Language of document : ECLI:EU:C:2021:949

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

23. November 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2010/64/EU – Art. 5 – Qualität der Dolmetschleistungen und Übersetzungen – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren- Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 – Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf – Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht – Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 267 AEUV – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Zulässigkeit – Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts gegen eine Entscheidung, mit der die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens beschlossen wird – Disziplinarverfahren – Befugnis des übergeordneten Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen für rechtswidrig zu erklären“

In der Rechtssache C‑564/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Pest, Ungarn) mit Entscheidung vom 11. Juli 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juli 2019, ergänzt mit Entscheidung vom 18. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Strafverfahren gegen

IS

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, S. Rodin und I. Jarukaitis (Berichterstatter), der Richter J.‑C. Bonichot, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters A. Kumin,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Januar 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von IS, vertreten durch A. Pintér und B. Csire, ügyvédek,

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, P. Huurnink und J. Langer als Bevollmächtigte,

–        der schwedischen Regierung, zunächst vertreten durch H. Eklinder, C. Meyer-Seitz, H. Shev, J. Lundberg und A. Falk, dann durch O. Simonsson, H. Eklinder, C. Meyer-Seitz, H. Shev, J. Lundberg, M. Salborn Hodgson, A. M. Runeskjöld und R. Shahsavan Eriksson als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch A. Tokár, H. Krämer und R. Troosters, dann durch A. Tokár, M. Wasmeier und P. J. O. Van Nuffel, als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. April 2021

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. 2010, L 280, S. 1), Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1), Art. 6 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 267 AEUV sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen IS, einen schwedischen Staatsangehörigen türkischer Herkunft, wegen Verstoßes gegen die ungarischen Rechtsvorschriften über den Erwerb bzw. die Beförderung von Schusswaffen oder Munition.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2010/64

3        In den Erwägungsgründen 5, 12 und 24 der Richtlinie 2010/64 heißt es:

„(5)      In Artikel 6 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten … und in Artikel 47 der Charta … ist das Recht auf ein faires Verfahren verankert. Artikel 48 Absatz 2 der Charta gewährleistet die Verteidigungsrechte. Diese Richtlinie achtet die genannten Rechte und sollte entsprechend umgesetzt werden.

(12)      Diese Richtlinie … setzt gemeinsame Mindestvorschriften im Bereich von Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren fest, um das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten zu stärken.

(24)      Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass bei entsprechenden Hinweisen an die zuständigen Behörden in einem bestimmten Fall die Angemessenheit der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen und Übersetzungen kontrolliert werden kann.“

4        In Art. 2 („Recht auf Dolmetschleistungen“) der Richtlinie heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtigen oder beschuldigten Personen, die die Sprache des betreffenden Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, unverzüglich Dolmetschleistungen während der Strafverfahren bei Ermittlungs- und Justizbehörden, einschließlich während polizeilicher Vernehmungen, sämtlicher Gerichtsverhandlungen sowie aller erforderlicher Zwischenverhandlungen, zur Verfügung gestellt werden.

(5)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder beschuldigte Personen das Recht haben, eine Entscheidung, dass keine Dolmetschleistungen benötigt werden, im Einklang mit den nach einzelstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahren anzufechten, und, wenn Dolmetschleistungen zur Verfügung gestellt wurden, die Möglichkeit haben, zu beanstanden, dass die Qualität der Dolmetschleistungen für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens unzureichend sei.

(8)      Nach diesem Artikel zur Verfügung gestellte Dolmetschleistungen müssen eine für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreichende Qualität aufweisen, wobei insbesondere sicherzustellen ist, dass verdächtige oder beschuldigte Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, und imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“

5        Art. 3 („Recht auf Übersetzung wesentlicher Unterlagen“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht verstehen, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten.

(2)      Zu den wesentlichen Unterlagen gehören jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil.

(5)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder beschuldigte Personen das Recht haben, eine Entscheidung, dass keine Übersetzung von Dokumenten oder Passagen derselben benötigt wird, im Einklang mit nach einzelstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahren anzufechten, und, wenn Übersetzungen zur Verfügung gestellt wurden, die Möglichkeit haben, zu beanstanden, dass die Qualität der Übersetzungen für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens unzureichend sei.

