Language of document : ECLI:EU:C:2005:200

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

POIARES MADURO

vom 7. April 2005(1)

Rechtssache C‑255/02

Halifax plc,

Leeds Permanent Development Services Ltd,

County Wide Property Investments Ltd

gegen

Commissioners of Customs and Excise

(Vorabentscheidungsersuchen des Value Added Tax and Duties Tribunal, London)

Rechtssache C‑419/02

1. BUPA Hospitals Ltd,

2. Goldsborough Developments Ltd

gegen

Commissioners of Customs and Excise

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice of England and Wales [Chancery Division])

Rechtssache C‑223/03

University of Huddersfield Higher Education Corporation

gegen

Commissioners of Customs and Excise

(Vorabentscheidungsersuchen des Value Added Tax and Duties Tribunal, Manchester)

„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Artikel 2 Nummer 1, 4 Absätze 1 und 2, 5 Absatz 1, 6 Absatz 1, 10 Absatz 2 und 17 – Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen – Wirtschaftliche Tätigkeit– Rechtsmissbrauch – Umsätze, deren alleiniger Zweck darin besteht, einen Steuervorteil zu erlangen“





1.        Das VAT and Duties Tribunal (London) (im Folgenden: VAT and Duties Tribunal London), der High Court of Justice of England and Wales (Chancery Division) (im Folgenden: High Court) und das VAT and Duties Tribunal (Manchester Tribunal Centre) (im Folgenden: VAT and Duties Tribunal Manchester) haben mit drei verschiedenen Vorabentscheidungsersuchen dem Gerichtshof mehrere Fragen nach der Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (im Folgenden: Sechste Richtlinie) in ihrer geänderten Fassung(2) vorgelegt.

2.        Die drei Fälle betreffen Umsätze, die getätigt werden, um im Hinblick auf das Recht zum Vorsteuerabzug einen Steuervorteil zu erlangen. Der Gerichtshof wird im Wesentlichen ersucht, erstens festzustellen, ob ein Umsatz, dessen alleiniger Zweck darin besteht, die Erstattung von Vorsteuer zu ermöglichen, eine „wirtschaftliche Tätigkeit“ im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie darstellen kann. Zweitens wird der Gerichtshof ersucht, zu prüfen, ob die Lehre vom Rechtsmissbrauch auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer angewandt werden kann, so dass Ansprüche auf Vorsteuerabzug, die unter den Umständen der vorliegenden Rechtssachen erworben werden, nicht anerkannt werden können.

I –    Das in den drei Rechtssachen relevante Gemeinschaftsrecht

3.        Nach Artikel 2 Nummer 1 der Richtlinie unterliegen der Mehrwertsteuer „Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher … gegen Entgelt ausführt“.

4.        Artikel 4 Absatz 1 bestimmt, dass „[a]ls Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis“. Artikel 4 Absatz 2 sieht vor, dass diese wirtschaftlichen Tätigkeiten „alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden [sind]“.

5.        Nach Artikel 5 Absatz 1 gilt „[a]ls Lieferung eines Gegenstands … die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen“, und Artikel 6 Absatz 1 definiert Dienstleistung als „jede Leistung, die keine Lieferung eines Gegenstands im Sinne des Artikels 5 ist“.

6.        Artikel 13 Teil A Absatz 1 befreit bestimmte Tätigkeiten einschließlich der Krankenhausversorgung und der ärztlichen Dienstleistung von der Mehrwertsteuer, indem er Folgendes bestimmt:

„Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen festsetzen, von der Steuer:

b)      die Krankenhausbehandlung und die ärztliche Heilbehandlung sowie die mit ihnen eng verbundenen Umsätze, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder unter Bedingungen, welche mit den Bedingungen für diese Einrichtungen in sozialer Hinsicht vergleichbar sind, von Krankenanstalten, Zentren für ärztliche Heilbehandlung und Diagnostik und anderen ordnungsgemäß anerkannten Einrichtungen gleicher Art durchgeführt beziehungsweise bewirkt werden …“

7.        Artikel 13 Teil B Buchstabe b sieht mit derselben Formulierung wie Artikel 13 Teil A Absatz 1 vor, dass „die Vermietung und Verpachtung von Grundstücken“ von der Mehrwertsteuer befreit ist. Artikel 13 Teil B Buchstabe d führt ebenfalls mit derselben Formulierung wie Artikel 13 Teil A Absatz 1 bestimmte Tätigkeiten im Finanzdienstleistungssektor auf, die die Mitgliedstaaten gleichfalls von der Mehrwertsteuer zu befreien haben.

8.        Bezüglich des Vorsteuerabzugs sieht Artikel 17 Absatz 1 vor, dass „[d]as Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht“. Artikel 17 Absatz 2 bestimmt: „Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen: … die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden.“(3)

9.        Soweit Gegenstände und Dienstleistungen von einem Steuerpflichtigen sowohl für Umsätze verwendet werden, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, als auch für Umsätze, für die dieses Recht nicht besteht, bestimmt Artikel 17 Absatz 5 Unterabsatz 1, dass „der Vorsteuerabzug nur für den Teil der Mehrwertsteuer zulässig [ist], der auf den Betrag der erstgenannten Umsätze entfällt“. Artikel 17 Absatz 5 Unterabsatz 2 sieht vor, dass „[d]ieser Pro-rata-Satz … nach Artikel 19 für die Gesamtheit der vom Steuerpflichtigen bewirkten Umsätze festgelegt [wird]“.

10.      Der die Vereinfachungsmaßnahmen betreffende Artikel 27 Absatz 1(4) sieht vor, dass „[d]er Rat … auf Vorschlag der Kommission einstimmig jeden Mitgliedstaat ermächtigen [kann], von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einzuführen, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen zu verhüten. Die Maßnahmen zur Vereinfachung der Steuererhebung dürfen den Betrag der im Stadium des Endverbrauchs fälligen Steuer nur in unerheblichem Maße beeinflussen.“

II – Der Sachverhalt der Ausgangsverfahren, die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen und die jeweils relevanten gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Vorschriften

A –    Rechtssache C‑255/02

11.      Die Halifax plc ist eine Bank. Nach Artikel 13 Teil B Buchstabe d der Sechsten Richtlinie sind die meisten ihrer Dienstleistungen mehrwertsteuerbefreite Finanzdienstleistungen. Halifax wollte für ihre Geschäftstätigkeit „Call Center“ an vier verschiedenen Standorten innerhalb des Vereinigten Königreichs auf Grundstücken errichten, die von ihr gepachtet waren oder in ihrem Eigentum standen. Aufgrund der Pro-rata-Regelung in Artikel 17 Absatz 5 hätte Halifax etwa 5 % der auf die Bauarbeiten entrichteten Mehrwertsteuer erstattet bekommen können. Ihre Steuerberater entwarfen jedoch einen Plan, aufgrund dessen Halifax durch eine Reihe von Rechtsgeschäften, die mehrere Unternehmen des Halifax-Konzerns einbezogen, tatsächlich die gesamte auf die Bauarbeiten entfallende Vorsteuer zurückerlangen konnte.

12.      Die an dem Vorgang beteiligten Unternehmen waren sämtlich hundertprozentige Tochtergesellschaften von Halifax: Leeds Permanent Development Services (im Folgenden: LPDS), ein für einen bestimmten Zweck gegründetes Unternehmen, das in der Vergangenheit Entwicklungsprojekte geleitet hatte und nicht zum Halifax-Konzern im Sinne des Mehrwertsteuerrechts gehörte; County Wide Property Investments (im Folgenden: CWPI), eine Entwicklungs- und Anlagegesellschaft, und schließlich Halifax Property Investment Ltd (im Folgenden: HPIL), die im Gegensatz zu den anderen vorstehend genannten Unternehmen nicht mehrwertsteuerpflichtig war.

13.      Der Plan betrifft zwar vier verschiedene Grundstücke, doch folgen die Rechtsgeschäfte in Bezug auf die einzelnen Grundstücke alle demselben Muster. Erstens traf Halifax die vertragliche Vereinbarung, dass sie LPDS die Geldmittel, die für den Erwerb der erforderlichen Grundstücksrechte und für die auszuführenden Bauarbeiten benötigt werden, als Darlehen zur Verfügung stellt. Gleichzeitig vereinbarte LPDS in einem gesonderten Vertrag, dass sie auf dem Grundstück Bauarbeiten von geringem Wert ausführt. Halifax zahlte an LPDS rund 164 000 GBP für die Arbeiten auf den vier Grundstücken einschließlich fast 25 000 GBP Mehrwertsteuer, die LPDS entrichtet hatte und die Halifax nach dem Pro-rata-Satz nur zu einem geringen Teil als Vorsteuer abziehen konnte.

14.      LPDS ihrerseits schloss mit CWPI eine Entwicklungs- und Finanzierungsvereinbarung, nach der CWPI die Bauarbeiten auf den einzelnen Grundstücken auszuführen bzw. für deren Ausführung zu sorgen hatte. Dies schloss die Arbeiten von geringem Wert ein, die LPDS vereinbarungsgemäß für Halifax auszuführen hatte. Unter Verwendung der Darlehensbeträge, die Halifax aufgrund des mit LPDS geschlossenen Darlehensvertrags zur Verfügung gestellt hatte, zahlte LPDS an CWPI einen größeren Betrag als Vorauszahlung für die Bauarbeiten (einen Gesamtbetrag von rund 48 Millionen GBP für die vier Grundstücke einschließlich mehr als 7 Millionen GBP Mehrwertsteuer).

15.      Alle diese Umsätze wurden am selben Tag in dem Geschäftsjahr von LPDS getätigt, das am 31. März 2000 endete(5). In diesem Jahr hatte LPDS die zum Normalsatz besteuerten geringwertigen Bauleistungen, dagegen keine steuerbefreiten Leistungen erbracht. Demgemäß beantragte LPDS die Erstattung der in diesem Jahr gezahlten Vorsteuer in Höhe von 7 Millionen GBP, die den Beträgen entspricht, die CWPI für die Ausführung der Bauarbeiten auf den Grundstücken in Rechnung gestellt hatte. CWPI wiederum entrichtete auf diese für LPDS erbrachten Leistungen Mehrwertsteuer, war aber schließlich berechtigt, die Mehrwertsteuer abzuziehen, die die an den Bauarbeiten beteiligten Bauunternehmen und Angehörigen der freien Berufe in Rechnung stellen konnten.

16.      Am 6. April 2000 verpachtete Halifax die einzelnen Grundstücke gegen Zahlung einer Prämie an LPDS. LPDS wiederum schloss einen weiteren Vertrag, in dem sie sich verpflichtete, die einzelnen Pachtverträge auf HPIL zu übertragen, wobei jede Übertragung am ersten Werktag nach Abschluss der Bauarbeiten auf dem betreffenden Grundstück erfolgen sollte. Am selben Tag schloss HPIL Verträge, in denen sie sich verpflichtete, die Gebäude auf den einzelnen Grundstücken gegen Zahlung einer Prämie an Halifax unterzuverpachten. Diese Umsätze wurden in dem nachfolgenden Jahr der LPDS getätigt, in dem sie teilweise steuerbefreite Leistungen erbrachte, und nach Artikel 13 Teil B Buchstabe b hinsichtlich der Mehrwertsteuer als befreite Lieferungen behandelt.

17.      CWPI beauftragte verschiedene unabhängige Bauunternehmen und Angehörige der freien Berufe mit der Ausführung der Bauarbeiten auf den einzelnen Grundstücken. CWPI war von LPDS im Voraus bezahlt worden und bezahlte daher die unabhängigen Bauunternehmen entsprechend dem Baufortschritt.

18.      Die Commissioners lehnten die Anträge von LPDS auf Erstattung der Vorsteuer und die von CWPI auf Erstattung der Mehrwertsteuer, die ihr von den unabhängigen Bauunternehmen in Rechnung gestellt worden war, ab. Die Commissioners sind der Auffassung, ein Umsatz, der ausschließlich zum Zweck der Mehrwertsteuerumgehung getätigt werde, sei ungeachtet seines eigentlichen Charakters weder eine „Lieferung“ noch eine Maßnahme im Rahmen einer „wirtschaftlichen Tätigkeit“ im Sinne des Mehrwertsteuerrechts. Weder die Verpflichtungen, die LPDS gegenüber Halifax eingegangen sei, noch die Bauleistungen, die CWPI gegenüber LPDS erbracht habe, stellten daher „Lieferungen“ im Sinne der Sechsten Richtlinie dar. Die Commissioners sind darüber hinaus der Ansicht, dass Umsätze, die ausschließlich zum Zweck der Mehrwertsteuerumgehung getätigt würden, als Rechtsmissbrauch anzusehen seien und aus diesem Grund unter dem Gesichtspunkt der Mehrwertsteuer außer Acht bleiben müssten. Unabhängig von der Betrachtungsweise sei es offensichtlich so, dass tatsächliche Bauleistungen nur von den unabhängigen Bauunternehmen erbracht und unmittelbar gegenüber Halifax bewirkt worden seien.

19.      Halifax, LPDS und CWPI (im Folgenden: Halifax-Klägerinnen) haben die ablehnenden Entscheidungen der Commissioners vor dem VAT and Duties Tribunal London angefochten, das die Klagen abwies. Die Halifax-Klägerinnen legten beim High Court of Justice (England and Wales), Chancery Division, Berufung ein. Der High Court hob das Urteil auf und verwies die Sache zurück an das VAT and Duties Tribunal mit der Maßgabe, u. a. die Frage zu klären, ob LPDS und CWPI die fraglichen Umsätze ausschließlich zu dem Zweck getätigt hätten, die Mehrwertsteuer zu umgehen. Das Tribunal hat diese Frage bejaht und hat außerdem dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      a)     Sind unter den relevanten Umständen die Umsätze,

i)      die jeder Beteiligte ausschließlich in der Absicht getätigt hat, einen Steuervorteil zu erlangen, und

ii)      mit denen kein selbständiger Geschäftszweck verfolgt wurde,

         für die Zwecke der Mehrwertsteuer als Lieferungen oder Dienstleistungen anzusehen, die von den oder zugunsten der Beteiligten im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten ausgeführt wurden?

b)      Welche Faktoren sind unter den relevanten Umständen bei der Prüfung der Frage zu berücksichtigen, wer die Lieferungen oder Dienstleistungen von den unabhängigen Auftragnehmern erhalten hat?

2.      Sind nach der vom Gerichtshof entwickelten Lehre vom Verbot des Rechtsmissbrauchs die Anträge der Klägerinnen auf Erstattung oder Abzug der sich aus der Durchführung der relevanten Umsätze ergebenden Vorsteuer zurückzuweisen?

B –    Rechtssache C‑419/02

20.      Die BUPA Hospitals Ltd (im Folgenden: BHL) gehört zum BUPA-Konzern, und ihre Geschäftstätigkeit besteht im Betreiben privater Krankenhäuser. Diese Leistungen von BHL wurden als Lieferungen eingestuft, die unter den Steuersatz von 0 % fallen. Dadurch konnte BHL die Vorsteuer auf die Arzneimittel- und Prothesenlieferungen ihrer Lieferanten erstattet verlangen, ohne Umsatzsteuererklärungen über die Lieferungen der Arzneimittel und Prothesen an ihre Kunden abgeben zu müssen.

21.      Die Regierung des Vereinigten Königreichs gab ihre Absicht bekannt, in Kürze einen Gesetzentwurf einzubringen, um eine Besteuerung dieser Lieferungen zum Nullsatz auszuschließen. Das Gesetz trat schließlich am 1. Januar 1998 in Kraft. Die Änderung sollte darin bestehen, dass die betreffenden Lieferungen privater Lieferanten von der Regelung über die Nullsatzbesteuerung, die das Vereinigte Königreich nach Artikel 28 Absatz 2 Buchstabe a(6) der Sechsten Richtlinie anwenden durfte, ausgenommen werden und auf sie die normale Regelung des Artikels 13 Teil A Anwendung findet, wonach eine Steuerbefreiung ohne Vorsteuerabzug gilt.

22.      In der Zeit zwischen der Ankündigung der Regierung und dem Inkrafttreten der neuen Rechtsvorschrift ersann und entfaltete der BUPA-Konzern eine Reihe von Tätigkeiten, die aus dem Abschluss von Vorauszahlungsvereinbarungen bestanden, durch die den Auswirkungen der neuen Rechtsvorschrift auf die finanzielle Lage von BHL vorgebeugt wurde. Der Grundgedanke war, dass für eine erhebliche Anzahl nicht spezifizierter Arzneimittel und Prothesen Vorauszahlungen erbracht werden, bevor die neue Rechtsvorschrift in Kraft tritt.

23.      Den Vorauszahlungsvereinbarungen, aufgrund deren BHL die Erstattung der auf ihre Einkäufe gezahlten Vorsteuer verlangen kann, liegen die Artikel 10 und 17 der Sechsten Richtlinie zugrunde. Artikel 17 Absatz 1 sieht vor, dass „[d]as Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht“. In Artikel 17 Absatz 2 Buchstabe a heißt es: „Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen: … die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden.“

24.      Artikel 10 bestimmt:

„(1) Im Sinne dieser Richtlinie gilt als

a)      Steuertatbestand: der Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden;

b)      Steueranspruch: der Anspruch, den der Fiskus nach dem Gesetz gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt ab auf die Zahlung der Steuer geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.

(2) Der Steuertatbestand und der Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird. Die Lieferungen von Gegenständen – außer den in Artikel 5 Absatz 4 Buchstabe b) bezeichneten – und die Dienstleistungen, die zu aufeinanderfolgenden Abrechnungen oder Zahlungen Anlass geben, gelten jeweils mit Ablauf des Zeitraums als bewirkt, auf die sich diese Abrechnungen oder Zahlungen beziehen.

Werden jedoch Anzahlungen geleistet, bevor die Lieferung von Gegenständen oder die Dienstleistung bewirkt ist, so entsteht der Steueranspruch zum Zeitpunkt der Vereinnahmung entsprechend dem vereinnahmten Betrag.“(7)

25.      Angesichts dieser Bestimmungen führen die Vorauszahlungsvereinbarungen dazu, dass Mehrwertsteuer selbst dann nicht erhoben wird, wenn die Spezifizierung und Lieferung der Gegenstände nach dem Wegfall der Regelung über die Nullsatzbesteuerung erfolgt, da in diesem Fall die Gegenstände zu einem Zeitpunkt bezahlt werden, zu dem das Recht auf Vorsteuererstattung noch zur Verfügung steht.

26.      Um die Risiken auszuschließen, die mit umfangreichen Vorauszahlungen an außenstehende Lieferanten verbunden sind, beschloss der BUPA‑Konzern, sich einer seiner Tochtergesellschaften, die nicht dem BUPA‑Konzern im Sinne des Mehrwertsteuerrechts angehörte, als Lieferantin gemäß den Vorauszahlungsvereinbarungen zu bedienen. Die gewählte Gesellschaft gehörte zum Goldborough-Konzern. Dieser Konzern war kurz zuvor vom BUPA-Konzern erworben worden und betrieb auch einige wenige private Krankenhäuser. Die gewählte Tochtergesellschaft wurde in BUPA Medical Supplies Ltd (im Folgenden: BMSL) umbenannt. Ihr Gesellschaftszweck wurde geändert, und sie erhielt die Erlaubnis für den Vertrieb von pharmazeutischen Produkten.

