt wird.

Die Ernsthaftigkeit der Benutzung der Marke ist anhand sämtlicher Tatsachen und Umstände zu prüfen, die belegen können, dass die Marke tatsächlich geschäftlich verwertet wird, insbesondere anhand der Verwendungen, die im betreffenden Wirtschaftszweig als gerechtfertigt angesehen werden, um Marktanteile für die durch die Marke geschützten Waren oder Dienstleistungen zu behalten oder zu gewinnen, der Art dieser Waren oder Dienstleistungen, der Merkmale des Marktes sowie des Umfangs und der Häufigkeit der Benutzung der Marke.

Bei der Prüfung der Ernsthaftigkeit der Benutzung der älteren Marke ist eine umfassende Beurteilung unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren des konkreten Falles vorzunehmen. Die ernsthafte Benutzung einer Marke lässt sich jedoch nicht mit Wahrscheinlichkeitsannahmen oder Vermutungen nachweisen, sondern sie muss auf konkreten und objektiven Umständen beruhen, die eine tatsächliche und ausreichende Benutzung der Marke auf dem betreffenden Markt belegen.

(vgl. Randnrn. 36-38)

3.      Die Verordnung Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke und die Verordnung Nr. 2868/95 zur Durchführung der Verordnung Nr. 40/94 enthalten nichts, was die Schlussfolgerung erlauben würde, dass die Beweiskraft der Beweiselemente für die Benutzung der Marke im Sinne des Artikels 43 Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 40/94 einschließlich der eidesstattlichen Erklärungen im Licht der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zu prüfen wäre. Bei der Beurteilung des Beweiswerts eines solchen Dokuments ist zunächst die Wahrscheinlichkeit der darin enthaltenen Information zu prüfen. Insbesondere sind also zu berücksichtigen die Herkunft des Dokuments, die Umstände seiner Ausarbeitung, sein Adressat und die Frage, ob es seinem Inhalt nach vernünftig und glaubhaft erscheint.

(vgl. Randnr. 42)

4.      Nach Artikel 63 Absatz 1 der Verordnung Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke sind nur die Entscheidungen der Beschwerdekammern mit der Klage beim Gemeinschaftsrichter anfechtbar. Folglich sind im Rahmen einer solchen Klage nur Klagegründe zulässig, die sich gegen die Entscheidung der Beschwerdekammer richten. Ein Klagegrund, mit dem die Verletzung einer Rechtsvorschrift durch die Entscheidung einer in erster Instanz entscheidenden Stelle des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) gerügt wird, ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

(vgl. Randnrn. 59-60)

5.      Hat der Kläger im Rahmen einer Klage gegen die Entscheidung einer in erster Instanz entscheidenden Stelle des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) dem Amt bestimmte Unterlagen selbst vorgelegt und folglich zu diesen Unterlagen und ihrer Erheblichkeit Stellung nehmen können, ist die Beschwerdekammer nicht verpflichtet, ihn zu der Würdigung der tatsächlichen Gesichtspunkte, auf die sie ihre Entscheidung stützen will, anzuhören.

Die Würdigung der Tatsachen gehört nämlich zur Entscheidungsfindung, und der Anspruch auf rechtliches Gehör erstreckt sich auf alle tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkte, die die Grundlage für die Entscheidungsfindung bilden, nicht aber auf den endgültigen Standpunkt, den die Verwaltung einnehmen will.

(vgl. Randnr. 62)

6.      Nach Artikel 74 Absatz 1 der Verordnung Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke ist das Amt, „[s]oweit es sich … um Verfahren bezüglich relativer Eintragungshindernisse handelt, … bei [der] Ermittlung auf das Vorbringen und die Anträge der Beteiligten beschränkt“. Zwar wird in der französischen Fassung dieser Bestimmung nicht ausdrücklich auf die Vorlage von Beweisen durch die Beteiligten Bezug genommen, es ist ihr aber zu entnehmen, dass den Beteiligten auch die Beweislast für die Begründung ihrer Anträge obliegt.

(vgl. Randnrn. 74, 76)

7.      Der Inhaber einer älteren Marke, der Widerspruch erhoben hat, hat gemäß Artikel 43 Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke auf Verlangen des Anmelders den Nachweis zu erbringen, dass er diese Marke ernsthaft benutzt hat oder dass berechtigte Gründe für die Nichtbenutzung vorliegen. Verlangt der Anmelder diesen Nachweis, so trägt also der Widersprechende die Beweislast für die ernsthafte Benutzung (oder für das Vorliegen berechtigter Gründe für die Nichtbenutzung), andernfalls sein Widerspruch zurückgewiesen wird. Diese Wirkung tritt nur ein, wenn das Verlangen ausdrücklich und rechtzeitig beim Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) formuliert worden ist.

Daher kann der mangelnde Nachweis der ernsthaften Benutzung nur dann durch eine Zurückweisung des Widerspruchs sanktioniert werden, wenn der Anmelder einen solchen Nachweis ausdrücklich und rechtzeitig beim Amt verlangt hat.

Ist der Antrag ausdrücklich und rechtzeitig gestellt worden und hat der Widersprechende den ihm obliegenden Nachweis nicht erbracht, weist das Amt den Widerspruch zu Recht zurück, auch wenn der Anmelder die vom Widersprechenden zur Begründung seines Widerspruchs vorgetragenen Gesichtspunkte nicht bestritten hat.

(vgl. Randnrn. 77-79)