(9)      Nach diesem Artikel zur Verfügung gestellte Übersetzungen müssen eine für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreichende Qualität aufweisen, insbesondere indem sichergestellt wird, dass verdächtige oder beschuldigte Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, und imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“

6        Art. 5 („Qualität der Dolmetschleistungen und Übersetzungen“) der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten ergreifen konkrete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Dolmetschleistungen und Übersetzungen der Qualität entsprechen, die nach Artikel 2 Absatz 8 und Artikel 3 Absatz 9 erforderlich ist.

(2)      Um die Angemessenheit von Dolmetschleistungen und Übersetzungen und einen effizienten Zugang dazu zu fördern, bemühen sich die Mitgliedstaaten darum, ein oder mehrere Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern einzurichten, die angemessen qualifiziert sind. Nach Einrichtung eines solchen Registers bzw. solcher Register wird es/werden sie gegebenenfalls Rechtsbeiständen und den betreffenden Behörden zur Verfügung gestellt werden.

…“

 Richtlinie 2012/13

7        In den Erwägungsgründen 5, 30 und 34 der Richtlinie 2012/13 heißt es:

„(5)      In Artikel 47 der Charta … und Artikel 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden ‚EMRK‘) ist das Recht auf ein faires Verfahren verankert. Artikel 48 Absatz 2 der Charta gewährleistet die Achtung der Verteidigungsrechte.

(30)      Dokumente und gegebenenfalls Fotos, Audio- und Videoaufzeichnungen, die wesentlich sind, um die Rechtmäßigkeit einer Festnahme oder Inhaftierung von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen gemäß dem innerstaatlichen Recht wirksam anzufechten, sollten Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder ihren Rechtsanwälten spätestens bereitgestellt werden, bevor eine zuständige Justizbehörde über die Rechtmäßigkeit der Festnahme oder Inhaftierung gemäß Artikel 5 Absatz 4 EMRK entscheidet, und zwar so rechtzeitig, dass die wirksame Ausübung des Rechts, die Rechtmäßigkeit der Festnahme oder Inhaftierung anzufechten, ermöglicht wird.

(34)      Die in dieser Richtlinie vorgesehene Einsicht in die Verfahrensakte sollte unentgeltlich gewährt werden, unbeschadet der innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, nach denen Gebühren für von den Akten anzufertigende Kopien oder für die Übersendung von Unterlagen an die betreffende Person oder deren Rechtsanwalt zu entrichten sind.“

8        Art. 1 dieser Richtlinie, der deren Gegenstand regelt, bestimmt:

„Mit dieser Richtlinie werden Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt. Mit dieser Richtlinie werden auch Bestimmungen über das Recht von Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, auf Belehrung über ihre Rechte festgelegt.“

9        Art. 3 („Recht auf Rechtsbelehrung“) der Richtlinie lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen:

a)      das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts;

b)      den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung;

c)      das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6;

d)      das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen;

e)      das Recht auf Aussageverweigerung.

(2)      Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die in Absatz 1 vorgesehene Rechtsbelehrung entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden.“

10      Art. 4 („Schriftliche Erklärung der Rechte bei Festnahme“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, umgehend eine schriftliche Erklärung der Rechte erhalten. Sie erhalten Gelegenheit, die Erklärung der Rechte zu lesen, und dürfen diese Erklärung während der Dauer des Freiheitsentzugs in ihrem Besitz führen.

(5)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen die schriftliche Erklärung der Rechte in einer Sprache erhalten, die sie verstehen. Ist die Erklärung der Rechte nicht in der entsprechenden Sprache verfügbar, so werden Verdächtige oder beschuldigte Personen in einer Sprache, die sie verstehen, mündlich über ihre Rechte belehrt. Ohne unnötige Verzögerung wird ihnen eine Erklärung der Rechte in einer Sprache, die sie verstehen, ausgehändigt.“

11      Art. 6 („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) der Richtlinie 2012/13 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung, einschließlich über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, unterrichtet werden.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.