27.      Um das Cashflow-Problem zu lösen, das sich daraus ergab, dass an die Commissioners ein Betrag in Höhe der Umsatzsteuer zu zahlen war, die von BMSL auszuweisen sein würde, schloss eine andere Tochtergesellschaft aus dem BUPA-Konzern, die Goldsborough Developments Ltd (im Folgenden: GDL), über denselben Betrag und innerhalb eines parallelen Erklärungszeitraums eine spiegelbildliche, in die umgekehrte Richtung verlaufende Vorauszahlungsvereinbarung mit einem Lieferanten ab, der zum BUPA-Konzern im Sinne des Mehrwertsteuerrechts gehörte. Dieser Lieferant war ebenfalls eine zum BUPA-Konzern gehörende Gesellschaft, die BUPA Gatwick Park Hospital Ltd (im Folgenden: Gatwick Park), die gleichfalls ihren Geschäftszweck änderte und eine Erlaubnis für den Vertrieb von pharmazeutischen Produkten erhielt.

28.      Am 5. September 1997 wurden die Vorauszahlungsvereinbarungen zwischen BHL und BMSL sowie zwischen GDL und Gatwick Park unterzeichnet. BHL verpflichtete sich, an die BMSL den Betrag von 100 Millionen GBP für die Lieferung nichtspezifizierter Arzneimittel (60 Millionen GBP zuzüglich 10,5 Millionen GBP Mehrwertsteuer) und Prothesen (40 Millionen GBP zuzüglich 7 Millionen GBP Mehrwertsteuer) zu zahlen. Am selben Tag stellte BMSL der BHL die entsprechenden Rechnungen aus. Die Beträge reichten aus, um den Bedarf von BHL an Arzneimitteln und Prothesen für fünf bis acht Jahre zu decken. Ebenfalls am 5. September 1997 verpflichtete sich GDL, an Gatwick Park den Betrag von 100 Millionen GBP für die Lieferung nichtspezifizierter Arzneimittel (50 Millionen GBP zuzüglich 8,75 Millionen GBP Mehrwertsteuer) und Prothesen (50 Millionen GBP zuzüglich 8,75 Millionen GBP Mehrwertsteuer) zu zahlen. Am selben Tag stellte Gatwick Park der GDL die entsprechenden Rechnungen aus. Hinsichtlich der zuletzt genannten Vorauszahlungsvereinbarungen reichten die als Anzahlung auf die zukünftig gelieferten Arzneimittel und Prothesen zu zahlenden Beträge aus, um GDLs Bedarf an derartigen Gegenständen für 50 bis 100 Jahre zu decken.

29.      Die beiden vorstehend dargelegten Arten spiegelbildlicher Vorauszahlungsvereinbarungen führten dazu, dass am Ende des betreffenden Erklärungszeitraums keine Steuern an die Commissioners abzuführen waren. Der BUPA-Konzern im Sinne des Mehrwertsteuerrechts schuldete 17,5 Millionen GBP Umsatzsteuer auf die Lieferungen von Gatwick Park, verrechnete aber diesen Betrag mit dem Anspruch auf Erstattung von Vorsteuer in Höhe von 17,5 Millionen GBP auf die Lieferungen der BMSL. Der Goldsborough-Konzern im Sinne des Mehrwertsteuerrechts schuldete zur selben Zeit 17,5 Millionen GBP Umsatzsteuer auf die Lieferungen der BMSL, die ebenfalls mit einem Erstattungsanspruch in Höhe von 17,5 Millionen GBP hinsichtlich der Lieferungen von Gatwick Park verrechnet wurde. Jeder der beiden Konzerne im Sinne des Mehrwertsteuerrechts war somit in der Lage, die Mehrwertsteuerschuld in Höhe von 17,5 Millionen GBP mit einem Anspruch auf Vorsteuererstattung in derselben Höhe zu verrechnen. Die für die Durchführung des Geschäfts erforderlichen Mittel wurden von der BUPA Investments Ltd, einer weiteren Gesellschaft innerhalb des BUPA-Konzerns, zur Verfügung gestellt und an die von den Vorauszahlungsvereinbarungen betroffenen Parteien überwiesen. Bezüglich BHL wurden die neuen Kaufverträge im September 1998 wirksam. Bezüglich der Vorauszahlungsvereinbarungen zwischen GDL und Gatwick Park wurden sie im Jahr 2001 umgesetzt.

30.      Die Commissioners lehnten es ab, den Vorsteuerabzug von BHL und GDL zu genehmigen. Die BUPA-Klägerinnen fochten die Entscheidung der Commissioners vor dem VAT and Duties Tribunal London an, das die Klagen mit der Begründung abwies, dass BMSL und Gatwick Park im Sinne des Mehrwertsteuerrechts weder eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt noch Lieferungen ausgeführt hätten. Das Vorbringen der Commissioners, dass das allgemeine Rechtsmissbrauchsverbot Anwendung finden könne, wies es jedoch zurück. Die Klägerinnen legten daraufhin bei der Chancery Division des High Court Berufung und die Commissioners Anschlussberufung ein.

31.      Der High Court hat beschlossen, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Wie ist angesichts der relevanten Umstände, der relevanten Umsätze und der Stellung der Verkäufer der Begriff „wirtschaftliche Tätigkeit“ im Sinne von Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie auszulegen?

2.      Wie ist angesichts der relevanten Umstände, der relevanten Umsätze und der Stellung der Verkäufer der Begriff „Lieferung von Gegenständen“ in Artikel 5 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie auszulegen?

3.      a)     Gibt es ein Rechtsmissbrauchsverbot, das (unabhängig von der Auslegung der Sechsten Richtlinie) das Recht zum Vorsteuerabzug ausschließen kann?

         b)     Wenn ja, unter welchen Umständen würde es Anwendung finden?

         c)      Würde es unter Umständen wie denen Anwendung finden, die vom Tribunal festgestellt worden sind?

4.      Ist es für die Beantwortung der Fragen 1 bis 3 erheblich, wenn die Bezahlung im Zusammenhang mit den relevanten Umsätzen zu einem Zeitpunkt erfolgt ist, zu dem die Weiterlieferung der Gegenstände eine befreite Lieferung mit Erstattung der auf der vorausgehenden Stufe entrichteten Mehrwertsteuer im Sinne des Artikels 28 Absatz 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie gewesen wäre?

5.      Wie ist die Sechste Richtlinie insbesondere hinsichtlich folgender Fragen auszulegen: Sollten unter Umständen wie den relevanten Umständen und bei Umsätzen wie den relevanten Umsätzen die Lieferungen so behandelt werden,

a)      als wären sie von den unabhängigen Lieferanten an die Käufer erfolgt, ohne dass es Lieferungen an oder von den Verkäufern gegeben hätte, oder

b)      als wären sie von den unabhängigen Lieferanten an die Verkäufer erfolgt, ohne dass es Lieferungen von den Verkäufern an die Käufer gegeben hätte?

6.      Wie sind Artikel 17 der Sechsten Richtlinie und die Vorschriften über den Vorsteuerabzug unter Umständen auszulegen, in denen jeder Verkäufer im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit Lieferungen an einen Käufer ausführt und

a)       die Käufer mit den Verkäufern Verträge über die Lieferung von Gegenständen geschlossen haben,

b)       die Gegenstände in Rechnung gestellt und bereits vor Lieferung bezahlt werden,

c)       auf die Vorauszahlung gemäß Artikel 10 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Sechsten Richtlinie Mehrwertsteuer erhoben wird,

d)       die Gegenstände von den Käufern für die Ausführung von Lieferungen verwendet werden sollen, die, wären sie zum Zeitpunkt der Bezahlung erfolgt, steuerbefreite Lieferungen mit Anspruch auf Erstattung der auf der vorausgehenden Stufe entrichteten Steuer gewesen wären, aber

e)       jeder Käufer beabsichtigt, Lieferungen der Gegenstände gemäß den Verträgen nur abzunehmen, wenn die Rechtslage sich dahin ändert, dass die Verwendung der Gegenstände durch die Käufer als Ausführung steuerbefreiter Lieferungen ohne Erstattungsanspruch angesehen wird?

         (Hinsichtlich Buchstabe e ist darauf hinzuweisen, dass die Käufer, wenn sich die Rechtslage nicht in der beschriebenen Weise ändert, berechtigt sind, ihre Verträge mit den Verkäufern zu kündigen und die gezahlten Preise erstattet zu verlangen. In den relevanten Umsätzen enthalten die Verträge zwischen den Käufern und den Verkäufern Klauseln, die solche Kündigungen gestatten.)

7.      Das Tribunal hat (in Nr. 89 der Entscheidung) festgestellt, dass keiner „der Entscheidungsträger [bei BMSL und Gatwick Park] ein anderes Motiv oder eine andere Absicht von Bedeutung [hatte], als den Plan zur Umgehung der Mehrwertsteuer durchzuführen“. Die Berufungsklägerinnen haben in ihrem beim High Court eingereichten Berufungsschriftsatz diese Tatsachenfeststellung angefochten. Wäre es für die Beantwortung der Fragen 1 bis 6 erheblich – und wenn ja, wie –, wenn diese Tatsachenfeststellung im Berufungsverfahren aufgehoben würde?

C –    Rechtssache C‑223/03

32.      Die University of Huddersfield (im Folgenden: Universität) ist eine Hochschuleinrichtung, die dem Ausbildungszweck dienende, von der Mehrwertsteuer befreite Leistungen erbringt. Sie wollte zwei Gebäude (West Mill und East Mill) renovieren, an denen sie ein Besitzrecht erworben hatte. Die auf die Renovierungskosten entfallende Vorsteuer wäre der Höhe nach auf einen Erstattungssatz beschränkt, der sich 1996 auf 14,56 % belief und seither auf 6,04 % gefallen ist. Ihre Steuerberater schlugen jedoch eine Reihe möglicher Konstruktionen vor, aufgrund deren die Universität durch eine Reihe von Maßnahmen, die die Beteiligung gesonderter juristischer Personen einschlossen, die gesamte auf die Renovierungsarbeiten entfallende Vorsteuer zurückerlangen konnte.

33.      Zu diesem Zweck wurde ein in das Ermessen des Treuhänders gestellter Trust (im Folgenden: Trust) errichtet, in dem die Universität das Recht auf Benennung und Abberufung der Treuhänder hatte. Hinsichtlich East Mill, das im Ausgangsverfahren das unmittelbar betroffene Gebäude ist, optierte die Universität bezüglich der Vermietung von East Mill für die Mehrwertsteuerpflicht und überließ das Gebäude dem Trust am 22. November 1996(8). Der vereinbarte anfängliche Jahresmietzins belief sich auf den Nominalbetrag von 12,50 GBP. Der Trust, der seinerseits bezüglich seiner Lieferungen für die Mehrwertsteuerpflicht optiert hatte, schloss gleichzeitig mit der Universität einen Unterrmietvertrag zu einem anfänglichen Jahresmietzins von 13 GBP ab. Gleichzeitig stellte The University of Huddersfield Properties Ltd (im Folgenden: Huddersfield Properties), eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Universität, die nicht demselben Konzern im Sinne des Mehrwertsteuerrechts angehörte, der Universität für zukünftige Bauleistungen bezüglich East Mill 3,5 Millionen GBP zuzüglich 612 500 GBP Mehrwertsteuer in Rechnung. Kurz darauf schloss Huddersfield Properties mit der Universität einen Vertrag über die Renovierung von East Mill, und die Universität zahlte den in der Rechnung von Huddersfield Properties ausgewiesenen Betrag. Dieses Unternehmen schließlich schloss mit Drittunternehmern zu geschäftsüblichen Bedingungen Verträge ab, um die erforderlichen Baudienstleistungen bezüglich East Mill zu erbringen. Die Arbeiten bezüglich East Mill wurden im September 1998 abgeschlossen. Später wurde der nach dem Mietvertrag und dem Untermietvertrag geschuldete Mietzins auf 400 000 GBP jährlich bzw. 415 000 GBP jährlich erhöht.

34.      Diese Konstruktion versetzte die Universität in die Lage, in ihrer Mehrwertsteueranmeldung für den Zeitraum 01/97 die Vorsteuer abzuziehen, die bei ihr für die erhaltenen Bauleistungen angefallen war, da die Bauleistungen für Zwecke einer besteuerten Weiterlieferung von East Mill an den Trust verwendet wurden(9). Am 26. Januar 2000 jedoch setzten die Commissioners die von der Universität für den Zeitraum 01/97 zu zahlende Mehrwertsteuer für die Bauleistungen, die Huddersfield Properties bezüglich East Mill erbracht hatte, auf 612 502 GBP und für den Mietzins, den der Trust für East Mill in Rechnung gestellt hatte, auf 2,28 GBP fest. Die Universität hat den Mehrwertsteuerbescheid vor dem VAT and Duties Tribunal Manchester angefochten.

35.      Die Commissioners tragen im Wesentlichen vor, dass ein Umsatz, der ausschließlich oder vorwiegend zum Zwecke der Mehrwertsteuerumgehung getätigt werde, keine „Lieferung“ sei. Er sei auch keine Maßnahme, die im Rahmen einer „wirtschaftlichen Tätigkeit“ oder zu deren Förderung unternommen werde. Hilfsweise machen die Commissioners geltend, dass ein solcher Umsatz gemäß dem allgemeinen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs außer Betracht zu bleiben habe; stattdessen seien die Vorschriften der Sechsten Richtlinie auf den fraglichen Umsatz entsprechend dessen wahrer Natur anzuwenden. Die Universität ihrerseits vertrat u. a. die Auffassung, dass die fraglichen Umsätze nicht „ausschließlich oder überwiegend zum Zweck der Steuerumgehung“ vorgenommen worden seien. Zwar habe die von der Universität vertretene Auslegung des Sachverhalts zu erheblichen, „vorab“ erfolgten Vorsteuererstattungen geführt, doch habe derselbe Sachverhalt während eines gegebenen Zeitraums auch zu erheblichen Mehrwertsteuerzahlungen auf den Mietzins geführt.

36.      Das vorlegende Tribunal stellte fest, dass der alleinige Zweck der Verwendung des Trusts in Bezug auf East Mill, der Vermietung durch die Universität an den Trust sowie der Untervermietung von East Mill durch den Trust an die Universität in der Erzielung eines Mehrwertsteuervorteils bestanden habe. Das Tribunal war ferner der Auffassung, dass die Universität beabsichtigt habe, eine absolute Mehrwertsteuereinsparung dadurch zu erzielen, dass sie die Mehrwertsteuervereinbarungen bezüglich East Mill einige Zeit nach Beginn des Mietvertrags aufhob (und damit auch die Zahlung von Mehrwertsteuer auf den Mietzins beendete). Das vorlegende Gericht stellte allerdings auch fest, dass alle Umsätze echt, d. h. nicht vorgetäuscht waren in dem Sinne, dass sie zu Lieferungen führten, die tatsächlich stattfanden.

37.      Unter diesen Umständen beschloss das VAT and Duties Tribunal Manchester, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind in einem Fall, in dem

1.       eine Universität auf die Mehrwertsteuerbefreiung bezüglich der Lieferungen eines in ihrem Eigentum stehenden Grundstücks verzichtet und das Grundstück an einen Trust vermietet, der von ihr errichtet und kontrolliert wird,

2.       der Trust auf die Mehrwertsteuerbefreiung bezüglich der Lieferungen des fraglichen Grundstücks verzichtet und das Grundstück an die Universität untervermietet,

3.       der Abschluss und die Durchführung des Mietvertrags und des Untermietvertrags seitens der Universität einzig und allein zwecks Erzielung eines Steuervorteils erfolgte und keinen selbständigen geschäftlichen Zweck hatte,

4.       die Vermietung und die Rückvermietung auf eine von der Universität und dem Trust beabsichtigte Konstruktion zum Aufschub der Steuer (d. h. eine Konstruktion zum Aufschub der Mehrwertsteuerzahlung) mit einem eingebauten Mechanismus hinausliefen, der eine spätere absolute Steuereinsparung ermöglichte,

a)      die Vermietung und Untervermietung steuerpflichtige Lieferungen nach der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie,

b)      als wirtschaftliche Tätigkeiten im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 Satz 2 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie anzusehen?

III – Würdigung

38.      Trotz der Unterschiede in den gewählten steuerlichen Konstruktionen werfen die vorliegenden Rechtssachen identische Rechtsfragen auf. Die vorlegenden Gerichte möchten im Wesentlichen zwei Fragen geklärt haben. Erstens möchten sie vom Gerichtshof wissen, ob die fraglichen Umsätze als wirtschaftliche Tätigkeiten im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie anzusehen sind und „Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen“ im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie sind, „die ein Steuerpflichtiger als solcher … gegen Entgelt ausführt“(10).

39.      Die zweite Frage geht dahin, ob die Anträge auf Erstattung oder Abzug der Vorsteuer nach der gemeinschaftsrechtlichen Lehre vom Verbot des Rechtsmissbrauchs abgelehnt werden können(11).

A –    Der Begriff der Lieferung, die im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit erbracht wird

40.      Der Unternehmer soll durch die Regelung über den Vorsteuerabzug im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem der Gemeinschaft vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden(12). Es steht fest, dass sich der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit in Artikel 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie auf einen weiten Bereich erstreckt und dass es sich dabei um einen objektiv festgelegten Begriff handelt(13). Wie der Gerichtshof im Urteil Rompelman ausgeführt hat, „[gewährleistet] [d]as gemeinsame Mehrwertsteuersystem …, dass alle wirtschaftlichen Tätigkeiten … unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis in völlig neutraler Weise steuerlich belastet werden“(14). Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie nimmt daher ausdrücklich auf eine Tätigkeit Bezug, die „gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis“ ausgeübt wird. Im Urteil vom 26. März 1987 (Kommission/Niederlande) hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass für die Entscheidung, ob eine Tätigkeit eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist, „die Tätigkeit an sich, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, betrachtet wird“(15). Für die Entscheidung, ob eine Tätigkeit ihrer Natur nach eine wirtschaftliche Tätigkeit ist, sind somit nicht der mögliche Zweck des Umsatzes oder die Beweggründe der Parteien zu berücksichtigen, sondern die Tätigkeit ist objektiv zu betrachten und ihre charakteristischen Merkmale sind an sich zu ermitteln(16).

41.      Diese Regel beruht auf dem Erfordernis, dass das gemeinsame Mehrwertsteuersystem neutral sein muss, sowie auf dem Grundsatz der Rechtssicherheit, der verlangt, dass die Anwendung des Gemeinschaftsrechts für die Betroffenen vorhersehbar sein muss(17). Dieses Gebot der Rechtssicherheit gilt in besonderem Maße, wenn es sich um Vorschriften handelt, die finanzielle Konsequenzen haben, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang ihrer Rechte und Pflichten genau zu erkennen(18).