…“

12      Art. 7 („Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Wird eine Person in irgendeinem Stadium des Strafverfahrens festgenommen und inhaftiert, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass alle Unterlagen zu dem gegenständlichen Fall, die sich im Besitz der zuständigen Behörden befinden und für eine wirksame Anfechtung der Festnahme oder Inhaftierung gemäß dem innerstaatlichen Recht wesentlich sind, den festgenommenen Personen oder ihren Rechtsanwälten zur Verfügung gestellt werden.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder ihren Rechtsanwälten Einsicht in zumindest alle im Besitz der zuständigen Behörden befindlichen Beweismittel zugunsten oder zulasten der Verdächtigen oder beschuldigten Personen gewährt wird, um ein faires Verfahren zu gewährleisten und ihre Verteidigung vorzubereiten.

…“

13      Art. 8 („Überprüfung und Rechtsbehelfe“) der Richtlinie lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jegliche Belehrung oder Unterrichtung der Verdächtigen oder beschuldigten Personen, die gemäß den Artikeln 3 bis 6 erfolgt, gemäß dem Verfahren für Aufzeichnungen nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats schriftlich festgehalten wird.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten.“

 Richtlinie (EU) 2016/343

14      In den Erwägungsgründen 1 und 9 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) heißt es:

„(1)      Die Unschuldsvermutung und das Recht auf ein faires Verfahren sind in den Artikeln 47 und 48 der Charta …, in Artikel 6 der [EMRK], in Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und in Artikel 11 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung verankert.

(9)      Mit dieser Richtlinie soll das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren gestärkt werden, indem gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festgelegt werden.“

15      Art. 8 („Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

(2)      Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern

a)      der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder

b)      der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde.

(4)      Wenn Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsehen, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu führen, es jedoch nicht möglich ist, die in Absatz 2 dieses Artikels genannten Voraussetzungen zu erfüllen, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden kann, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass gleichwohl eine Entscheidung ergehen und vollstreckt werden kann. In einem solchen Fall stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie über die Entscheidung unterrichtet werden, insbesondere wenn sie festgenommen werden, auch über die Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, gemäß Artikel 9 eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen, unterrichtet werden.

…“

16      Art. 9 („Recht auf eine neue Verhandlung“) der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie bei der sie betreffenden Verhandlung nicht anwesend waren und die in Artikel 8 Absatz 2 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt wurden, das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs haben, die bzw. der eine neue Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht und zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann. In diesem Zusammenhang stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht haben, anwesend zu sein, im Einklang mit den Verfahren des nationalen Rechts effektiv mitzuwirken und ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“

 Ungarisches Recht

17      § 78 Abs. 1 des A büntetőeljárásról szóló 2017. évi XC. törvény (Gesetz Nr. XC von 2017 über das Strafverfahren, Magyar Közlöny 2017/90, im Folgenden: Strafprozessordnung) sieht im Wesentlichen vor, dass an einem Strafverfahren Beteiligte, die für die Zwecke dieses Verfahrens eine andere Sprache als das Ungarische verwenden möchten, das Recht haben, ihre Muttersprache zu benutzen und einen Dolmetscher hinzuzuziehen.

18      Nach § 201 Abs. 1 der Strafprozessordnung kann in einem Strafverfahren nur ein Dolmetscher mit einer amtlichen Qualifikation als solcher bestellt werden; ist eine solche Bestellung jedoch nicht möglich, ist die Bestellung eines Dolmetschers mit hinreichender Kenntnis der betreffenden Sprache zulässig.

19      § 490 Abs. 1 und 2 der Strafprozessordnung sieht im Wesentlichen vor, dass ein nationales Gericht das Verfahren von Amts wegen oder auf Antrag der Beteiligten aussetzen und den Gerichtshof der Europäischen Union mit einem Vorabentscheidungsersuchen befassen kann.

20      Nach § 491 Abs. 1 Buchst. a der Strafprozessordnung muss ein Strafverfahren, dessen Aussetzung angeordnet wurde, fortgesetzt werden, wenn die Gründe für die Aussetzung nicht mehr vorliegen.

21      § 513 Abs. 1 Buchst. a der Strafprozessordnung bestimmt, dass gegen die Vorlageentscheidung kein ordentlicher Rechtsbehelf gegeben ist.