42.      Die Regierung des Vereinigten Königreichs, die im Wesentlichen von den Regierungen Irlands, der Niederlande und Italiens unterstützt wird, macht jedoch geltend, dass Umsätze wie die vorliegend in Frage stehenden, die ausschließlich zum Zweck der Vorsteuererstattung und somit zur Umgehung oder zum Aufschub der normalerweise zu entrichtenden Mehrwertsteuer getätigt wurden, keine wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems seien und nicht als Lieferungen im Sinne der Mehrwertsteuervorschriften betrachtet werden dürften. Soweit die wirkliche Absicht der an den fraglichen Umsätzen Beteiligten einzig und allein darin bestanden habe, den Plan für eine Steuerumgehung umzusetzen, seien diese Tätigkeiten den Zielen der Sechsten Richtlinie insgesamt fremd und dürften daher nicht als wirtschaftliche Tätigkeiten eingestuft werden.

43.      Bei der Untersuchung des Vorbringens der Regierung des Vereinigten Königreichs werden insoweit drei Fragen zu erörtern sein. Erstens werde ich prüfen, ob, wie die Regierung des Vereinigten Königreichs ausführt, die Unterscheidung zwischen erlaubten und unerlaubten Tätigkeiten, die der Gerichtshof bei der Bestimmung des Geltungsbereichs des Begriffes der wirtschaftlichen Tätigkeiten trifft, für die vorliegenden Fälle relevant ist. Zweitens werde ich die Bedeutung erörtern, die die Regierung des Vereinigten Königreichs dem Zweck der getätigten Umsätze beimisst, um sie nicht unter die wirtschaftlichen Tätigkeiten fallen zu lassen. Drittens werde ich die weiteren Konsequenzen erörtern, die sich aus einer Anwendung der Auslegung ergeben, die von der Regierung des Vereinigten Königreichs vertreten wird und die darauf abzielt, Plänen für die Umgehung der Mehrwertsteuer dadurch vorzubeugen, dass der Geltungsbereich des Mehrwertsteuerrechts eingeschränkt wird.

1.      Der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit und die Unterscheidung zwischen erlaubten und unerlaubten Tätigkeiten

44.      Die Ausführungen der Regierung des Vereinigten Königreichs, denen die Klägerinnen der drei Ausgangsverfahren sowie die Kommission widersprechen, beruhen im Wesentlichen auf einer entsprechenden Anwendung einer Reihe von Entscheidungen des Gerichtshofes, in denen festgestellt wurde, dass bestimmte unerlaubte Tätigkeiten nicht in den Geltungsbereich des Mehrwertsteuerrechts fallen(19). Meines Erachtens findet die Auffassung der Regierung des Vereinigten Königreichs in dieser Rechtsprechung keine Stütze.

45.      Nach ständiger Rechtsprechung verbietet der Grundsatz der steuerlichen Neutralität eine allgemeine Differenzierung zwischen erlaubten und unerlaubten Tätigkeiten(20). Grundsätzlich fallen selbst unerlaubte Umsätze in den Geltungsbereich der Sechsten Richtlinie und sind mehrwertsteuerpflichtig(21). Die einzige Ausnahme gilt für Tätigkeiten, die völlig außerhalb des erlaubten Wirtschaftssektors stehen(22). Diese Ausnahme bezieht sich jedoch nur auf Waren und Dienstleistungen, die einem vollständigen Verbot in der Gemeinschaft unterliegen und die aufgrund ihrer Art und ihrer besonderen Merkmale weder in den erlaubten Handel gebracht noch in den Wirtschaftskreislauf einbezogen werden können(23). Zum Beispiel fällt die Lieferung von Betäubungsmitteln und Falschgeld nicht in den Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie(24). Dies gilt nicht für die in den vorliegenden Fällen in Frage stehenden Tätigkeiten, die Entwicklungs- und Investitionsleistungen, die Lieferung von Arzneimitteln und Prothesen sowie die Vermietung von Grundstücken betreffen. Die fraglichen Umsätze sind somit als solche erlaubt, unabhängig davon, ob sie zum Zwecke der Steuerumgehung oder des Steueraufschubs bewirkt wurden. In den vorliegenden Fällen hat die Rechtsprechung zu den unerlaubten Tätigkeiten und zum Geltungsbereich der Sechsten Richtlinie somit nicht die Bedeutung, die ihr die Regierung des Vereinigten Königreichs zuschreibt(25).

2.      Die Bedeutung des Zweckes für die Zuordnung einer wirtschaftlichen Tätigkeit

46.      Das Vereinigte Königreich trägt vor, dass für die Frage, wie ein Umsatz einzuordnen ist, eine Gesamtbetrachtung aller Umstände anzustellen sei, unter denen der betreffende Umsatz erfolge(26), und dass zu diesen Umständen der Zweck gehöre, zu dem der Umsatz getätigt worden sei.

47.      Das Vereinigte Königreich stützt sich insoweit auf Rechtssachen wie Stockholm Lindöpark, Faaborg-Gelting und Sinclair Collis(27). In diesen Rechtssachen stand jedoch außer Frage, dass die fraglichen Tätigkeiten ihrer Art nach wirtschaftliche Tätigkeiten waren. In der Rechtssache Faaborg-Gelting Linien ging es um die Frage, ob Restaurantumsätze nach der Sechsten Richtlinie als Lieferung von Gegenständen oder als Lieferung von Dienstleistungen eingestuft werden(28). Die Rechtssache Stockholm Lindöpark betraf die Frage, ob die Tätigkeit des Betriebes eines Golfplatzes für die Entscheidung, ob sie als von der Mehrwertsteuer befreit angesehen werden kann, als Vermietung eines Grundstücks oder als Dienstleistung, die mit Sport und Körperertüchtigung zusammenhängt, einzustufen ist(29). In der Rechtssache Sinclair Collis ging es darum, ob es eine Vermietung eines Grundstücks darstellt, wenn der Eigentümer von Räumlichkeiten dem Eigentümer eines Zigarettenverkaufsautomaten das Recht einräumt, den Automaten in den Räumlichkeiten aufzustellen, zu betreiben und zu warten(30). In allen Rechtssachen stellte der Gerichtshof für die Frage, ob die Einstufung nach der Sechsten Richtlinie zutreffend ist, auf die Umstände ab, unter denen die wirtschaftlichen Tätigkeiten erfolgten, und nicht darauf, ob die Tätigkeiten in den Geltungsbereich der Sechsten Richtlinie fallen oder nicht fallen. Aus keiner dieser Rechtssachen kann abgeleitet werden, dass eine Tätigkeit aufhört, eine wirtschaftliche Tätigkeit zu sein, wenn sie zum Zwecke der Mehrwertsteuerumgehung oder des Mehrwertsteueraufschubs vorgenommen wird.

48.      Zwar sind die in Frage stehenden Umsätze offenbar nur Instrumente oder indirekte Geschäfte zur Durchführung komplexer Steuerumgehungskonstruktionen. Die Steuerumgehung bleibt jedoch in jedem Fall eine Tätigkeit, die nicht von Natur aus mit den verschiedenen Geschäftstätigkeiten verbunden ist, die objektiv gegen Entgelt mit jedem einzelnen der in Frage stehenden Umsätze ausgeführt wurden. Der Zweck der Steuerumgehung ist somit ein äußerer Umstand, der die innewohnende objektive Natur jeder dieser Umsätze nicht verändert(31). Die Umsätze müssen für die Frage, ob die Übertragung eines Gegenstands oder die Erbringung einer Dienstleistung gegen Leistung eines wirtschaftlichen Entgelts vorliegt, und folglich für die Ermittlung ihrer innewohnenden objektiven Natur individuell unter Berücksichtigung der relevanten objektiven Umstände untersucht werden.

49.      Auch der Umstand, dass private Tätigkeiten eines Steuerpflichtigen ebenfalls nicht in den Geltungsbereich der Sechsten Richtlinie fallen, kann das Vorbringen der Regierung des Vereinigten Königreichs nicht stützen. Im Urteil Wellcome Trust hat der Gerichtshof geprüft, ob der Wellcome Trust bei der Verwaltung seines Wertpapiervermögens als privater Anleger handelte oder eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübte. Der Gerichtshof hat die Umstände des Falles betrachtet und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der Wellcome Trust als Endverbraucher zu behandeln sei und nicht wie ein „Steuerpflichtiger als solcher“ im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie. Im Urteil Enkler(32) war die Frage, ob die Vermietung eines Wohnmobils eine Nutzung von körperlichen Gegenständen „zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen“ im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie darstellt. Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass ein Wohnmobil „seiner Art nach sowohl zu wirtschaftlichen als auch zu privaten Zwecken verwendet werden [kann]“(33). Für die Frage, ob die Nutzung solcher Gegenstände einem wirtschaftlichen Zweck diene, seien Umstände wie die Art der Gegenstände, die Dauer der Vermietung, die Zahl der Kunden und die Höhe der Einnahmen zu berücksichtigen(34). In den vorliegenden Rechtssachen aber wird nicht vorgetragen, dass die fraglichen Umsätze dem privaten Bereich zuzurechnen seien. Die Umsätze sind geschäftliche Tätigkeiten trotz des Umstands, dass sie getätigt werden, um Pläne für die Umgehung von Mehrwertsteuer umzusetzen.

50.      Entgegen dem Vortrag der Regierung des Vereinigten Königreichs ergibt sich auch aus der vom Gerichtshof in den Urteilen Breitsohl(35) und INZO(36) vertretenen Auffassung nicht, dass eine Tätigkeit ihren wirtschaftlichen Charakter verliert, wenn sie ausschließlich in der Absicht vorgenommen wird, einen Steuervorteil herbeizuführen. Die in diesen Rechtssachen erörterte Frage betraf die Stellung desjenigen, der einen Vorsteuerabzug vornimmt und falsche Erklärungen bezüglich seiner Eigenschaft als Steuerpflichtiger abgibt. Der Gerichtshof hat ausgeführt: „In Fällen von Betrug oder Missbrauch, in denen der Betroffene z. B. die Absicht, eine bestimmte wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, nur vorgespiegelt, in Wirklichkeit jedoch versucht hat, abzugsfähige Gegenstände seinem Privatvermögen zuzuführen, kann die Steuerbehörde rückwirkend die Erstattung der abgezogenen Beträge verlangen, da diese Abzüge aufgrund falscher Erklärungen gewährt wurden.“(37)

51.      In den vorliegenden Fällen wird nicht behauptet, dass die Klägerinnen Vorsteuererstattungen aufgrund falscher Erklärungen geltend machen wollten. Ein Unterschied ist ferner zu machen zwischen einerseits der Absicht, wirtschaftliche Tätigkeiten auszuüben, eine Voraussetzung, die vorliegen muss, um die Eigenschaft als Steuerpflichtiger zu erwerben, und andererseits dem Zweck dieser Tätigkeiten, der nach Artikel 4 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie unerheblich ist. Die vorliegenden Fälle betreffen anders als die Rechtssachen Breitsohl und INZO den Zweck der von den Klägerinnen ausgeübten wirtschaftlichen Tätigkeiten, nicht aber die Frage, ob die Klägerinnen wirklich diese Tätigkeiten als Steuerpflichtige ausführen wollten. Die Dienstleistungen und Gegenstände wurden nämlich tatsächlich gegen Zahlung eines Entgelts erbracht bzw. übertragen, wenn auch als Teil einer Maßnahme, die sorgfältig in die Wege geleitet worden war, um einen Anspruch auf Vorsteuererstattung zu begründen.

52.      Nach der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie, die von der Regierung des Vereinigten Königreichs befürwortet wird, ist die Absicht der an einem Umsatz Beteiligten von zentraler Bedeutung für die Einstufung der Lieferungen bzw. Dienstleistungen als Lieferungen bzw. Dienstleistungen, die im Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Steuerpflichtigen im Sinne der Sechsten Richtlinie ausgeführt werden. Diese Auslegung widerspricht der objektiven Natur der wirtschaftlichen Tätigkeit, die ein wesentliches, vom Grundsatz der Rechtssicherheit eingefordertes Merkmal des Mehrwertsteuersystems darstellt und nicht allein von der Absicht der beteiligten Wirtschaftsteilnehmer abhängen darf(38).

3.      Die Verhinderung von Steuerumgehungen durch Einschränkung des Anwendungsbereichs des Mehrwertsteuerrechts

53.      Das Ziel, das die Regierung des Vereinigten Königreichs mit der von ihr vorgeschlagenen Auslegung verfolgt, besteht offensichtlich darin, die Konstruktionen zur Umgehung der Mehrwertsteuer durch Einschränkung des Anwendungsbereichs des Mehrwertsteuersystems zu bekämpfen. Umsätze, die die Zahlung von Mehrwertsteuer umgehen oder aufschieben sollen, wären nach dieser Auslegung vom Geltungsbereich des Mehrwertsteuersystems ausgenommen. Meines Erachtens sollte der Gerichtshof diesem Ansatz nicht folgen, da er mit seiner Rechtsprechung nicht vereinbar ist. Darüber hinaus muss der Gerichtshof, wenn er von seiner gegenwärtigen Auffassung abweichen und sich für die von der Regierung des Vereinigten Königreichs vorgetragene Auffassung entscheiden will, die sich aus dieser Auslegung ergebenden Probleme in Betracht ziehen, die ich im Folgenden kurz darlegen werde. Schließlich sollte bei einer wirksamen Auseinandersetzung mit Steuerumgehungskonstruktionen auf das Bestehen von Alternativen hingewiesen werden, die weniger drastisch sind und im Einklang mit Sinn und Zweck des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems stehen. Diese Frage wird im Folgenden unter der Überschrift „Rechtsmissbrauch“ erörtert werden.

54.      Die Auffassung des Vereinigten Königreichs, dass der Zweck eines Umsatzes von Bedeutung sei, führt zu dem Paradox, dass ein Umsatz nicht unter den Geltungsbereich der Sechsten Richtlinie fällt, weil es den Beteiligten in erster Line darum ging, die Zahlung von Mehrwertsteuer zu umgehen oder aufzuschieben. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausführte, könnte diese Auffassung letzten Endes nicht nur, wie in den vorliegenden Fällen, zu Gunsten der Finanzverwaltung, sondern auch zu Gunsten der Steuerpflichtigen herangezogen werden. Die Steuerpflichtigen könnten grundsätzlich auch behaupten, dass eine bestimmte Leistung angesichts des Zweckes des betreffenden Umsatzes nicht im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit stattgefunden habe und demzufolge nicht in den Geltungsbereich des Mehrwertsteuersystems fallen dürfe. Dies ist z. B. vorstellbar in der Rechtssache Halifax, wo zwischen Halifax und LPDS als Entgelt für die Erbringung von Bauleistungen ein bestimmter Umsatz getätigt wurde, der aus einer Zahlung von Halifax in Höhe von ungefähr 164 000 GBP einschließlich rund 25 000 GBP Mehrwertsteuer bestand. Dieser Umsatz wurde, wie die anderen auch, in der ausschließlichen Absicht der Mehrwertsteuerumgehung ausgeführt(39). Daher müsste der Umsatz nach der von der Regierung des Vereinigten Königreichs vorgeschlagenen Auslegung offenbar von dem Geltungsbereich des Mehrwertsteuersystems ausgenommen werden, auch wenn er tatsächlich zur Zahlung von Mehrwertsteuer führte. Meines Erachtens ist nicht ganz klar, wie dieser Umsatz nach der teleologischen Auslegung, für die sich die Regierung des Vereinigten Königreichs einsetzt, zu beurteilen ist, damit er im Geltungsbereich der Sechsten Richtlinie verbleibt. Dies hängt eng zusammen mit einem weiteren Problem, das sich aus der von der Regierung des Vereinigten Königreichs befürworteten Auslegung ergibt.

55.      Lässt man Umsätze, die zum Zwecke der Steuerumgehung erfolgen, außer Betracht, indem man sie von dem Geltungsbereich des Mehrwertsteuersystems ausnimmt, wird es, wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache Halifax hervorgeht, in Wirklichkeit erforderlich sein, die Kette der einzelnen Lieferungen zu rekonstruieren, um neu zu bestimmen, wer die Empfänger jener Lieferungen sind, die noch unter die Mehrwertsteuer fallen. Höchstwahrscheinlich werden die Empfänger dieser Lieferungen nicht diejenigen sein, die in den Verträgen oder Rechnungen bezüglich der außer Betracht bleibenden Umsätze bezeichnet wurden. Diese Rekonstruktion wirft schwierige Fragen auf.

56.      Erstens setzt es voraus, dass es einen normalen Weg für die Ausführung z. B. von Bauarbeiten in den Rechtssachen Halifax und Huddersfield und für den Erwerb von Arzneimitteln und Prothesen in der Rechtssache BUPA gibt. Ein normaler Umsatz dieser Art wäre derjenige, der in den Geltungsbereich des Mehrwertsteuersystems fällt, doch besteht die Gefahr, dass dies nur einer Wunschvorstellung entspricht, denn es gibt grundsätzlich nicht nur einen einzigen normalen Weg für die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit. Bedient sich z. B. eine Bank für die Ausführung von Bauleistungen der Investitionen eines Dritten und eines Erschließungsunternehmens, statt mit den Bauunternehmen direkt Verträge zu schließen, liegt dies für sich genommen nicht außerhalb des Normalen. Keine dieser Vorgehensweisen bei der Geschäftsausübung kann als normaler als eine andere angesehen werden. Die Entscheidung zugunsten einer Vorgehensweise, die an die Stelle der Umsätze treten soll, die die Beteiligten tatsächlich ausführten, die aber für die Mehrwertsteuer außer Betracht bleiben, wäre rein willkürlich.

57.      Zweitens werden die eigentlichen Eigentumsübertragungen und Dienstleistungen, die gegen Leistung eines wirtschaftlichen Entgelts bewirkt werden, verkannt, wenn stattdessen auf das Gesamtergebnis des Vorgangs abgestellt wird, der als der Mehrwertsteuer unterworfen angesehen wird. Dies ist mit dem typischen Merkmal des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems nach Artikel 2 der Ersten und Sechsten Richtlinie, wonach die Mehrwertsteuer auf jeden Vorgang unter Zugrundelegung der einzelnen Lieferung in der Kette von Umsätzen erhoben wird, nicht vereinbar(40).

58.      Ein weiteres und meines Erachtens ungelöstes Problem, das die von der Regierung des Vereinigten Königreichs vorgeschlagene Auslegung aufwirft, stellt die Frage dar, ob für den Ausschluss dieser Tätigkeiten aus dem Geltungsbereich der Sechsten Richtlinie die Absicht, einen Steuervorteil zu erlangen, bei allen an der Konstruktion Beteiligten gemeinsam bestehen muss. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, besteht nämlich die ernsthafte Gefahr, dass unbeteiligte Dritte beeinträchtigt werden können, wenn sie Lieferungen vornehmen oder solche von Personen entgegennehmen, die an Umsätzen beteiligt sind, deren alleiniger Zweck darin besteht, einen Steuervorteil zu erlangen. Dieses Problem kann meines Erachtens zufrieden stellend nur dadurch gelöst werden, dass die von der Regierung des Vereinigten Königreichs vorgeschlagene Auslegung des Begriffes der Lieferung, die ein Steuerpflichtiger im Rahmen wirtschaftlicher Tätigkeiten ausgeführt hat, rundweg abgelehnt wird.

59.      Nach alledem bin ich der Auffassung, dass der Gerichtshof den vorlegenden Gerichten antworten sollte, dass die Begriffe „wirtschaftliche Tätigkeiten“ und „Lieferungen“, die „ein Steuerpflichtiger als solcher“ ausführt, im Sinne der Artikel 2 und 4 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage dahin auszulegen sind, dass jeder der fraglichen Umsätze objektiv und für sich genommen betrachtet werden muss. Insoweit ist der Umstand, dass eine Lieferung allein in der Absicht ausgeführt wurde, einen Steuervorteil zu erlangen, unerheblich.

B –    Rechtsmissbrauch

60.      Die vorlegenden Gerichte stellen die Frage, ob der Begriff des Rechtsmissbrauchs, den der Gerichtshof früher auf anderen Gebieten des Gemeinschaftsrechts anerkannt hatte, auch auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer anwendbar ist. Diese Rechtsauffassung würde den Steuerpflichtigen daran hindern, einen Steuervorteil aus Umsätzen zu erzielen, die allein zum Zwecke der Erlangung dieses Steuervorteils bewirkt wurden.

61.      Der Gerichtshof hatte in zahlreichen Rechtssachen Gelegenheit, sich zur Frage des so genannten Rechtsmissbrauchs oder – allgemeiner gesagt – Missbrauchs zu äußern. Die Regierung des Vereinigten Königreichs beruft sich mit Unterstützung der Regierungen Irlands, der Niederlande und Frankreichs sowie der Kommission auf diese Rechtsprechung zur Stützung ihrer Auffassung, dass diese Lehre auch auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer anwendbar ist.

1.      Der Begriff des Missbrauchs in der Rechtsprechung des Gerichtshofes

62.      Bei einer Untersuchung der Rechtsprechung des Gerichtshofes zeigen sich eine Reihe übereinstimmender Merkmale bezüglich des gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsbegriffs. Zunächst im Rahmen der Grundfreiheiten hat der Gerichtshof festgestellt, dass es unzulässig sei, sich missbräuchlich durch Inanspruchnahme der Grundfreiheiten der Anwendung der Vorschriften eines Mitgliedstaats zu entziehen(41). Dieser Gedanke wurde vom Gerichtshof auch in anderen spezifischen Bereichen wie dem Bereich der sozialen Sicherheit anerkannt, für den er gleichfalls festgestellt hat, dass Leistungen nicht durch missbräuchliches oder betrügerisches Verhalten erworben werden könnten(42). In anderen Urteilen auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik hat der Gerichtshof überdies entschieden, dass die Anwendung der einschlägigen Rechtsvorschriften auf Ausfuhrerstattungen „keinesfalls so weit ausgedehnt werden darf, dass er missbräuchliche Praktiken eines Exporteurs … deckt“(43). In einem weiteren Urteil auf demselben Gebiet, das die Zahlung von Ausgleichsbeträgen für Käse betraf, der nach Deutschland aus einem Nichtmitgliedstaat eingeführt worden war, hat der Gerichtshof ausgeführt, dass diese Zahlung nicht zu erfolgen hätte, „wenn nachgewiesen wäre, dass die Einfuhr und die Wiederausfuhr dieses Käses nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt wurden, die Gewährung von Währungsausgleichsbeträgen missbräuchlich auszunutzen“(44). In seiner Rechtsprechung zum Gesellschaftsrecht hat der Gerichtshof ebenfalls anerkannt, dass sich ein Aktionär nicht auf eine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts berufen könne, um widerrechtliche Vorteile zu erlangen, die mit den von dieser Vorschrift verfolgten Zielen offensichtlich unvereinbar seien(45). Vor kurzem hat der Gerichtshof seine Auffassung im Urteil Centros, in dem es um den angeblichen Missbrauch des Niederlassungsrechts ging, in der Weise neu formuliert, dass „ein Mitgliedstaat … berechtigt [ist], Maßnahmen zu treffen, die verhindern sollen, dass sich einige seiner Staatsangehörigen unter Missbrauch der durch den EG-Vertrag geschaffenen Möglichkeiten der Anwendung des nationalen Rechts entziehen; die missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht ist nicht gestattet“ (46).

63.      Die zuletzt genannte Feststellung zeigt die beiden Hauptzusammenhänge, in denen der Begriff des Missbrauchs vom Gerichtshof untersucht wurde. Erstens, wenn Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts missbräuchlich geltend gemacht werden, um sich den nationalen Rechtsvorschriften zu entziehen. Zweitens, wenn sich missbräuchlich auf Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts berufen wird, um Vorteile auf eine Weise zu erlangen, die mit dem Ziel und dem Zweck eben dieser Bestimmungen im Widerspruch steht(47).

64.      Meines Erachtens kann sicherlich davon ausgegangen werden, dass sich aus dieser Rechtsprechung ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ableiten lässt(48). Der Gerichtshof hat ihn mit der Feststellung aufgestellt, dass „die missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht nicht gestattet [ist]“(49). Dieser Grundsatz in seiner allgemeinen und recht umfassenden Art ist jedoch für sich genommen keine sachdienliche Hilfe für die Beurteilung, ob ein sich aus einer spezifischen Gemeinschaftsbestimmung ergebendes Recht missbräuchlich ausgeübt wird. Eine differenziertere Rechtsauffassung oder Untersuchung ist für die Feststellung, wann ein Missbrauch vorliegt, erforderlich, um dem Grundsatz Wirkung zu verleihen(50).

65.      Insoweit geht aus der früheren Rechtsprechung hervor, dass der Gerichtshof versucht, zwischen zwei verschiedenen Positionen vorsichtig abzuwägen: Zum einen überlässt er es den nationalen Gerichten, den Missbrauch nach den eigenen einschlägigen nationalen Vorschriften zu beurteilen(51), und zum anderen stellt er sicher, dass die Beurteilung durch die nationalen Gerichte nicht die volle Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung der Gemeinschaftsbestimmungen, auf die sich angeblich missbräuchlich berufen wird, beeinträchtigt(52). Als Konsequenz hieraus hat der Gerichtshof den Parameter entwickelt, dass diese Beurteilung auf nationaler Ebene stattzufinden hat. Erstens müssen der Beurteilung des Missbrauchs objektive Kriterien zugrunde liegen. Zweitens und vor allem muss die Beurteilung in Übereinstimmung mit dem Zweck und den Zielen der Gemeinschaftsbestimmung erfolgen, auf die sich angeblich missbräuchlich berufen wurde(53). Soweit die Feststellung des Zweckes eine Frage der Auslegung ist, hat der Gerichtshof in mehreren Rechtssachen ausdrücklich das Vorliegen eines Missbrauchs verneint(54). 

66.      Im Urteil Emsland Stärke(55) jedoch ist der Gerichtshof bei der Formulierung einer differenzierteren gemeinschaftsrechtlichen Lehre vom Missbrauch einen Schritt weiter gegangen. Dem Gerichtshof war die Frage vorgelegt worden, ob einem Ausführer sein Anspruch auf Ausfuhrerstattung entzogen werden kann, obwohl die formellen Voraussetzungen für die Gewährung der Ausfuhrerstattungen nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 2730/79 der Kommission vom 29. November 1979 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen(56) erfüllt waren. Die betreffenden Waren waren im Wesentlichen Gegenstand einer „U‑Turn‑Konstruktion“, der zufolge sie ausgeführt und zum freien Verkehr in einem Drittland abgefertigt wurden, jedoch unverändert und mit denselben Transportmitteln umgehend wieder in die Gemeinschaft eingeführt wurden.

67.      Demgemäß hat der Gerichtshof entschieden, dass die betreffenden Gemeinschaftsbestimmungen dahin auszulegen seien, dass der Anspruch auf Ausfuhrerstattung bei Missbrauch entfalle. Zur Feststellung eines Missbrauchs hat der Gerichtshof daher einen Bezugsparameter eingeführt, der erstens voraussetzt, dass „eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde“(57), und zweitens, dass „ein subjektives Element [gegeben ist], nämlich die Absicht, sich einen gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden“(58). Dieser Bezugsparameter sollte nach den Ausführungen der Regierung des Vereinigten Königreichs grundsätzlich auch im Rahmen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ohne Rücksicht darauf angewandt werden, dass es weder in der Sechsten Richtlinie noch im nationalen Recht Bestimmungen gibt, in denen ein solcher Bezugsparameter ausdrücklich geregelt wird.

68.      In der vorstehend angeführten Rechtsprechung zum Begriff des Missbrauchs (der nicht immer Rechtsmissbrauch genannt wird) gibt es im Kern eine einheitliche Linie, der zufolge sich die Beurteilung des Missbrauchs nach der Frage richtet, ob der geltend gemachte Anspruch mit dem Ziel der ihm formal zugrunde liegenden Regelung übereinstimmt(59). Demjenigen, der den Anspruch erhebt, ist dessen Geltendmachung nur insoweit versagt, als er sich auf die den Anspruch formal begründende Gemeinschaftsbestimmung stützt, um „widerrechtliche und mit dem Zweck dieser Vorschrift offensichtlich unvereinbare Vorteile … zu erlangen“(60). Wird umgekehrt der Anspruch innerhalb der Grenzen geltend gemacht, die der Zweck und Erfolg der betreffenden Gemeinschaftsbestimmung setzen, liegt kein Missbrauch vor, sondern nur eine rechtmäßige Geltendmachung des Anspruchs (61).

69.      Ich bin daher der Ansicht, dass, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen vorgetragen hat, dieses Missbrauchsverbot als ein die Auslegung des Gemeinschaftsrechts beherrschender Grundsatz wirkt(62). Ein entscheidender Faktor bei der Feststellung eines Missbrauchs ist offenbar der teleologische Geltungsbereich der geltend gemachten Gemeinschaftsregelung(63). Dieser muss definiert werden, um festzustellen, ob der erhobene Anspruch, soweit er nicht offensichtlich außerhalb des Geltungsbereichs dieser Vorschriften liegt, von diesen tatsächlich verliehen wird. Dies erklärt, warum der Gerichtshof sich häufig nicht auf den Rechtsmissbrauch, sondern einfach auf den Missbrauch bezieht.

70.      Insoweit hat die Bezugnahme im Urteil Emsland auf das subjektive Element des Missbrauchs keine Auswirkungen auf die interpretative Natur des gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsbegriffs(64). Im Urteil Emsland hat der Gerichtshof das subjektive Element mit der Feststellung verbunden, dass der Sachverhalt, der zur Anwendung einer bestimmten Gemeinschaftsregelung geführt hatte, rein willkürlich geschaffen worden sei. Meines Erachtens darf die Feststellung von Willkür nicht auf der Feststellung subjektiver Absichten derjenigen beruhen, die sich auf das Gemeinschaftsrecht berufen. Die Künstlichkeit bestimmter Ereignisse oder Umsätze muss zweifellos anhand einer Reihe objektiver, in jedem Einzelfall überprüfter Umstände ermittelt werden. Diese Auffassung deckt sich mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes im Urteil Emsland, wo festgestellt wurde, dass der alleinige Zweck einer Tätigkeit oder eines Verhaltens für die Schlussfolgerung, dass ein Missbrauch des Gemeinschaftsrechts vorliegt, von zentraler Bedeutung sei(65). Die Auffassung des Gerichtshofes, dass ein Missbrauch immer dann vorliegt, wenn die betreffende Tätigkeit keinen anderen Zweck und keine andere Rechtfertigung haben kann, als dass durch diese Tätigkeit Gemeinschaftsbestimmungen in einer Weise zur Anwendung kommen, die dem Zweck der Bestimmungen widersprechen, ist meines Erachtens gleichbedeutend mit der Einführung eines objektiven Kriteriums für die Feststellung des Missbrauchs. Zwar werden diese objektiven Elemente ergeben, dass der an der Tätigkeit Beteiligte höchstwahrscheinlich die Absicht hatte, das Gemeinschaftsrecht zu missbrauchen. Diese Absicht ist für die Feststellung des Missbrauchs jedoch nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr die Tätigkeit als solche, und zwar bei objektiver Betrachtungsweise. Insoweit genügt es beispielsweise, sich einen Fall vorzustellen, in dem A sich darauf beschränkt, dem Rat des B ohne weiteres Nachdenken zu folgen und eine Tätigkeit auszuführen, für die es keine andere Erklärung gibt als die, dass sie A einen Steuervorteil verschafft. Der Umstand, dass A subjektiv nicht die Absicht hatte, das Gemeinschaftsrecht zu missbrauchen, wird für die Feststellung des Missbrauchs sicherlich ohne Relevanz sein. Worauf es ankommt, sind nicht seine gegenwärtigen Absichten, sondern der Umstand, dass es für die Tätigkeit objektiv gesehen keine andere Erklärung gibt als die, dass durch sie ein Steuervorteil verschafft wird.

71.      Meines Erachtens sollte daher nicht die Suche nach den schwer fassbaren subjektiven Absichten der Beteiligten darüber entscheiden, ob das im Urteil Emsland angeführte subjektive Element vorliegt. Die Absicht der Beteiligten, sich missbräuchlich durch das Gemeinschaftsrecht einen Vorteil zu verschaffen, ist stattdessen nur dem künstlichen Charakter der Situation zu entnehmen, der anhand einer Reihe objektiver Umstände zu beurteilen ist. Steht fest, dass diese objektiven Umstände vorliegen, ist daraus zu folgern, dass derjenige, der sich auf den Wortlaut einer Gemeinschaftsbestimmung zur Geltendmachung eines Rechts beruft, das im Widerspruch zu deren Zielen steht, es nicht verdient, dass dieses Recht anerkannt wird. Unter diesen Umständen ist die fragliche Rechtsvorschrift entgegen ihrem Wortlaut dahin auszulegen, dass sie unter den konkreten Umständen ein solches Recht nicht gewährt. Die Prüfung des objektiven Zweckes der Gemeinschaftsregelung und der ausgeführten Tätigkeiten, nicht aber die der subjektiven Absichten Einzelner steht meines Erachtens im Zentrum der gemeinschaftsrechtlichen Lehre vom Missbrauch. Ich bin daher der Ansicht, dass die Verwendung des Begriffes Rechtsmissbrauch für das, was nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes im Wesentlichen eine Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist, sogar missverständlich sein kann(66). Ich ziehe daher die Verwendung des Begriffes „Verbot des Missbrauchs des Gemeinschaftsrechts“ vor und werde vom Rechtsmissbrauch nur dort sprechen, wo die Einfachheit es erfordert.

72.      Ich wende mich jetzt der Frage zu, ob dieser gemeinschaftsrechtliche Auslegungsgrundsatz in den vorliegenden Fällen auf dem spezifischen Gebiet des harmonisierten Mehrwertsteuersystems anwendbar ist. Sollte er anwendbar sein, ist zu fragen, welches die Kriterien für seine Anwendung in den vorliegenden Fällen sind.

2.      Die Anwendbarkeit des Grundsatzes, dass der Missbrauch des Gemeinschaftsrechts verboten ist, im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem

73.      Wie Generalanwalt Tesauro feststellte, „muss jede Rechtsordnung, die den Anspruch auf ein Mindestmaß an Vollständigkeit erhebt, Maßnahmen, die ich als Selbstschutzmaßnahmen bezeichnen möchte, enthalten, um zu verhindern, dass die in ihr begründeten Rechte missbräuchlich, exzessiv oder sachwidrig ausgeübt werden. Dieses Erfordernis ist dem Gemeinschaftsrecht keineswegs fremd.“(67) Ich bin der Ansicht, dass auch das gemeinsame Mehrwertsteuersystem nicht gegen die jedem Rechtssystem innewohnende Gefahr gefeit ist, dass Maßnahmen ergriffen werden, die, obwohl sie formal im Einklang mit einer Rechtsvorschrift stehen, unter Verstoß gegen deren Zweck und Ziel eine missbräuchliche Ausnutzung der von dieser Vorschrift bereitgehaltenen Möglichkeiten darstellen.

74.      Es fällt daher schwer, das gemeinsame Mehrwertsteuersystem als eine Art missbrauchsfreie Zone innerhalb des gemeinschaftlichen Rechtssystems zu verstehen, in der dieser Grundsatz nicht zu beachten wäre. Es gibt keinen Grund, weshalb dieser allgemeine Grundsatz des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer von einer ausdrücklichen Feststellung des Gesetzgebers abhängen sollte, dass auch für die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie der in ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes bestätigte Grundsatz gilt, dass keine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts die Grundlage für die Verschaffung von Vorteilen sein kann, die offenkundig im Widerspruch zu ihren Zielen und Zwecken stehen. Diese Regel, verstanden als Auslegungsgrundsatz, stellt ein unentbehrliches Sicherheitsventil dar, um die Ziele aller Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts vor einer formalistischen, sich nur auf den Wortlaut gründenden Anwendung zu schützen(68). Die Auffassung, dass der Grundsatz im Bereich der Mehrwertsteuer anwendbar ist, steht völlig im Einklang mit dem kürzlich vom Gerichtshof in dem Urteil Gemeente Leusden vertretenen Standpunkt, dem zufolge „die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Sechsten Richtlinie anerkannt und gefördert wird“(69).

75.      Soweit dieser Grundsatz als ein allgemeiner Auslegungsgrundsatz verstanden wird, ist es nicht erforderlich, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber ihn ausdrücklich durch Gesetz anerkennt, damit er auf die Bestimmungen der Sechsten Richtlinie Anwendung findet. Allein daraus, dass in der Sechsten Richtlinie eine den Auslegungsgrundsatz enthaltene Bestimmung fehlt, durch die der Missbrauch verboten wird – und dasselbe könnte z. B. für die Grundsätze der Rechtssicherheit oder den Vertrauensschutz gelten, wie die irische Regierung in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat –, kann daher nicht geschlossen werden, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber diesen Grundsatz nicht auf die Sechste Richtlinie anwenden wollte. Selbst wenn es umgekehrt eine Bestimmung in der Sechsten Richtlinie gäbe, die diesen Grundsatz ausdrücklich aufstellen würde, könnte dies, worauf die Kommission hingewiesen hat, nur als eine Klarstellung oder Kodifizierung eines bestehenden allgemeinen Grundsatzes angesehen werden(70).

76.      Aus genau denselben Gründen kann ich dem Vorschlag der Klägerinnen in den vorliegenden Fällen nicht zustimmen, dass die Anwendung eines allgemeinen Grundsatzes, nach dem ein Missbrauch im Rahmen der Sechsten Richtlinie verboten ist, davon abhängig sein müsse, dass der einzelne Mitgliedstaat gemäß dem Verfahren nach Artikel 27 der Sechsten Richtlinie geeignete nationale Bestimmungen zur Bekämpfung der Steuervermeidung erlässt(71). Wollte man dieser Auffassung folgen, würde aus dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem ein besonderes Rechtsgebiet werden, in dem praktisch jedes opportunistische Verhalten eines Steuerpflichtigen, der sich auf den Wortlaut der betreffenden Bestimmungen beruft, um gegenüber den Steuerbehörden missbräuchlich Steuervorteile zu erlangen, hinzunehmen wäre, solange die Mitgliedstaaten nicht zuvor gesetzgeberische Maßnahmen erlassen hätten, die ein solches Verhalten untersagen.