22      Nach § 667 Abs. 1 der Strafprozessordnung kann der legfőbb ügyész (Generalstaatsanwalt, Ungarn) bei der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) ein „Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts“ einlegen, um die Rechtswidrigkeit von Urteilen und Beschlüssen der untergeordneten Gerichte feststellen zu lassen.

23      § 669 der Strafprozessordnung sieht vor:

„(1)      Hält die Kúria [(Oberster Gerichtshof)] ein zur Wahrung des Rechts eingelegtes Rechtsmittel für begründet, stellt sie in einem Urteil fest, dass die beanstandete Entscheidung rechtswidrig ist; andernfalls weist sie das Rechtsmittel durch Beschluss zurück.

(2)      Stellt die Kúria [(Oberster Gerichtshof)] die Rechtswidrigkeit der betreffenden Entscheidung fest, kann sie den Angeklagten freisprechen, eine medizinische Zwangsbehandlung abbrechen, das Verfahren beenden, eine mildere Strafe verhängen oder eine mildere Maßnahme anwenden, die angefochtene Entscheidung aufheben und die Rechtssache zur Durchführung eines neuen Verfahrens gegebenenfalls an das zuständige Gericht zurückverweisen.

(3)      Außer in den in Abs. 2 genannten Fällen beschränkt sich die Entscheidung der Kúria [(Oberster Gerichtshof)] auf die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit.

…“

24      Nach § 755 Abs. 1 Buchst. a Doppelbuchst. aa der Strafprozessordnung muss das Strafverfahren, falls die beschuldigte Person, die sich an einem bekannten Wohnsitz im Ausland aufhält, ordnungsgemäß geladen wird und zur Verhandlung nicht erscheint, in Abwesenheit fortgeführt werden, wenn kein Anlass besteht, einen Europäischen oder internationalen Haftbefehl auszustellen, oder wenn ein solcher Haftbefehl nicht ausgestellt wird, weil die Staatsanwaltschaft nicht die Verhängung einer Freiheitsstrafe oder die Unterbringung in einem überwachten Erziehungszentrum beantragt.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

25      Der vorlegende Richter, der als Einzelrichter des Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Pest, Ungarn) tagt, ist mit einem Strafverfahren gegen IS, schwedischer Staatsangehöriger türkischer Herkunft, wegen eines mutmaßlichen Verstoßes gegen die ungarischen Rechtsvorschriften über Erwerb, Besitz, Herstellung, Vermarktung, Einfuhr, Ausfuhr oder Beförderung von Schusswaffen oder Munition befasst. Die Gerichtssprache ist Ungarisch, die der Angeklagte nicht beherrscht. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass sich der Angeklagte nur mit Hilfe eines Dolmetschers verständigen kann.

26      IS wurde am 25. August 2015 in Ungarn festgenommen und am selben Tag als „Verdächtiger“ vernommen. Vor dieser Vernehmung beantragte IS den Beistand eines Rechtsanwalts und eines Dolmetschers; während der Vernehmung, bei der der Rechtsanwalt nicht zugegen sein konnte, wurde ihm der gegen ihn bestehende Tatverdacht eröffnet. IS verweigerte die Aussage, da er sich nicht mit seinem Verteidiger habe beraten können.

27      Bei dieser Vernehmung zog der Ermittlungsbeamte einen Dolmetscher für die schwedische Sprache hinzu. Allerdings gibt es den Angaben des vorlegenden Richters zufolge weder einen Hinweis darauf, in welcher Art und Weise der Dolmetscher ausgewählt und seine Fähigkeiten überprüft wurden, noch darauf, dass sich der Dolmetscher und IS verstanden.

28      IS wurde nach dieser Vernehmung wieder freigelassen. Er soll sich nicht in Ungarn aufhalten; an die zuvor mitgeteilte Adresse gerichtete Schreiben kamen mit dem Vermerk „nicht abgeholt“ zurück. Nach Angaben des vorlegenden Richters ist in der Phase des gerichtlichen Verfahrens die Anwesenheit des Angeklagten in der vorbereitenden Sitzung jedoch obligatorisch und die Ausstellung eines nationalen oder Europäischen Haftbefehls nur in den Fällen möglich, in denen gegen ihn eine Freiheitsstrafe verhängt werden könne. In der vorliegenden Sache habe der Staatsanwalt jedoch eine Geldstrafe beantragt, weshalb das vorlegende Gericht verpflichtet sei, das Verfahren in Abwesenheit fortzuführen, wenn der Angeklagte nicht zum angegebenen Termin erscheine.