77.      Ich sehe kurz gesagt keinen Grund, weshalb die Mehrwertsteuervorschriften nicht nach Maßgabe des allgemeinen Grundsatzes, nach dem der Missbrauch des Gemeinschaftsrechts verboten ist, ausgelegt werden sollten. Zwar wird das Steuerrecht häufig von dem legitimen Interesse an der Rechtssicherheit bestimmt, das sich insbesondere aus der Notwendigkeit, die Berechenbarkeit der den Steuerpflichtigen auferlegten Steuerlast zu gewährleisten, sowie aus dem Grundsatz „Keine Besteuerung ohne Vertretung“ herleitet. Es genügt jedoch eine vergleichende Untersuchung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, um deutlich zu machen, dass dieses Interesse den Gebrauch gewisser allgemeiner Bestimmungen und unbestimmter Begriffe auf dem Gebiet des Steuerrechts zur Verhütung rechtswidriger Steuerumgehung nicht ausschließt(72). Die Rechtssicherheit ist gegen andere Wertentscheidungen des Rechtssystems abzuwägen. Das Steuerrecht darf nicht eine Art rechtlicher Wilder Westen werden, in dem praktisch jedes opportunistische Verhalten zu tolerieren ist, solange es im Einklang mit einer streng formalistischen Auslegung der einschlägigen Bestimmungen steht und der Gesetzgeber nicht ausdrücklich Maßnahmen ergriffen hat, um dieses Verhalten zu unterbinden.

78.      Artikel 27 der Sechsten Richtlinie steht einer Lehre vom Missbrauch, die für die Auslegung der gemeinsamen Mehrwertsteuervorschriften gilt, nicht entgegen. Zwar hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Mitgliedstaaten zur Beachtung aller Vorschriften der Richtlinie verpflichtet sind und einem Steuerpflichtigen keine von der Richtlinie abweichende Vorschrift entgegenhalten können, soweit keine Ausnahmeregelung gemäß Artikel 27 geschaffen worden ist(73). Die Notwendigkeit, Steuerhinterziehungen oder Steuerumgehungen zu verhüten, kann daher von der Richtlinie abweichende nationale Maßnahmen nur im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 27 der Richtlinie rechtfertigen(74). Auch sind nur solche Ausnahmeregelungen zulässig, die verhältnismäßig und erforderlich sind zur Erreichung der in Artikel 27 ausdrücklich genannten Ziele(75).

79.      Das Verbot, das Gemeinschaftsrecht zu missbrauchen, führt jedoch, wenn es als ein Auslegungsgrundsatz verstanden wird, nicht zu Abweichungen von den Bestimmungen der Sechsten Richtlinie. Das Ergebnis seiner Anwendung besteht darin, dass in der ausgelegten Rechtsvorschrift keine das fragliche Recht verleihende Bestimmung gesehen werden kann, da das geltend gemachte Recht offensichtlich nicht unter den Zweck und das Ziel der missbräuchlich herangezogenen Vorschrift fällt. Insoweit und vor allem zieht die Anwendung dieses Auslegungsgrundsatzes nicht das Ergebnis nach sich, dass die ausgeführten wirtschaftlichen Tätigkeiten für das Mehrwertsteuerrecht unberücksichtigt bleiben müssten oder vom Geltungsbereich der Sechsten Richtlinie ausgenommen werden sollten. Wird die Sechste Richtlinie gemäß diesem Grundsatz ausgelegt, muss die im Rahmen einer Rechtsauslegung naheliegendste Konsequenz erwartet werden, nämlich dass das Recht entgegen dem Wortlaut der Rechtsvorschrift tatsächlich nicht gewährt wird. Sofern diese Auslegung irgendeine Art von Abweichung mit sich bringt, handelt es sich lediglich um eine Abweichung von dem Buchstaben der Vorschrift, nicht von der Vorschrift selbst, die mehr als nur die Buchstaben umfasst. Außerdem berücksichtigt die Anwendung des gemeinschaftlichen Auslegungsgrundsatzes vollauf das Ziel einer einheitlichen Anwendung der Mehrwertsteuervorschriften in allen Mitgliedstaaten, das den verfahrensmäßigen Anforderungen und den Grenzen beim Erlass nationaler Maßnahmen zur Verhütung bestimmter Arten von Steuerhinterziehung oder Steuerumgehung nach Artikel 27 zugrunde liegt.

80.      Es besteht somit kein Widerspruch zwischen der Anwendung des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsgrundsatzes, wonach ein Missbrauch im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem verboten ist, und dem Verfahren des Artikels 27, nach dem die Mitgliedstaaten von der Sechsten Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einführen, um bestimmte Arten von Steuerhinterziehung oder ‑umgehung zu verhüten.

81.      Ich teile auch nicht den von einzelnen Klägerinnen vorgebrachten Einwand, dass der gemeinschaftsrechtliche Auslegungsgrundsatz, der den Missbrauch verbietet, im Hinblick auf das Vorsteuerabzugsrecht nicht gelten könne, da dieses Recht von innerstaatlichen Vorschriften zur Durchführung der Sechsten Richtlinie verliehen werde. Das Recht zum Vorsteuerabzug wird von der Sechsten Richtlinie verliehen. Es handelt sich um ein Gemeinschaftsrecht, dessen Rechtsgrundlage Artikel 17 der Sechsten Richtlinie ist und dessen Inhalt außerdem den Mitgliedstaaten, was seine Durchführung angeht, keinen Ermessensspielraum lässt(76). Sofern diese gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften bestimmte Ziele und Ergebnisse erreichen sollen, müssen die innerstaatlichen Durchführungsbestimmungen von den nationalen Behörden nach Maßgabe dieser Zwecke ausgelegt und angewandt werden(77). Soweit daher der gemeinschaftsrechtliche Auslegungsgrundsatz bezweckt, dass die Zwecke und Ziele des Gemeinschaftsrechts, insbesondere die der Vorschriften der Sechsten Richtlinie, mit denen das Recht auf Vorsteuerabzug begründet wird, nicht verfälscht werden, muss diese Auslegung auch von den nationalen Behörden bei der Anwendung ihrer innerstaatlichen Vorschriften über den Vorsteuerabzug befolgt werden(78). Ich teile ferner die Auffassung der Kommission, dass der Umstand, dass der Gerichtshof einen Missbrauchsbegriff z. B. im Urteil Emsland im Rahmen einer Verordnung und eines Sachverhalts, in dem es um Gemeinschaftsmittel ging, nicht aber im Rahmen der Sechsten Richtlinie entwickelt hat, unerheblich ist. Erheblich ist, dass die Mehrwertsteuer einem einheitlichen System unterliegt und dass ihre Vorschriften einheitlich auszulegen sind. Darauf hinzuweisen ist, dass der Gerichtshof im Urteil Gemeente Leusden bei der Beurteilung des Missbrauchsbegriffs im Rahmen der Sechsten Richtlinie ausdrücklich auf den im Urteil Emsland formulierten Begriff des Missbrauchs Bezug genommen hat(79).

82.      Die bedeutenderen Schwierigkeiten und Einwände gegenüber der Anwendung dieses Auslegungsgrundsatzes auf die Sechste Richtlinie betreffen die Formulierung der Kriterien, die für die Anwendung in diesem spezifischen Bereich gelten sollen. Insoweit sind die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu berücksichtigen.

3.      Die für das Mehrwertsteuersystem geltende Auslegung des gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsbegriffs im Einklang mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes der Steuerpflichtigen

83.      Die Kriterien für die Anwendung des Auslegungsgrundsatzes, nach dem der Missbrauch des Gemeinschaftsrechts verboten ist, sind im Licht der spezifischen Merkmale und Grundsätze des harmonisierten Mehrwertsteuersystems zu prüfen. Der im Urteil Emsland angeführte Bezugsparameter für die Beurteilung des Missbrauchs liefert in dieser Hinsicht wichtige Aufschlüsse, doch ergibt sich aus der Besonderheit der Mehrwertsteuer als einer Steuer mit objektiver Natur, dass eine automatische Umsetzung nicht angeraten ist. Dass überdies ein einheitlicher Bezugsparameter für die Anwendung des Grundsatzes des Missbrauchsverbots in jedem Gebiet des Gemeinschaftsrechts fehlt, muss im Gemeinschaftsrecht – wie in jedem nationalen Rechtssystem – als selbstverständlich gelten(80).

84.      Die Definition des Geltungsbereichs des auf das gemeinsame Mehrwertsteuersystem anwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes ist letztlich eine Frage, wie die Grenzen zu ziehen sind, die für die Auslegung der den Steuerpflichtigen bestimmte Rechte verleihenden Vorschriften der Mehrwertsteuerrichtlinien zur Anwendung kommen. Insoweit muss eine Abwägung der objektiven Beurteilung des Missbrauchsverbots gegenüber den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes stattfinden, die ebenfalls „Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind“(81) und in Bezug auf die die Vorschriften der Sechsten Richtlinie auszulegen sind(82). Aus diesen Grundsätzen folgt, dass die Steuerpflichtigen das Recht haben müssen, von vornherein ihre steuerrechtliche Situation zu erkennen und sich zu diesem Zweck auf den Wortlaut der Mehrwertsteuervorschriften zu verlassen(83).

85.      Der Gerichtshof hat ferner in ständiger Rechtsprechung im Einklang mit der von den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Steuerrechts allgemein anerkannten Auffassung entschieden, dass die Steuerpflichtigen frei darin seien, ihre Geschäfte so zu gestalten, dass ihre Steuerpflicht eingeschränkt sei. Im Urteil BLP Group hat der Gerichtshof festgestellt, dass „die Wahl eines Unternehmers zwischen steuerfreien Umsätzen und besteuerten Umsätzen auf einer Reihe von Gesichtspunkten, insbesondere auf steuerlichen Überlegungen in Bezug auf die Mehrwertsteuerregelung, beruhen kann“(84). Es gibt keine gesetzliche Verpflichtung, ein Geschäft so zu betreiben, dass das Steueraufkommen des Staates möglichst hoch ausfällt. Das Grundprinzip besteht in der Freiheit, sich bei der Führung der Geschäfte für den Weg mit der niedrigsten Besteuerung entscheiden zu können, um die Kosten möglichst gering zu halten(85). Andererseits besteht diese Wahlfreiheit nur innerhalb des Geltungsbereichs der von dem Mehrwertsteuersystem vorgesehenen gesetzlichen Möglichkeiten. Das normative Ziel des Missbrauchsverbots innerhalb des Mehrwertsteuersystems ist es gerade, die Möglichkeiten festzulegen, die die gemeinsamen Mehrwertsteuervorschriften den Steuerpflichtigen offen gelassen haben. Eine solche Festlegung muss die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes der Steuerpflichtigen berücksichtigen.

86.      Anhand dieser Grundsätze muss der Geltungsbereich des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsgrundsatzes, durch den der Missbrauch der Mehrwertsteuervorschriften verboten wird, dahin bestimmt werden, dass es zu keiner Beeinträchtigung des rechtmäßigen Wirtschaftsverkehrs kommt. Eine solche etwaige negative Wirkung wird jedoch verhindert, wenn das Missbrauchsverbot dahin verstanden wird, dass das vom Steuerpflichtigen geltend gemachte Recht nur dann ausgeschlossen ist, wenn es für die ausgeführte einschlägige wirtschaftliche Tätigkeit keine andere objektive Erklärung gibt, als dass durch sie das fragliche Recht gegenüber den Steuerbehörden begründet werden soll, und wenn die Anerkennung dieses Rechtsanspruchs mit dem von den einschlägigen Vorschriften des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems vorgesehenen Zweck und Erfolg im Widerspruch stehen würde. Diese wirtschaftliche Tätigkeit verdient auch dann, wenn sie rechtmäßig ist, keinen Schutz nach den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, da ihr einzig möglicher Zweck darin besteht, die Ziele der Rechtsordnung zu untergraben.

87.      Meines Erachtens liegt daher dem auf das Mehrwertsteuersystem anwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsbegriff ein Bezugsparameter zugrunde, der sich aus zwei Kriterien zusammensetzt. Beide Kriterien müssen erfüllt sein, um das Vorliegen eines Missbrauchs des Gemeinschaftsrechts in diesem Bereich feststellen zu können. Das erste Kriterium entspricht dem subjektiven Element, das der Gerichtshof im Urteil Emsland angeführt hat, doch ist es subjektiv nur insoweit, als es die Aufgabe hat, den Zweck der fraglichen Tätigkeiten zu bestimmen. Dieser Zweck – der nicht mit der subjektiven Absicht der an diesen Tätigkeiten Beteiligten verwechselt werden darf – wird objektiv bestimmt, nämlich durch die Feststellung, dass die einzige wirtschaftliche Rechtfertigung darin besteht, einen Steuervorteil zu verschaffen. Daher kann dieses Kriterium als ein Kriterium der Eigenständigkeit angesehen werden. Die nationalen Behörden müssen bei seiner Anwendung prüfen, ob die fragliche Tätigkeit eine gewisse eigenständige Grundlage hat, die ihr im betreffenden Fall, abgesehen von steuerrechtlichen Überlegungen, eine gewisse wirtschaftliche Rechtfertigung verleihen kann.

88.      Das zweite Kriterium des vorgeschlagenen Bezugsparameters entspricht dem so genannten objektiven Element im Urteil Emsland. Es handelt sich tatsächlich um ein zweckgerichtetes Kriterium, anhand dessen der Zweck und die Ziele der angeblich missbrauchten Gemeinschaftsregelung mit dem Zweck und dem Erfolg verglichen werden, die durch die betreffende Tätigkeit erreicht worden sind. Das zweite Kriterium ist wichtig nicht nur, weil es den Standard vorgibt, anhand dessen Zweck und Erfolg der betreffenden Tätigkeit zu prüfen sind. Es stellt auch eine Sicherung in den Fällen dar, in denen der einzige Zweck der Tätigkeit darin bestehen kann, die Steuerschuld zu verringern, in denen aber dieser Zweck tatsächlich aus einer Entscheidung zwischen unterschiedlichen Steuerregelungen folgt, die der Gemeinschaftsgesetzgeber absichtlich zur Verfügung gestellt hat. Besteht somit zwischen der Anerkennung des vom Steuerpflichtigen geltend gemachten Anspruchs und den von der betreffenden Rechtsvorschrift angestrebten Zielen und Ergebnissen kein Widerspruch, kann ein Missbrauch nicht festgestellt werden.

89.      Das Missbrauchsverbot als Auslegungsgrundsatz ist nicht mehr relevant, wenn es für die ausgeführte wirtschaftliche Tätigkeit eine andere Erklärung geben kann als die, dass ausschließlich Steuervorteile gegenüber den Steuerbehörden erreicht werden sollen. Wollte man unter solchen Umständen eine Rechtsvorschrift aufgrund eines ungeschriebenen allgemeinen Grundsatzes dahin auslegen, dass sie einen solchen Steuervorteil nicht gewährt, würde man den Steuerbehörden ein übermäßig weites Ermessen bei der Entscheidung einräumen, welcher der mehreren Zwecke eines bestimmten Umsatzes als vorherrschend anzusehen ist. Dies würde bei den rechtmäßigen Entscheidungen der Wirtschaftsteilnehmer zu einer starken Unsicherheit führen und die wirtschaftlichen Tätigkeiten beeinträchtigen, die eindeutig Schutz verdienen, vorausgesetzt, ihnen liegen, zumindest in einem gewissen Umfang, gewöhnliche Geschäftszwecke zugrunde.

90.      Es kann kaum bezweifelt werden, dass auch in solchen Fällen, in denen den Tätigkeiten eine Mischung aus steuerlichen und nichtsteuerlichen Erwägungen zugrunde liegt, weitere Beschränkungen für solche Ansprüche eingeführt werden könnten, die sich aus Tätigkeiten ergeben, die – in unterschiedlichem Umfang – vorwiegend Steuervorteile erzielen sollen. Dies würde jedoch den Erlass geeigneter gesetzgeberischer Maßnahmen auf nationaler Ebene erfordern. Die Auslegung allein wird nicht genügen. Solche Maßnahmen könnten auch allgemeinere Bestimmungen zur Bekämpfung des Missbrauchs enthalten, wie sie in einigen Mitgliedstaaten erlassen wurden, die u. a. auf die Mehrwertsteuer anwendbar sind und sich in ihrem Geltungsbereich, in ihrer Vorgehensweise oder in ihren Auswirkungen von der Geltung des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsgrundsatzes des Missbrauchsverbots im Bereich der Mehrwertsteuer unterscheiden können(86). Jedenfalls müssen diese Rechtsvorschriften das Verfahren des Artikels 27 sowie die insoweit vom Gerichtshof festgelegten Grenzen beachten(87).

91.      Demnach bin ich der Ansicht, dass es einen gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsgrundsatz gibt, der den Missbrauch von Gemeinschaftsbestimmungen verbietet und der auch auf die Sechste Richtlinie anwendbar ist. Nach diesem Auslegungsgrundsatz sind die Bestimmungen der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass sie die Rechte, die sich aufgrund ihres Wortlauts ergeben können, nicht verleihen, wenn zwei objektive Kriterien erfüllt sind. Erstens das Kriterium, dass die mit den Rechtsvorschriften, aus denen sich der geltend gemachte Steuervorteil formal ergibt, angestrebten Ziele und Ergebnisse vereitelt würden, falls das Recht verliehen würde. Zweitens das Kriterium, dass sich das geltend gemachte Recht aus Tätigkeiten ableitet, für die es objektiv keine andere Erklärung gibt als die, dass mit ihnen das geltend gemachte Recht begründet werden soll.

4.      Der Zweck der Bestimmungen der Sechsten Richtlinie über das Vorsteuerabzugsrecht und deren Auslegung nach Maßgabe des Grundsatzes, dass der Missbrauch des Gemeinschaftsrechts verboten ist

92.      Die vorliegenden drei Rechtssachen betreffen einen angeblichen Missbrauch der Gemeinschaftsbestimmungen, die ein Vorsteuerabzugsrecht verleihen. Nach dem oben dargelegten Bezugsparameter sind erstens die Zwecke und Ziele der das Vorsteuerabzugsrecht regelnden Bestimmungen der Sechsten Richtlinie zu bestimmen. Die vorlegenden Gerichte werden sodann feststellen können, ob in den ihnen vorliegenden Fällen diese Zwecke erreicht werden, wenn den Klägerinnen das Recht auf Vorsteuerabzug oder ‑erstattung unter den Umständen, unter denen sie es geltend machen, zugesprochen wird.