29      Unter diesen Umständen stellt der vorlegende Richter als Erstes fest, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64 konkrete Maßnahmen ergreifen müssten, um sicherzustellen, dass Dolmetschleistungen und Übersetzungen der Qualität entsprächen, die nach Art. 2 Abs. 8 und Art. 3 Abs. 9 dieser Richtlinie erforderlich sei, was bedeute, dass Dolmetschleistungen eine ausreichende Qualität aufweisen müssten, um ein faires Verfahren zu gewährleisten, indem insbesondere dafür Sorge getragen werde, dass verdächtige oder beschuldigte Personen Kenntnis von den ihnen zur Last gelegten Taten hätten und ihre Verteidigungsrechte ausüben könnten. Zudem müssten sich nach Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten, um die Angemessenheit von Dolmetschleistungen und Übersetzungen und einen effizienten Zugang dazu zu fördern, darum bemühen, ein oder mehrere Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern einzurichten, die angemessen qualifiziert seien.

30      Des Weiteren müssten verdächtige oder beschuldigte Personen gemäß Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 in einer Sprache, die sie verstünden, unverzüglich schriftlich über ihre Rechte belehrt und über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt würden, unterrichtet werden.

31      In Ungarn gebe es kein amtliches Register mit Übersetzern und Dolmetschern und die ungarischen Rechtsvorschriften stellten weder klar, wer im Strafverfahren als Ad-hoc-Übersetzer oder Ad-hoc-Dolmetscher bestellt werden könne, noch, nach welchen Kriterien, da nur die beglaubigte Übersetzung von Dokumenten geregelt sei. In Ermangelung entsprechender Rechtsvorschriften könnten weder Rechtsanwälte noch Richter die Qualität der Dolmetschleistung überprüfen. Verdächtige oder beschuldigte Personen, die der ungarischen Sprache nicht mächtig seien, würden bei ihrer ersten Vernehmung in dieser Eigenschaft mit Hilfe eines Dolmetschers über den gegen sie bestehenden Tatverdacht und ihre Verfahrensrechte unterrichtet. Verfüge aber der Dolmetscher nicht über die entsprechenden Fachkenntnisse, könnten das Recht der betroffenen Person auf Rechtsbelehrung und ihre Verteidigungsrechte verletzt werden.

32      Somit stelle sich die Frage, ob die ungarische Regelung und Praxis mit den Richtlinien 2012/13 und 2010/64 vereinbar seien und ob sich aus den Unionsrechtsvorschriften ergebe, dass der nationale Richter im Fall der Unvereinbarkeit das Strafverfahren nicht in Abwesenheit fortführen dürfe.

33      Als Zweites weist der vorlegende Richter darauf hin, dass die Verwaltung und die zentrale Steuerung des Justizsystems seit dem Inkrafttreten einer Justizreform am 1. Januar 2012 Sache der Präsidentin des Országos Bírósági Hivatal (Landesgerichtsamt, Ungarn, im Folgenden: Präsidentin des Landesgerichtsamts) sei, die von der ungarischen Nationalversammlung für eine Dauer von neun Jahren ernannt werde; die Präsidentin verfüge über weitreichende Befugnisse und könne u. a. über die Zuteilung der Richter, die Ernennung von Personen in Leitungsfunktionen an Gerichten und die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Richter entscheiden.