93.      Wie sich aus Artikel 17 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie a contrario ergibt, steht einem Steuerpflichtigen, der eine von der Mehrwertsteuer befreite Lieferung bewirkt, kein Recht auf Abzug der auf Gegenstände oder Dienstleistungen entrichteten Vorsteuer zu, die für diese steuerbefreite Lieferung verwendet wurden(88). Der Gerichtshof hat insoweit überdies entschieden, dass „die betreffenden Gegenstände oder Dienstleistungen … eine direkte und unmittelbare Verbindung mit den besteuerten Umsätzen aufweisen müssen“(89). Es ist nicht ausreichend, dass sie nur indirekt mit den steuerbaren Umsätzen des Steuerpflichtigen zusammenhängen, da dies Untersuchungen des vom Steuerpflichtigen verfolgten endgültigen Zweckes erforderlich machen würde, und dies muss insoweit unerheblich sein(90). Das Recht des Steuerpflichtigen, von der geschuldeten Umsatzsteuer die für die Ausführung der besteuerten Lieferungen angefallene Vorsteuer abzuziehen, ist eine logische Folge des Neutralitätsgrundsatzes(91). Die Mehrwertsteuer ist eine indirekte allgemeine Verbrauchssteuer, die von dem einzelnen Verbraucher getragen werden soll(92). Demgemäß verlangt dieser Grundsatz, dass ein Steuerpflichtiger nicht berechtigt sein darf, die Vorsteuer abzuziehen oder erstattet zu verlangen, die auf Lieferungen entrichtet wurde, die für steuerbefreite Umsätze empfangen wurden. Wird auf die von einem Steuerpflichtigen gelieferten Gegenstände oder Dienstleistungen keine Mehrwertsteuer erhoben, sucht die Sechste Richtlinie zwangsläufig zu verhindern, dass der Steuerpflichtige die entsprechende Vorsteuer zurückerhält. Dies hat, worauf die Kommission in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat, zur Konsequenz, dass die Befreiung von der Mehrwertsteuer im Sinne der Sechsten Richtlinie nicht bedeutet, dass die Sechste Richtlinie den Endverbraucher völlig von jeder Steuerlast befreien soll(93).

94.      In den drei hier fraglichen Rechtssachen geht aus den Vorabentscheidungsersuchen jedoch hervor, dass dort Steuerpflichtige, die gemäß den soeben dargelegten Zwecken der Vorsteuerabzugsregelung nur die Vorsteuer abziehen oder erstattet verlangen dürfen, die auf einen begrenzten Teil der von ihnen bezogenen Lieferungen bzw. Dienstleistungen entfällt, praktisch Pläne ausgeführt haben, die sie in die Lage versetzten, dieses Ergebnis zu umgehen und die gesamte Vorsteuer erstattet zu erhalten. In der Rechtssache BUPA, die etwas anders liegt, gibt die angewandte Konstruktion der BUPA die Möglichkeit, faktisch weiterhin in den Genuss der Nullsatzbesteuerung zu kommen, die im Vereinigten Königreich mit Wirkung zum 1. Januar 1998 außer Kraft trat und durch die Steuerbefreiungsregelung ohne jedes Vorsteuerabzugsrecht ersetzt wurde(94).

95.      Es muss jedenfalls Aufgabe der vorlegenden Gerichte sein, zu prüfen, ob die Anerkennung des Rechts auf Abzug oder Rückerstattung der Vorsteuer zugunsten der Steuerpflichtigen, die sich in den vorliegenden Rechtssachen auf dieses Recht berufen, mit den von den einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie verfolgten Zwecken und Zielen, wie sie oben dargelegt wurden, im Einklang steht. Stellen die vorlegenden Gerichte fest, dass diese Zwecke nur teilweise erreicht werden – insoweit als die befreiten Steuerpflichtigen berechtigt sind, einen bestimmten Teil der angefallenen Vorsteuer zurückzuerlangen –, müssen die den Vorsteuerabzug regelnden Bestimmungen der Sechsten Richtlinie dahin ausgelegt werden, dass sie zu diesem Teil den betreffenden Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuererstattung verleihen. Dies scheint in den Rechtssachen Halifax und Huddersfield der Fall zu sein, in denen die beiden teilweise steuerbefreiten Unternehmen offensichtlich die Vorsteuer zurückerlangen konnten, wenn auch nur begrenzt nach dem geltenden Pro‑rata‑Satz.

96.      Bezüglich des zweiten Auslegungskriteriums des Grundsatzes, dass der Missbrauch des Gemeinschaftsrechts verboten ist, ist es ebenfalls Sache der nationalen Gerichte zu prüfen, ob in den ihnen vorliegenden Fällen die von den betreffenden Steuerpflichtigen ausgeführten wirtschaftlichen Tätigkeiten auf etwas anderes als darauf ausgerichtet sind, einen Steuervorteil zu verschaffen. Mit anderen Worten, die nationalen Gerichte werden zu prüfen haben, ob die fraglichen Tätigkeiten möglicherweise eine eigenständige wirtschaftliche Rechtfertigung haben, die mit dem alleinigen Zweck der Mehrwertsteuerumgehung oder des Mehrwertsteueraufschubs in keinem Zusammenhang steht.

97.       Stellen die vorlegenden Gerichte in diesen Fällen fest, dass die beiden Kriterien erfüllt sind, so ist zu folgern, dass die einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie über das Recht auf Vorsteuerabzug oder ‑erstattung bei ordnungsgemäßer Auslegung nach Maßgabe des Grundsatzes, dem zufolge der Missbrauch des Gemeinschaftsrechts verboten ist, ein solches Recht nicht oder nur teilweise verleihen.

5.      Die Auslegung des Artikels 10 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie, soweit dieser in der Rechtssache BUPA relevant ist

98.      Um meine Untersuchung zu beenden, möchte ich einige besondere Aspekte der Rechtssache BUPA prüfen, die meines Erachtens eine getrennte Behandlung im Licht des Artikels 10 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Sechsten Richtlinie rechtfertigen.

99.      In der Rechtssache BUPA erleichtern die fraglichen Vereinbarungen praktisch die Erstattung der auf den Erwerb von Gegenständen geleisteten Vorsteuer für einen Zeitraum, in dem das Abzugsrecht nicht mehr zur Verfügung stand. Eine zentrale Rolle spielen hierbei die Vorauszahlungsvereinbarungen, da sie den Erfolg der übernommenen Konstruktionen zur Optimierung der Mehrwertsteuer gewährleisten. Insoweit weise ich darauf hin, dass, wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, die Vorauszahlungsvereinbarungen ausdrücklich Bezug nehmen auf die „Arzneimittel [oder Prothesen], die BUPA [oder GDL] möglicherweise zu kaufen beabsichtigt“, und zwar aus der Reihe derjenigen Arzneimittel und Prothesen, die in den Listen, die den Vorauszahlungsvereinbarungen beigefügt sind, allgemein beschrieben werden. Diese Arzneimittel und Prothesen sind nicht nur zukünftig von BHL oder GDL zu spezifizieren, sondern die Vereinbarung kann auch einseitig von jedem Beteiligten beendet werden, wobei die Beendigung dazu führt, dass alle vorausgezahlten Beträge, die noch nicht zum Erwerb von Arzneimitteln oder Prothesen verwendet wurden, vollständig zurückzuzahlen sind.

100. Der Wortlaut des Artikels 10 Absatz 2 Unterabsatz 2 bezieht sich auf einen Sachverhalt, in dem „Anzahlungen geleistet [werden], bevor die Lieferung von Gegenständen oder die Dienstleistung bewirkt ist“. Dieser Artikel 10 Absatz 2 Unterabsatz 2 verlangt meines Erachtens dafür, dass eine Anzahlung auf Gegenstände oder Dienstleistungen von dieser Bestimmung überhaupt erfasst wird, dass diese Gegenstände oder Dienstleistungen im Zeitpunkt der Anzahlung genau bestimmt sind. Eine bloße Anzahlung für Gegenstände, die gattungsmäßig in einer Liste aufgeführt sind, aus der der Käufer künftig möglicherweise einen oder mehrere oder gar keinen Artikel auswählt, wobei er die Vereinbarung jederzeit einseitig beenden und Erstattung des nicht verbrauchten Restbetrags der geleisteten Vorauszahlung verlangen kann, genügt nicht, um diese Vorauszahlung als „Anzahlung“ im Sinne von Artikel 10 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Sechsten Richtlinie einzustufen. Soweit daher Vorauszahlungsvereinbarungen, wie sie in der Rechtssache BUPA in Rede stehen, vom vorlegenden Gericht im Wesentlichen als Vereinbarungen über einen in der Zukunft stattfindenden Kauf in dem oben genannten Sinne eingestuft werden können, werden sie von Artikel 10 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Sechsten Richtlinie nicht erfasst.

101. Ist das vorlegende Gericht jedoch der Auffassung, dass der Sachverhalt in der Rechtssache BUPA mit der hier für Artikel 10 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Sechsten Richtlinie vorgeschlagenen Auslegung nicht vereinbar ist, kann noch der Missbrauch der Gemeinschaftsbestimmungen bezüglich des Vorsteuerabzugsrechts geprüft werden. Meines Erachtens liegt ein solcher Missbrauch vor, wenn es für den Abschluss der in der Rechtssache BUPA durchgeführten Vorauszahlungsvereinbarungen nach den objektiven Feststellungen des nationalen Gerichts keine andere Erklärung gibt als die, dass ein praktischer Erfolg erzielt werden sollte, der die Ziele vereitelt, die von der ab 1. Januar 1998 geltenden gemeinsamen Vorsteuerregelung, d. h. der Umsatzsteuerbefreiung ohne Vorsteuerabzugsrecht, verfolgt werden.

IV – Ergebnis

102. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom VAT and Duties Tribunal London, dem High Court und dem VAT and Duties Tribunal Manchester vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

–        In den Rechtssachen C‑255/02 und C‑223/03:

1.      Die Begriffe „wirtschaftliche Tätigkeiten“ und „Lieferungen“, die „ein Steuerpflichtiger als solcher“ ausführt, im Sinne der Artikel 2 und 4 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage sind dahin auszulegen, dass jeder der fraglichen Umsätze objektiv und als solcher betrachtet werden muss. Insoweit ist der Umstand, dass eine Lieferung allein in der Absicht ausgeführt wurde, einen Steuervorteil zu erlangen, unerheblich.

2.      Die Sechste Richtlinie ist dahin auszulegen, dass sie einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug oder ‑erstattung nach dem gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsgrundsatz, wonach der Missbrauch von Gemeinschaftsbestimmungen verboten ist, nicht verleiht, wenn nach den Feststellungen der nationalen Gerichte zwei objektive Kriterien erfüllt sind. Erstens das Kriterium, dass die mit den Rechtsvorschriften, aus denen sich das Recht formal ergibt, angestrebten Ziele und Ergebnisse vereitelt würden, falls das geltend gemachte Recht tatsächlich verliehen würde. Zweitens das Kriterium, dass sich das geltend gemachte Recht aus Tätigkeiten ableitet, für die es keine andere Erklärung gibt als die, dass mit ihnen das geltend gemachte Recht begründet werden soll.

–        In der Rechtssache C‑419/02:

1.      Die Begriffe „wirtschaftliche Tätigkeiten“ und „Lieferungen“, die „ein Steuerpflichtiger als solcher“ ausführt, im Sinne der Artikel 2 und 4 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage sind dahin auszulegen, dass jeder der fraglichen Umsätze objektiv und als solcher betrachtet werden muss. Insoweit ist der Umstand, dass eine Lieferung allein in der Absicht ausgeführt wurde, einen Steuervorteil zu erlangen, unerheblich.

2.      Artikel 10 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie ist dahin auszulegen, dass, wenn Anzahlungen für nicht spezifizierte Gegenstände geleistet werden, die gattungsmäßig in einer Liste aufgeführt sind, aus der der Käufer künftig möglicherweise einen oder mehrere oder gar keinen Artikel auswählt, wobei jedenfalls der Käufer die Vereinbarung jederzeit einseitig beenden und Erstattung des Restbetrags der geleisteten Zahlungen verlangen kann, der noch nicht für den Erwerb von in der Liste aufgeführten und vom Käufer nicht spezifizierten Gegenständen verwendet wurde, diese Zahlungen nicht als „Anzahlungen“ anzusehen sind, die im Sinne von Artikel 10 Absatz 2 Unterabsatz 2 geleistet werden, „bevor die Lieferung von Gegenständen oder die Dienstleistung bewirkt ist“, und somit nicht dazu führen, dass der Steueranspruch „zum Zeitpunkt der Vereinnahmung entsprechend dem vereinnahmten Betrag [entsteht]“.


1 – Originalsprache: Portugiesisch.


2 – ABl. L 145, S. 1.


3 – In der durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 (ABl. L 102, S. 18) geänderten Fassung.


4 – In der bis zur Änderung durch die Richtlinie 2004/7/EG des Rates vom 20. Januar 2004 (ABl. L 27, S. 44) geltenden Fassung.


5 – Gemäß Artikel 19 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Sechsten Richtlinie wird der Pro‑rata-Satz des Vorsteuerabzugs auf Jahresbasis errechnet.


6 – Nach diesem Artikel können „Ausnahmeregelungen, wonach die auf der vorausgehenden Stufe gezahlte Steuer zurückerstattet wird, und ermäßigte Sätze, die niedriger als der in Artikel 12 Absatz 3 festgelegte Mindestsatz für die ermäßigten Sätze sind, die am 1. Januar 1991 anwendbar waren, die mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind und die die Bedingungen gemäß Artikel 17 letzter Gedankenstrich der zweiten Richtlinie vom 11. April 1967 erfüllen, … beibehalten werden“.


7 –      Section 6(4) des VAT Act 1994 sieht gleichermaßen vor: „Stellt der Leistungserbringer vor dem nach Unterabschnitt 2 oder 3 maßgeblichen Zeitpunkt für die Lieferung eine Rechnung aus, in der die Mehrwertsteuer ausgewiesen wird, oder vereinnahmt er vor dem nach Subsection (2)(a) oder (b) oder Subsection (3) maßgeblichen Zeitpunkt für die Lieferung eine Zahlung, so gilt die Lieferung, soweit sie von der Rechnung oder der Zahlung erfasst wird, als in dem Zeitpunkt bewirkt, in dem die Rechnung ausgestellt oder die Zahlung vereinnahmt wird.“ Ferner heißt es in Section 10(2) des VAT Act 1994: „Der Steuertatbestand und der Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird. … Werden jedoch Anzahlungen geleistet, bevor die Lieferung von Gegenständen oder die Dienstleistung bewirkt ist, so entsteht der Steueranspruch zum Zeitpunkt der Vereinnahmung entsprechend dem vereinnahmten Betrag.“


8 – Artikel 13 Teil C Buchstabe a bestimmt: „Die Mitgliedstaaten können ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, für eine Besteuerung zu optieren: … bei der Vermietung und Verpachtung von Grundstücken.“


9 – Im Einklang mit Artikel 17 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie.


10 – Dies ist der Fall, obwohl das VAT and Duties Tribunal Manchester die Fragen nicht in Bezug auf die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie, sondern eher in Bezug auf die Anwendung der Rechtsvorschriften auf den betreffenden Sachverhalt erörtert, was eindeutig eine Aufgabe ist, die den nationalen Gerichten vorbehalten ist.


11 – Diese Frage wurde vom VAT and Duties Tribunal Manchester in der Rechtssache C‑223/03 (Huddersfield) nicht erörtert, da sie laut Vorabentscheidungsersuchen dem Gerichtshof bereits in der Rechtssache C‑255/02 (Halifax) vorgelegt worden war. Das VAT and Duties Tribunal Manchester überließ es daher dem Gerichtshof, sich mit dieser Sache zu befassen, und hielt es nicht für erforderlich, zu dieser Frage ein gesondertes Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen.


12 – Urteile vom 14. Februar 1985 in der Rechtssache 268/83 (Rompelman, Slg. 1985, 655, Randnr. 19) und vom 21. September 1988 in der Rechtssache 50/87 (Kommission/Frankreich, Slg. 1988, 4797, Randnr. 15).


13 – Siehe z. B. Urteile Rompelman (Randnr. 19), vom 26. März 1987 in der Rechtssache 235/85 (Kommission/Niederlande, Slg. 1987, 1471, Randnr. 8), vom 4. Dezember 1990 in der Rechtssache C‑186/89 (Van Tiem, Slg. 1990, I‑4363, Randnr. 17) und vom 26. Juni 2003 in der Rechtssache C‑305/01 (MKG‑Kraftfahrzeuge‑Factory, Slg. 2003, I‑6729, Randnr. 42).


14 – Urteile Rompelman (Randnr. 19) und Kommission/Frankreich (Randnr. 15).


15 – Urteil Kommission/Niederlande (Randnr. 8).


16 – Urteil Kommission/Niederlande (Randnr. 8). Siehe auch Urteile vom 12. September 2000 in der Rechtssache C‑408/97 (Kommission/Niederlande, Slg. 2000, I‑6417, Randnr. 25), in der Rechtssache C‑260/98 (Kommission/Griechenland, Slg. 2000, I‑6537, Randnr. 26), in der Rechtssache C‑359/97 (Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2000, I‑6355, Randnr. 41), in der Rechtssache C‑358/97 (Kommission/Irland, Slg. 2000, I‑6301, Randnr. 29) und in der Rechtssache C‑276/97 (Kommission/Frankreich, Slg. 2000, I‑6251, Randnr. 31).


17 – Zum Beispiel Urteile vom 22. Februar 1984 in der Rechtssache 70/83 (Kloppenburg, Slg. 1984, 1075, Randnr. 11), vom 15. Dezember 1987 in der Rechtssache 348/85 (Dänemark/Kommission, Slg. 1987, 5225, Randnr. 19), vom 1. Oktober 1998 in der Rechtssache C‑209/96 (Vereinigtes Königreich/Kommission, Slg. 1998, I‑5655, Randnr. 35), vom 13. März 2001 in der Rechtssache C‑301/97 (Niederlande/Rat, Slg. 2001, I‑8853, Randnr. 43) und vom 29. April 2004 in der Rechtssache C‑17/01 (Sudholz, Slg. 2004, I‑4243, Randnr. 34).


18 – Siehe Urteile vom 15. Dezember 1987 in der Rechtssache 325/85 (Irland/Kommission, Slg. 1987, 5041, Randnr. 18) und in der Rechtssache 326/85 (Kommission/Niederlande, Slg. 1987, 5091, Randnr. 24) sowie Urteile Sudholz (Randnr. 34) und vom 9. Juli 1981 in der Rechtssache C‑169/80 (Gondrand Frères und Garancini, Slg. 1981, 1931, Randnr. 17).


19 – Die Regierung des Vereinigten Königreichs stützt sich insoweit auf die Urteile vom 5. Juli 1988 in der Rechtssache 269/86 (Mol, Slg. 1988, 3627) und in der Rechtssache 289/86 (Happy Family, Slg. 1988, 3655) sowie auf das Urteil vom 11. Juni 1998 in der Rechtssache C‑283/95 (Fischer, Slg. 1998, I‑3369).


20 – Siehe z. B. Urteile Rompelman (Randnr. 19) und Fischer (Randnr. 27). Siehe Nr. 12 der Schlussanträge des Generalanwalts Fennelly zum Urteil vom 29. Juni 1999 in der Rechtssache C‑158/98 (Coffeshop Siberië, Slg. 1999, I‑3971).