34      Überdies sei der Országos Bírói Tanács (Landesrichterrat, im Folgenden: Landesrichterrat) – dessen Mitglieder von den Richtern gewählt würden – für die Aufsicht über die Tätigkeit der Präsidentin des Landesgerichtsamts und in einigen Fällen für die Genehmigung ihrer Entscheidungen zuständig. Am 2. Mai 2018 habe der Landesrichterrat einen Bericht verabschiedet, in dem festgestellt worden sei, dass die Präsidentin des Landesgerichtsamts mit ihrer Praxis, ohne angemessene Begründung festzustellen, dass das Verfahren zur Ernennung von Richtern und Gerichtspräsidenten auf freie Stellen ergebnislos geblieben sei, woraufhin sie in vielen Fällen Gerichtspräsidenten ihrer Wahl vorläufig ernannt habe, gegen das Gesetz verstoßen habe. Am 24. April 2018 habe die Präsidentin des Landesgerichtsamts erklärt, dass die Arbeitsweise des Landesrichterrats nicht rechtmäßig sei, und es seither abgelehnt, mit diesem Gremium und seinen Mitgliedern zusammenzuarbeiten. Der Landesrichterrat habe bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die Präsidentin des Landesgerichtsamts und die von ihr ernannten Gerichtspräsidenten die Befugnisse dieses Gremiums verletzten.

35      Der vorlegende Richter weist ferner darauf hin, dass der Präsident des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn), dem Rechtsmittelgericht des vorlegenden Gerichts, in dieser Weise von der Präsidentin des Landesgerichtsamts vorläufig ernannt worden sei. Um die Relevanz dieser Information hervorzuheben, erläutert der vorlegende Richter den Einfluss, den die Präsidentin des Landesgerichtsamts auf die Arbeit und die berufliche Entwicklung der Richter ausüben könne, einschließlich der Geschäftsverteilung, der Disziplinargewalt und des Arbeitsumfelds.

36      In diesem Zusammenhang sei zum einen auf eine Reihe internationaler Gutachten und Berichte, die eine übermäßige Konzentration von Befugnissen bei der Präsidentin des Landesgerichtsamts und das Fehlen von Gegengewichten zu ihr festgestellt hätten, und zum anderen auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu verweisen und zu fragen, ob eine solche Situation mit dem in Art. 19 EUV und in Art. 47 der Charta verankerten Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz vereinbar sei. Fraglich sei auch, ob das bei ihm anhängige Verfahren in einem solchen Kontext als fair angesehen werden könne.

37      Als Drittes führt der vorlegende Richter aus, dass durch eine am 1. September 2018 in Kraft getretene Gesetzesänderung bestimmte zusätzliche Vergütungen der Staatsanwälte erhöht worden seien, während die Vorschriften über die Besoldung der Richter nicht geändert worden seien. Infolgedessen sei die Besoldung der Richter erstmals seit Jahrzehnten nunmehr geringer als die von Staatsanwälten der entsprechenden Ebene mit gleicher Einstufung und gleichem Dienstalter. Der Landesrichterrat habe die ungarische Regierung auf diese Situation hingewiesen, die eine Gehaltsreform bis spätestens 1. Januar 2020 versprochen habe; der entsprechende Gesetzesentwurf sei aber noch immer nicht vorgelegt worden, so dass die Bezüge der Richter im Richteramt seit 2003 unverändert geblieben seien. Der vorlegende Richter fragt sich daher, ob in Anbetracht insbesondere der Inflation und der Erhöhung des Durchschnittsgehalts in Ungarn im Lauf der Jahre die fehlende Anpassung der Besoldung dieser Richter langfristig nicht einer Herabsetzung der Besoldung gleichkomme und ob diese Folge nicht auf dem gezielten Bestreben der ungarischen Regierung beruhe, sie gegenüber den Staatsanwälten zu benachteiligen. Außerdem verstoße die Praxis der Präsidentin des Landesgerichtsamts und der Präsidenten der Gerichte, nach freiem Ermessen bestimmten Richtern im Verhältnis zum Grundgehalt der Richter teils sehr hohe Prämien und Gratifikationen zu gewähren, allgemein und systematisch gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz.

38      Unter diesen Umständen hat das Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Pest, Ungarn) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      a)      Sind Art. 6 Abs. 1 EUV und Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen, dass der betreffende Mitgliedstaat, um Beschuldigten, die die Verfahrenssprache nicht beherrschen, das Recht auf ein faires Verfahren zu gewährleisten, ein Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern, die angemessen qualifiziert sind, einrichten muss oder – in Ermangelung dessen – auf andere Art sicherstellen muss, dass im gerichtlichen Verfahren die angemessene Qualität der Dolmetschleistungen überprüft werden kann?

b)      Falls die vorstehende Frage zu bejahen ist und sich mangels angemessener Qualität der Dolmetschleistung nicht feststellen lässt, dass der Beschuldigte über den Gegenstand des gegen ihn bestehenden Verdachts bzw. der gegen ihn erhobenen Beschuldigung unterrichtet worden ist, sind dann Art. 6 Abs. 1 EUV sowie Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen, dass in diesem Fall das Verfahren in Abwesenheit des Beschuldigten nicht fortgeführt werden kann?