21 – Urteile vom 28. Februar 1984 in der Rechtssache 294/82 (Senta Einberger, Slg. 1984, 1177), vom 2. August 1993 in der Rechtssache C‑111/92 (Lange, Slg. 1993, I‑4677, Randnr. 16), Happy Family (Randnr. 20), Mol (Randnr. 18), vom 28. Mai 1998 in der Rechtssache C‑3/97 (Goodwin und Unstead, Slg. 1998, I‑3257, Randnr. 9), Coffeshop Siberië (Randnrn. 14 und 21) und vom 29. Juni 2000 in der Rechtssache C‑455/98 (Salumets u. a., Slg. 2000, I‑4993, Randnr. 19).


22 – Urteile Happy Family (Randnr. 20) und Mol (Randnr. 18).


23 – Urteile Coffeshop Siberië (Randnr. 21), vom 2. August 1993 in der Rechtssache C‑111/92 (Lange, Slg. 1993, I‑4677, Randnr. 12), Fischer (Randnr. 20) und Salumets u. a. (Randnrn. 19 und 20).


24 – Urteile Senta Einberger, Happy Family (Randnr. 23) und vom 6. Dezember 1990 in der Rechtssache C‑343/89 (Witzemann, Slg. 1990, I‑4477, Randnr. 20).


25 – Die Regierung des Vereinigten Königreichs räumt in ihren Erklärungen jedenfalls ausdrücklich ein, dass die fraglichen Umsätze trotz ihres Steuerumgehungszwecks nicht unerlaubt sind.


26 – Urteile vom 18. Januar 2001 in der Rechtssache C‑150/99 (Stockholm Lindöpark, Slg. 2001, I‑493), vom 2. Mai 1996 in der Rechtssache C‑231/94 (Faaborg‑Gelting Linien, Slg. 1996, I‑2395) und vom 12. Juni 2003 in der Rechtssache C‑275/01 (Sinclair Collis, Slg. 2003, I‑5965).


27 – Das Vereinigte Königreich bezieht sich insoweit auf das Urteil vom 20. Juni 1996 in der Rechtssache C‑155/94 (Wellcome Trust, Slg. 1996, I‑3013, Randnrn. 31 bis 36) und vom 20. Juni 1991 in der Rechtssache C‑60/90 (Polysar Investments, Slg. 1991, 3111, Randnr. 12).


28 – Der Gerichtshof hat entschieden, dass Restaurationsumsätze als Dienstleistungen zu betrachten seien, da sie durch eine Reihe von Vorgängen gekennzeichnet seien, von denen nur ein Teil in der Lieferung von Nahrungsmitteln bestehe, während die Dienstleistungen bei weitem überwögen (Urteil Faaborg-Gelting Linien, Randnr. 12).


29 – Der Gerichtshof hat festgestellt, dass „die Tätigkeit des Betriebes eines Golfplatzes im Allgemeinen nicht nur die passive Zurverfügungstellung eines Geländes [umfasst], sondern außerdem seitens des Dienstleistenden eine Vielzahl geschäftlicher Tätigkeiten wie Aufsicht, Verwaltung und ständige Unterhaltung, Zurverfügungstellung anderer Anlagen u. ä.“ Daher könne die Vermietung des Golfplatzes, sofern nicht ganz besondere Umstände vorlägen, nicht die ausschlaggebende Dienstleistung darstellen (Urteil Stockholm Lindöpark, Randnr. 26).


30 – Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Einräumung dieses Rechts bei Gesamtbetrachtung aller Umstände, unter denen der Umsatz erfolgt sei, keine Vermietung eines Grundstücks dargestellt habe. Die Inbesitznahme eines Standorts innerhalb der Geschäftsräume habe nur ein Mittel zur Durchführung der Leistung dargestellt, die Gegenstand dieses Vertrages gewesen sei, „nämlich der Einräumung des Rechts zum ausschließlichen Verkauf von Zigaretten in den Räumlichkeiten durch Aufstellung und Wartung von Verkaufsautomaten im Austausch gegen einen Prozentsatz der Erträge“ (Urteil Sinclair Collis, Randnrn. 30 und 31).


31 – Siehe a fortiori die Argumentation, der der Gerichtshof in Randnr. 22 des Urteils Coffeshop Siberië gefolgt ist. Dort hat er die Auffassung vertreten, dass selbst dann, wenn eine Vermietung aufgrund strafbaren Vorgehens rechtswidrig wäre, dies nichts daran ändern würde, dass die Vermietung eine wirtschaftliche Tätigkeit sei, die in den Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie falle.


32 – Urteil vom 26. September 1996 in der Rechtssache C‑230/94 (Enkler, Slg. 1996, I‑4517).


33 – Urteil Enkler (Randnr. 27).


34 – Urteil Enkler (Randnr. 27).


35 – Urteil vom 8. Juni 2000 in der Rechtssache C‑400/98 (Breitsohl, Slg. 2000, I‑4321).


36 – Urteil vom 29. Februar 1996 in der Rechtssache C‑110/94 (INZO, Slg. 1996, I‑857).


37 – Urteile INZO (Randnr. 24), Breitsohl (Randnr. 39) und vom 21. März 2000 in der Rechtssache C‑110/98 (Gabalfrisa, Slg. 2000, I‑1577).


38 – Siehe insoweit auch Urteil vom 6. April 1995 in der Rechtssache C‑4/94 (BLP, Slg. 1995, I‑983, Randnr. 24). Das Vereinigte Königreich führt zutreffend aus, dass die Mehrwertsteuer nach Maßgabe der tatsächlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten Anwendung finden müsse und dass es nicht auf das äußere Erscheinungsbild ankomme. Sie stützt sich insoweit auf das Urteil vom 20. Februar 1997 in der Rechtssache C‑260/95 (DFDS, Slg. 1997, I‑1605), in dem eine Tochtergesellschaft im Vereinigten Königreich, deren Kapital ausschließlich von einer dänischen Muttergesellschaft gehalten wurde und durch die die Muttergesellschaft ihre Dienstleistungen im Vereinigten Königreich erbrachte, als eine feste Niederlassung der dänischen Muttergesellschaft im Vereinigten Königreich im Sinne des Artikels 9 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie angesehen wurde. Auch wurde in dem Urteil festgestellt, dass dieser Anknüpfungspunkt den Vorrang vor dem Ort habe, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit habe. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof auch entschieden, dass in Anbetracht der tatsächlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten die Tochtergesellschaft als bloße Hilfsperson der dänischen Muttergesellschaft gehandelt habe. Das Unternehmen DFDS wollte jedoch keineswegs Tätigkeiten, die objektiv gesehen wirtschaftlicher Natur waren, nur deswegen von dem Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie ausnehmen, weil diese zwischen einem Steuerpflichtigen und anderen von ihr kontrollierten Unternehmen in der Absicht der Steuerumgehung ausgeübt und durchgeführt wurden. Dieser Fall kann somit nicht für die Schlussfolgerung herangezogen werden, dass Umsätze, die objektiv wirtschaftlicher Natur sind, vom Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie auszunehmen sind.


39 – Er war außerdem insoweit ein wesentlicher Bestandteil der Konstruktion zur Steuerumgehung, als er sämtliche Lieferungen der LPDS in dem relevanten Steuerjahr abdeckte, aufgrund derer LPDS die Erstattung der Vorsteuer geltend machen konnte, die CWPI in diesem Zeitraum für die an LPDS erbrachten Bauleistungen in Rechnung gestellt hatte.


40 – Siehe Urteile vom 6. Juli 1995 in der Rechtssache C‑62/93 (BP Supergas, Slg. 1995, I‑1883, Randnrn. 16 bis 18), vom 8. Juni 2000 in der Rechtssache C‑98/98 (Midland Bank, Slg. 2000, I‑4177, Randnr. 29) und vom 6. März 2001 in der Rechtssache C‑16/00 (Cibo Participations, Slg. 2001, I‑6663, Randnr. 30).


41 – Siehe z. B. Urteile vom 3. Dezember 1974 in der Rechtssache 33/74 (Van Binsbergen, Slg. 1974, 1299, Randnr. 13), vom 3. Februar 1993 in der Rechtssache C‑148/91 (Veronica, Slg. 1993, I‑487, Randnr. 12), vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C‑23/93 (TV10, Slg. 1994, I‑4795, Randnr. 21) betreffend den freien Dienstleistungsverkehr, vom 21. Juni 1988 in der Rechtssache 39/86 (Lair, Slg. 1988, 3161, Randnr. 43) betreffend die Freizügigkeit von Arbeitnehmern, vom 10. Januar 1985 in der Rechtssache 229/83 (Leclerc, Slg. 1985, 1, Randnr. 27) betreffend den freien Warenverkehr. Auch im Urteil vom 7. Februar 1979 in der Rechtssache 115/78 (Knoors, Slg. 1979, 399, Randnr. 25) hat der Gerichtshof im Rahmen der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit ausdrücklich anerkannt, „dass ein Mitgliedstaat ein berechtigtes Interesse daran haben kann, zu verhindern, dass sich einige seiner Staatsangehörigen unter Missbrauch der durch den Vertrag geschaffenen Erleichterungen der Anwendung ihrer nationalen [Vorschriften] zu entziehen versuchen“. Siehe auch die spätere Neuformulierung im Urteil vom 3. Oktober 1990 in der Rechtssache C‑61/89 (Bouchoucha, Slg. 1990, I‑3551, Randnr. 14) und vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C‑370/90 (Singh, Slg. 1992, I‑4265, Randnr. 24).


42 – Urteil vom 2. Mai 1996 in der Rechtssache C‑206/94 (Palletta, Slg. 1996, I‑2357, Randnr. 24).


43 – Urteil vom 11. Oktober 1977 in der Rechtssache 125/76 (Cremer, Slg. 1977, 1593, Randnr. 21).


44 – Urteil vom 3. März 1993 in der Rechtssache C‑8/92 (General Milk Products, Slg. 1993, I‑779, Randnr. 21). Siehe auch bezüglich der gemeinsamen Agrarpolitik Urteil vom 27. Oktober 1981 in der Rechtssache 250/80 (Schumacher, Slg. 1981, 2465, Randnrn. 16 und 18), wo der Gerichtshof von einem typischen teleologischen Ansatz ausging, ohne dass er die Lehre vom Rechtsmissbrauch zu berücksichtigen brauchte.


45 – Siehe Urteile vom 12. Mai 1998 in der Rechtssache C‑367/96 (Kefalas, Slg. 1998, I‑2843, Randnrn. 20 und 28) und vom 23. März 2000 in der Rechtssache C‑373/97 (Diamantis, Slg. 2000, I‑1705, Randnr. 33).


46 – Urteil vom 9. März 1999 in der Rechtssache C‑212/97 (Centros, Slg. 1999, I‑2357, Randnr. 24). Siehe später im Rahmen eines angeblichen Missbrauchs des Niederlassungsrechts Urteil vom 30. September 2003 in der Rechtssache C‑167/01 (Inspire Art, Slg. 2003, I‑10155, Randnr. 136) und ebenso Urteil vom 21. November 2002 in der Rechtssache C‑436/00 (X und Y, Slg. 2002, I‑10829, Randnrn. 41 und 45).


47 – Der Gerichtshof hatte z. B. in den Urteilen Kefalas und Diamanzis auch das Problem zu untersuchen, dass nationale Gerichte nationale Rechtsmissbrauchsvorschriften anwenden, um die Ausübung von durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechten zu beschränken.


48 – Siehe Schlussanträge des Generalanwalts La Pergola zum Urteil Centros (Randnr. 20).


49 – Siehe u. a. Urteil Diamantis (Randnr. 33).


50 – Dies ergibt sich z. B. aus Randnr. 21 des Urteils Kefalas, wo der Gerichtshof die Notwendigkeit von Rechtsvorschriften anerkennt, „um zu beurteilen, ob ein sich aus einer Gemeinschaftsbestimmung ergebendes Recht missbräuchlich ausgeübt wird“.


51 – In diesem Sinne siehe Schlussanträge des Generalanwalts Tesauro zum Urteil Kefalas in Nr. 27, wo er feststellt, dass „[d]er Gerichtshof … es …, kurz gesagt, bisher zugelassen [hat], dass jede nationale Rechtsordnung durchaus auf ihre eigenen allgemeinen Rechtsnormen (unabhängig davon, ob es sich um Bestimmungen handelt, die ‚Gesetzesumgehungen‘, ‚Scheingeschäfte‘ oder –warum nicht? – auch den ‚Rechtsmissbrauch‘ ahnden) zurückgreifen kann, um die Möglichkeit einer Berufung auf Gemeinschaftsbestimmungen in genau umschriebenen Fällen auszuschließen“.


52 – Dieser Ansatz ergibt sich z. B. aus den Urteilen Palletta (Randnr. 25), Kefalas (Randnrn. 21 und 22), Diamantis (Randnrn. 34 und 35) und Centros (Randnrn. 24 und 25).


53 – Im Urteil Centros (Randnr. 25) hat der Gerichtshof festgestellt, dass „die nationalen Gerichte unter solchen Umständen im Einzelfall das missbräuchliche oder betrügerische Verhalten der Betroffenen auf der Grundlage objektiver Kriterien in Rechnung stellen [können], um ihnen gegebenenfalls die Berufung auf das einschlägige Gemeinschaftsrecht zu verwehren; sie haben jedoch bei der Würdigung eines solchen Verhaltens die Ziele der fraglichen Bestimmungen zu beachten“.


54 – Siehe z. B. Urteile Kefalas (Randnrn. 24, 25 und 29) und Centros (Randnrn. 26, 27 und 30).


55 – Urteil vom 14. Dezember 2000 in der Rechtssache C‑110/99 (Slg. 2000, I‑11569).


56 – ABl. L 317, S. 1.


57 – Urteil Emsland (Randnr. 52).


58 – Urteil Emsland (Randnr. 53).


59 – Siehe in diesem Sinne Nr. 69 der Schlussanträge des Generalanwalts Alber zum Urteil Emsland Stärke: „Maßstab für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit konkreter Ein- und Ausfuhrtransaktionen ist also der Zweck der jeweils einschlägigen Vorschriften.“ Siehe auch Randnr. 52 des Urteils. Vor kurzem hat Generalanwalt Tizzano in seinen Schlussanträgen zum Urteil vom 19. Oktober 2004 in der Rechtssache C‑200/02 (Chen, Slg. 2004, I‑00000) in Nr. 114 ebenfalls festgestellt, dass, um zum Ergebnis zu kommen, dass ein bestimmter Anspruch missbräuchlich geltend gemacht wurde, „zu prüfen [ist], ob der Betreffende bei der Geltendmachung der Gemeinschaftsnorm, die das fragliche Recht verleiht, deren Geist und Tragweite verfälscht“. In Nr. 115 seiner Schlussanträge betont der Generalanwalt, dass der Bezugsparameter „somit im Wesentlichen der [sei], ob eine Verfälschung des Zweckes und der Ziele der Gemeinschaftsnorm vorliegt, die das fragliche Recht verleiht“.


60 – Urteile Diamantis (Randnr. 33), vom 12. März 1996 in der Rechtssache C‑441/93 (Pafitis, Slg. 1996, I‑1347, Randnr. 68) und Kefalas (Randnr. 22).


61 – Siehe insoweit Urteil Centros, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass unter Berücksichtigung des mit dem Niederlassungsrecht verfolgten Zweckes der Umstand, dass jemand in einem Mitgliedstaat eine Gesellschaft gründet, um in einem anderen Mitgliedstaat eine Zweigniederlassung zu errichten, um die strengeren gesellschaftsrechtlichen Vorschriften des zuletzt genannten Mitgliedstaats zu umgehen, für sich allein keine missbräuchliche Ausnutzung des Niederlassungsrechts darstellen könne. Die Abgrenzung des Geltungsbereichs des Niederlassungsrechts berücksichtigte in dieser Hinsicht auch die frühere Auslegung des Gerichtshofes im Urteil vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache C‑79/85 (Segers, Slg. 1986, 2375, Randnr. 16).


62 – Siehe in diesem Sinne A. Kjellgren, „On the border of abuse“, European Business Law Review, 2000, S. 193. Selbst im Urteil Emsland, wo der Begriff des Missbrauchs ausführlicher erörtert wurde, ist der Gerichtshof dem Ansatz gefolgt, dass die einschlägigen Rechtsvorschriften auszulegen sind. Es ist insoweit bezeichnend, dass der Gerichtshof im Tenor der englischen Fassung des Urteils feststellt, dass „Regulation (EEC) No 2730/79 … must be interpreted as meaning that …“ (Verordnung [EWG] Nr. 2730/79 dahin auszulegen ist, dass …). Für die Prüfung der vorliegenden Fälle ist es meines Erachtens unerheblich, ob der Grundsatz nach und nach den Status eines eigenständigen allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts erwirbt, wie es befürwortet wird von D. Simon und A. Rigaux, „La technique de consécration d’un nouveau principe général du droit communautaire: l’exemple de l’abus de droit“, Mélanges en hommage à Guy Isaac, 50 ans de droit communautaire, Band 2, Presse de l’Université des Sciences Sociales, Toulouse, 2004, S. 579.


63 – Ein Kommentator sah es folgendermaßen (Kjellgren, „On the border of abuse“, a. a. O., S. 193) „Die Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Missbrauch greift im Wesentlichen auf die Auslegung der betreffenden Gemeinschaftsbestimmungen zurück: Die Frage des Missbrauchs wird damit zu einer Frage, ob das behauptete missbräuchliche Verhalten in den Geltungsbereich der Bestimmung fällt oder nicht.“ Siehe auch in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts La Pergola zum Urteil Centros (Nr. 20).


64 – Die Bezugnahme auf das subjektive Element im Urteil Emsland ist auch durchaus verständlich angesichts der Umstände dieser speziellen Rechtssache, in der die an diesem Geschäft Beteiligten von Anfang an die Absicht hatten, die Ware wieder auf das Gebiet der Gemeinschaft zu verbringen, und nicht beabsichtigten, die Ware endgültig in die Schweiz auszuführen. Das angewandte „U-Turn-Verfahren“ war nur eine Fassade (wenn auch eine real existierende Fassade), die eine andere Realität verbarg, nämlich die, dass die Beteiligten niemals wollten, dass die Ware die Gemeinschaft endgültig verlässt. Der Vorgang im Urteil Emsland kann daher als Täuschung angesehen werden, da es der gemeinsamen Absicht aller Beteiligten entsprach, dass die benutzten Dokumente und ausgeführten Handlungen in Wirklichkeit nicht die rechtlichen Folgen (Rechte und Pflichten) auslösen sollten, die sie Dritten gegenüber dem Schein nach hatten.


65 – Siehe Urteil Emsland (Randnr. 50), in dem der dort in Frage stehende Missbrauch beschrieben wird als „ein rein formales, allein zum Zwecke der Erlangung von Ausfuhrerstattungen erfolgtes Verlassen des Gemeinschaftsgebiets“. Der Gerichtshof hat bei anderen Gelegenheiten den alleinigen Zweck einer Tätigkeit oder eines Verhaltens objektiv als ein Kriterium für das Vorliegen eines Missbrauchs angesehen. Siehe z. B. Urteil Leclerc (Randnr. 27), in dem festgestellt wird, dass eine Berufung auf das Gemeinschaftsrecht nicht möglich ist, wenn Waren „allein zum Zwecke ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden sind, um eine gesetzliche Regelung wie die hier vorliegende zu umgehen“, sowie Urteil Lair (Randnrn. 41 und 42), in dem es heißt, dass, „wenn sich anhand objektiver Merkmale nachweisen ließe, dass sich ein Arbeitnehmer nur in der Absicht in einen Mitgliedstaat begibt, dort nach einer sehr kurzen Berufstätigkeit eine Förderung für Studenten in Anspruch zu nehmen, … solche Missbräuche durch die in Rede stehenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen nicht gedeckt sind“.


66 – Ich weise insoweit darauf hin, dass in den Feststellungen des Gerichtshofes im Urteil Emsland z. B. der Ausdruck „Rechtsmissbrauch“ nicht verwendet wird. Der Gerichtshof verwendete stattdessen den Ausdruck „Missbrauch“. Desgleichen hat der Gerichtshof – wiederum unter Bezugnahme nur auf den Missbrauch – kürzlich im Urteil vom 23. September 2003 in der Rechtssache C‑109/01 (Hacene Akrich, Slg. 2003, I‑9607, Randnr. 57) entschieden, dass ein „Missbrauch“ vorläge und daher „Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 … keine Anwendung [findet], wenn der Angehörige eines Mitgliedstaats und der Drittstaatsangehörige eine Scheinehe zur Umgehung der für Drittstaatsangehörige geltenden Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen geschlossen haben“ (Nr. 2 des Tenors). In diesem Fall ging es eindeutig um eine Frage der Auslegung des Missbrauchs. Die Anwendung der Missbrauchslehre führt zur Nichtanwendung einer Gemeinschaftsbestimmung und damit zum Ergebnis, dass das Recht nicht verliehen ist – es ging nicht darum, die Ausübung eines von der Gemeinschaftsbestimmung verliehenen Rechts zu beschränken.


67 – Schlussanträge zum Urteil Kefalas (Nr. 24). Ebenso D. Simon und A. Rigaux, „La technique de consécration d’un nouveau principe“, a. a. O., S. 568, wo die Verfasser feststellen, dass „le système juridique communautaire n’échappe pas au risque, qu’on retrouve dans tout ordre juridique, de pratiques qui se conforment formellement à la règle, mais en détournent abusivement l’application“.


68 – Es steht fest, dass jede Rechtsvorschrift und jedes Recht die Möglichkeit des Missbrauchs in sich trägt und dass das Rechtssystem dies grundsätzlich nicht hinnehmen darf. Siehe L. Cadiet und P. Tourneau, „Abus de Droit“, Recueil Dalloz (Droit Civil), 2002, S. 3 und 4, und Ghestin und Goubeaux, Traité de Droit civil, Introduction Générale, 3. Auflage, LGDJ, Paris, 1990, S. 673 bis 676 und S. 704, die Bezug nehmen auf die Ursprünge von Lehren wie die des Rechtsmissbrauchs in der Rechtsprechung (dasselbe gilt für die Gesetzesumgehung), die ursprünglich von den Gerichten entwickelt wurden, um zu verhindern, dass die formale und mechanistische Anwendung von Rechtsvorschriften zu Ergebnissen führt, die im Hinblick auf die Ziele des Rechtssystems unannehmbar sind.


69 – Urteil vom 29. April 2004 in den Rechtssachen C‑487/01 und C‑7/02 (Gemeente Leusden, Slg. 2004, I‑5337, Randnr. 76). Siehe auch im gleichen Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano zu diesem Urteil (Nrn. 98 und 99) sowie die dort zitierte Rechtsprechung.


70 – Siehe insoweit die von Generalanwalt Alber in Nr. 80 seiner Schlussanträge zum Urteil Emsland vertretene Auffassung, dass Artikel 4 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2988/95 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften „kein neues Rechtsinstitut schafft, sondern einen im Gemeinschaftsrecht geltenden allgemeinen Rechtsgrundsatz kodifiziert“. Die Anwendung dieses Grundsatzes des Missbrauchsverbots hing in dem betreffenden Fall daher nicht von dem späteren Inkrafttreten der Verordnung Nr. 2988/95 ab.


71 – Ibidem, Nr. 10.


72 – Siehe z. B. in Deutschland § 42 der Abgabenordnung (siehe Kruse und Düren in: Tipke und Kruse, Abgabenordnung, Finanzordung, Otto Schmidt, Köln, 2003, § 42), der den Begriff des Missbrauchs von Rechtsinstituten enthält („Steuerumgehung durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten“); in Österreich § 22 der Bundesabgabenordnung (BGBl. Nr. 194/1961) in der geänderten Fassung, der auch einen ähnlichen Begriff des Missbrauchs von Formen und rechtlichen Gestaltungen des Zivilrechts enthält („Missbrauch von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts“); in Finnland Artikel 28 des Laki verotusmenettelystä 1558/1995, der ebenfalls einen Begriff des Missbrauchs zivilrechtlicher Gestaltungen im Steuerrecht anwendet; in Luxemburg Artikel 6 Absatz 1 des Loi d’adaptation fiscale, 1934, der einen ähnlichen Missbrauchsbegriff verwendet. In Portugal enthält Artikel 38 Absatz 2 des Lei Geral Tributária (Decreto Lei 398/98 vom 17. Dezember) in der durch Lei Nr. 100/99 vom 27. Juni und nachfolgende Rechtsvorschriften geänderten Fassung eine allgemeine Bestimmung zur Bekämpfung der Steuerumgehung, nach der „Rechtshandlungen, die im Wesentlichen oder hauptsächlich dazu bestimmt sind, durch Verwendung willkürlicher Mittel … oder durch Missbrauch von Formen des Rechts“ steuerrechtliche Verpflichtungen zu kürzen, im Steuerbereich keine Wirkungen entfalten können. In Spanien beruht Artikel 15 des Ley General Tributaria (Ley 58/2003, vom 17. Dezember 2003) über Kollisionen bei der Anwendung steuerrechtlicher Bestimmungen („Conflicto en la aplicación de la norma tributaria“) auf Begriffen wie denen der offensichtlich willkürlichen Handlungen oder Umsätze; in Frankreich verwendet Artikel L. 64 des Livre des procédures fiscales den Begriff des Rechtsmissbrauchs im Steuerrecht, bestehend aus dem Rechtsmissbrauch durch Scheingeschäfte und dem Rechtsmissbrauch durch Gesetzesumgehung; in Irland enthält Section 811(2) des Tax Consolidation Act 1997 eine allgemeine Bestimmung zur Bekämpfung der Steuerumgehung, die den Geschäften zur Umgehung der Steuerpflicht zugeordnet wird und die Begriffe verwendet wie Geschäfte, „die in erster Linie zum Zweck der Erlangung von Steuervorteilen ausgeführt oder vereinbart werden“ (siehe Section 811[2][c][ii]); in Italien enthält Artikel 37a des Decreto Legge 600/1973, erlassen durch das Decreto Legislativo Nr. 358 vom 8. Oktober 1997 (Gazzetta Ufficiale Nr. 249 vom 24. Oktober 1997) eine allgemeine Bestimmung zur Bekämpfung der Steuerumgehung, die auf dem Begriff der Rechtshandlungen ohne stichhaltige wirtschaftliche Begründung („atti privi di valide ragioni economiche“) beruht; in Schweden enthält Artikel 2 des Lag om skatteflykt (1995:575) (Gesetz über die Steuerumgehung) eine Bestimmung zur Bekämpfung der Steuerumgehung, die auf den Begriff des Steuervorteils abstellt, der den Hauptgrund für die Rechtshandlung bildet. In den Niederlanden beziehen sich die Gerichte häufig auf den in der Rechtsprechung verwendeten Begriff der fraus legis mit der Folge, dass die Frage zu prüfen ist, ob das dem Umsatz zugrunde liegende alleinige oder entscheidende Ziel die Erlangung eines Steuervorteils ist.


73 – Urteil vom 13. Februar 1985 in der Rechtssache 5/84 (Direct Cosmetics, Slg. 1985, 617, Randnr. 37).


74 – Urteile in der Rechtssache C‑50/87 (Kommission/Frankreich, Randnr. 22), vom 11. Juli 1991 in der Rechtssache C‑97/90 (Lennartz, Slg. 1991, I‑3795, Randnr. 35) und vom 20. Januar 2005 in der Rechtssache C‑412/03 (Hotel Skandic Gåsabäck, Slg. 2005, I‑00000, Randnr. 26).


75 – Urteil vom 10. April 1984 in der Rechtssache 324/82 (Kommission/Belgien, Slg. 1984, 1861, Randnrn. 31 und 32). Bezüglich insbesondere die Verhütung von Steuerumgehung hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 12. Juli 1988 in den Rechtssachen 138/86 und 139/86 (Direct Cosmetics, Slg. 1988, 3937, Randnrn. 21 bis 24) weiter ausgeführt, dass ein Mitgliedstaat von den Bestimmungen der Sechsten Richtlinie abweichende Maßnahmen erlassen könne, um Steuerumgehungen zu verhüten, auch wenn die wirtschaftliche Tätigkeit des Steuerpflichtigen objektiv nicht in der Absicht ausgeführt werde, sich einen steuerlichen Vorteil zu verschaffen. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Begriffe Steuerhinterziehung, Steuerumgehung und Steuerrechtsmissbrauch in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich sind. Für das Vereinigte Königreich ist die Steuerumgehung rechtmäßig, während die Steuerhinterziehung rechtswidrig ist. Dadurch, dass im Vereinigten Königreich ein allgemeiner Begriff des steuerrechtlichen Missbrauchs fehlt, ist es unmöglich, in anderen Mitgliedstaaten eine gemeinsame Unterscheidung zu treffen zwischen missbräuchlicher Steueroptimierung (die in Frankreich der „évasion fiscale“ entspricht), die gesetzeswidrig ist, und der einfachen Steueroptimierung („habileté fiscale“ in Frankreich), die, auch wenn sie bei den Steuerbehörden zweifellos unbeliebt ist, rechtmäßig ist. Siehe insoweit S. N. Frommel, „United Kingdom tax law and abuse of rights“, Intertax, 1991/2, S. 54 bis 81, 57.


76 – Siehe Urteil BP Supergas (Randnr. 35): „[I]n Artikel 17 Absätze 1 und 2 sind … die Voraussetzungen für die Entstehung und der Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug … genau angegeben. Diese Vorschriften lassen den Mitgliedstaaten, was ihre Durchführung angeht, keinen Ermessensspielraum.“


77 – Siehe Urteil vom 13. November 1990 in der Rechtssache C‑106/89 (Marleasing, Slg. 1990, I‑4135, Randnr. 8): „[E]in nationales Gericht, soweit es bei der Anwendung des nationalen Rechts – gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt – dieses Recht auszulegen hat, [muss] seine Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten …, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.“ Siehe in diesem Sinne P. Farmer, „VAT Planning: Assessing the ‚Abuse of Rights‘ Risk“, The Tax Journal, 27. Mai 2002, S. 16.


78 – Siehe Urteil vom 11. Juli 2002 in der Rechtssache C‑62/00 (Marks & Spencer, Slg. 2002, I‑6325, Randnr. 27): „[D]er Erlass nationaler Maßnahmen, die eine Richtlinie ordnungsgemäß umsetzen, [erschöpft] nicht deren Wirkungen …, und … die Mitgliedstaaten [müssen] auch nach Erlass dieser Maßnahmen weiterhin die vollständige Anwendung der Richtlinie tatsächlich gewährleisten“. Siehe auch Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed (Nr. 42), in denen festgestellt wird, dass „[a]uch die für die Durchführung verantwortliche Behörde und das nationale Gericht … die Verpflichtung [haben], dafür zu sorgen, dass das mit der Richtlinie verfolgte Ziel erreicht wird“.


79 – Siehe Urteil Gemeente Leusden (Randnr. 78).


80 – Es genügt darauf hinzuweisen, dass im Zivilrechtssystem dieser Grundsatz Teil der spezifischen Lehren vom Rechtsmissbrauch oder der Gesetzesumgehung im Privatrecht sein kann, dass aber z. B. im Steuerrecht, selbst wenn die Bezeichnungen gleich sind, die Kriterien, die für ihre Anwendung gelten, erheblich voneinander abweichen können. In Frankreich z. B. hat der in Artikel L.64 des Livre des procédures fiscales, zitiert oben in Fußnote 72, erwähnte Begriff des Rechtsmissbrauchs im Steuerrecht eine doppelte Bedeutung: Er umfasst die Scheingeschäfte und die Geschäfte, die der Gesetzesumgehung dienen. Rechtsmissbrauch hat somit im französischen Steuerrecht nicht dieselbe Bedeutung wie im französischen Eigentums- oder Vertragsrecht. Siehe M. Cozian, „La notion d’abus de droit en matière fiscale“, Gazette du Palais, Doctrine, 1993, S. 50 bis 57, und für eine vergleichende Darstellung betreffend Frankreich und das Vereinigte Königreich S. Frommel, „United Kingdom tax law and abuse of rights“, a. a. O., S. 57 und 58.


81 – Siehe Urteile Gemeente Leusden (Randnr. 57), vom 3. Dezember 1998 in der Rechtssache C‑381/97 (Belgocodex, Slg. 1998, I‑8153, Randnr. 26), vom 8. Juni 2000 in der Rechtssache C‑396/98 (Schloßstraße, Slg. 2000, I‑4279, Randnr. 44) und Marks & Spencer (Randnr. 44).


82 – Siehe Urteil Gemeente Leusden (Randnrn. 58, 65 und 69).


83 – Siehe Urteile vom 22. Februar 1989 in den Rechtssachen 92/87 und 93/87 (Kommission/Frankreich und Vereinigtes Königreich, Slg. 1989, 405, Randnr. 22) und Sudholz (Randnr. 34). Siehe im gleichen Sinne auch oben, Fußnote 18, wo auf Rechtsprechung verwiesen wird, die auf die Mehrwertsteuer entsprechend anwendbar ist.


84 – Urteile vom 6. April 1995 in der Rechtssache C‑4/94 (BLP Group, Slg. 1995, I‑159, Randnr. 26), vom 9. Oktober 2001 in der Rechtssache C‑108/99 (Cantor Fitzgerald, Slg. 2001, I‑7257, Randnr. 33) sowie auch Urteil Gemeente Leusden (Randnr. 79).


85 – Die Zahlung von Steuern ist zweifellos ein Kostenfaktor, den ein Wirtschaftsteilnehmer bei der Entscheidung über die verschiedenen Möglichkeiten seiner Geschäftsführung zu Recht in Betracht ziehen darf, vorausgesetzt, er kommt seinen steuerrechtlichen Verpflichtungen nach. Zweifel mögen bestehen hinsichtlich der moralischen Rechtfertigung dieser Freiheit, sicherlich aber nicht hinsichtlich ihrer Gesetzesmäßigkeit.


86 – Einige der allgemeinen nationalen Bestimmungen zur Bekämpfung des Missbrauchs, die in einer Reihe von Mitgliedstaaten erlassen wurden (dargestellt in Fußnote 72), gelten in diesen Mitgliedstaaten zumindest grundsätzlich auch für die Mehrwertsteuer. Dies ist der Fall in Frankreich, Deutschland, Österreich, Spanien, Finnland, Irland, Luxemburg und Portugal.


87 – Siehe oben, Nr. 78. Der Gerichtshof hat darüber hinaus im Rahmen des Artikels 27 anerkannt, dass „nichts gegen eine Vorschrift [spricht], die einen gewissen Allgemeinheits- und Abstraktionsgrad aufweist“. Siehe Urteil vom 29. Mai 1997 in der Rechtssache C‑63/96 (Skripalle, Slg. 1997, I‑2847, Randnr. 29).


88 – Siehe Urteile BLP Group (Randnr. 28), vom 26. September 1996 in der Rechtssache C‑302/93 (Debouche, Slg. 1996, I‑4495, Randnr. 16) und vom 4. Oktober 1995 in der Rechtssache C‑291/92 (Armbrecht, Slg. 1995, I‑2775, Randnrn. 27 und 28). Siehe auch B. Terra und J. Kajus, A Guide to VAT, S. 802, und P. Farmer und R. Lyal, EC Tax Law, S. 190 und 191.


89 – Urteile BLP (Randnr. 19), Midland Bank (Randnrn. 30 bis 33) und Cibo Participations (Randnrn. 31 bis 35). Siehe auch Urteil Armbrecht (Randnr. 29).


90 – Urteile BLP (Randnrn. 19 und 24), Midland Bank (Randnr. 20) und Cibo Participations (Randnr. 29).


91 – So entschieden in den Urteilen Kommission/Frankreich (Randnr. 17) und Rompelman (Randnr. 19): „[D]er Unternehmer [soll] durch die Regelung über den Vorsteuerabzug vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden … Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet daher, dass alle wirtschaftlichen Tätigkeiten, sofern sie der Mehrwertsteuer unterliegen, … in völlig neutraler Weise steuerlich belastet werden“ (Hervorhebung von mir).


92 – Siehe B. Terra und J. Kajus, a. a. O., S. 361 bis 365.


93 – Ein bestimmter Teil der nicht abzugsfähigen Vorsteuer, die von einem Steuerpflichtigen gezahlt wird, ist nämlich in dem vom Endverbraucher zu zahlenden Preis enthalten.


94 – Es gibt eine gewisse Parallele zwischen den Tätigkeiten in den vorliegenden Rechtssachen und dem im Urteil vom 2. April 1998 in der Rechtssache C‑296/95 (EMU Tabac, Slg. 1998, I‑1605) untersuchten Vorgang, der nach den Darlegungen des vorlegenden Gerichts eine im Vereinigten Königreich wohnhafte Person in die Lage versetzte, ohne ihren bequemen Sessel zu verlassen, in diesem Land Tabak zu beziehen, den sie in einem Geschäft in Luxemburg gekauft hatte. Das System beruhte in dieser Rechtssache auf dem Einsatz von Agenten und setzte die Privatkunden praktisch in die Lage, die Entrichtung der im Vereinigten Königreich geltenden Verbrauchsteuern zu vermeiden, die höher sind als in Luxemburg. Wie Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in Nr. 89 seiner Schlussanträge ausführte, „könnte das nationale Gericht, wenn dies letztlich erforderlich würde, die Anwendung der von den Klägern geltend gemachten Besteuerungsnorm (Grundsatz der Besteuerung im Herkunftsland) mit der Begründung ablehnen, dass das Ergebnis der Anwendung dieses Grundsatzes auf den vorliegenden Fall eindeutig gegen Sinn und Zweck der Richtlinie [92/12/EWG] verstieße und der Wirksamkeit der anderen Bestimmungen dieser Richtlinie entgegenstünde. Damit würde es nur den allgemeinen Rechtsgrundsatz anwenden, der die Umgehung des Rechts verbietet.“ Die Antwort des Gerichtshofes beruhte auf der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie, namentlich auf Artikel 8. Er hat entschieden, dass die Bestimmungen nicht anwendbar seien, wenn der Erwerb und/oder die Beförderung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren über einen Agenten erfolge (siehe Randnr. 37 des Urteils).