2.      a)      Ist der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und der Rechtsprechung des Gerichtshofs dahin auszulegen, dass es eine Verletzung dieses Grundsatzes darstellt, wenn die Präsidentin des Landesgerichtsamts, die zentrale Managementaufgaben bei den Gerichten wahrnimmt, von der Országgyűlés (Nationalversammlung) ernannt wird und die ausschließlich der Nationalversammlung gegenüber verantwortlich ist und von dieser abberufen werden kann, die Stelle des Präsidenten eines Gerichts – der u. a. befugt ist, die Geschäftsverteilung festzulegen, Disziplinarverfahren gegen Richter einzuleiten und diese zu beurteilen – unter Umgehung eines Bewerbungsverfahrens und unter beständiger Außerachtlassung der Auffassung der hierzu ermächtigten richterlichen Selbstverwaltungskörperschaften im Wege einer befristeten Beauftragung besetzt?

b)      Falls die vorstehende Frage zu bejahen ist und der mit der betreffenden Rechtssache befasste Richter Grund zu der Befürchtung haben kann, dass er wegen seiner richterlichen Tätigkeit und seiner Verwaltungstätigkeit rechtswidrig benachteiligt wird, ist dann der erwähnte Grundsatz dahin auszulegen, dass in dieser Rechtssache kein faires Verfahren gewährleistet ist?

3.      a)      Ist der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und der Rechtsprechung des Gerichtshofs dahin auszulegen, dass es mit diesem Grundsatz unvereinbar ist, dass die ungarischen Richter seit dem 1. September 2018 – abweichend von der früheren jahrzehntelangen Praxis – nach dem Gesetz eine geringere Vergütung erhalten als Staatsanwälte der entsprechenden Ebene mit gleicher Einstufung und gleicher Dienstzeit und ihre Besoldung unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage des Landes auch allgemein nicht der Bedeutung der von ihnen wahrgenommenen Aufgaben entspricht, insbesondere in Anbetracht der von Personen in leitenden Managementfunktionen geübten Praxis ermessensabhängiger Gratifikationen?

b)      Falls die vorstehende Frage zu bejahen ist, ist dann der erwähnte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dahin auszulegen, dass unter solchen Umständen das Recht auf ein faires Verfahren nicht gewährleistet werden kann?

39      Mit Entscheidung vom 18. November 2019 (im Folgenden: ergänzendes Vorabentscheidungsersuchen) hat der vorlegende Richter ein namentlich auf Ergänzung seines ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchens gerichtetes Ersuchen eingereicht.

40      Aus dem ergänzenden Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass der Generalstaatsanwalt, gestützt auf § 667 der Strafprozessordnung, am 19. Juli 2019 bei der Kúria (Oberster Gerichtshof) ein gegen das ursprüngliche Vorabentscheidungsersuchen gerichtetes Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts eingelegt habe. Diese habe mit Entscheidung vom 10. September 2019 entschieden, dass dieses Vorabentscheidungsersuchen rechtswidrig sei, und zwar im Wesentlichen mit der Begründung, dass die gestellten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht relevant seien (im Folgenden: Entscheidung der Kúria).

41      Der vorlegende Richter führt aus, aus der Entscheidung der Kúria gehe hervor, dass das in Art. 267 AEUV vorgesehene System der Vorabentscheidung dazu diene, den Gerichtshof zu ersuchen, über Fragen zu entscheiden, die nicht die verfassungsmäßige Ordnung eines Mitgliedstaats, sondern das Unionsrecht beträfen, um damit dessen einheitliche Auslegung in der Europäischen Union zu gewährleisten. Nach dieser Entscheidung sei die Aussetzung des Strafverfahrens ferner nur zulässig, um eine endgültige Entscheidung über die Schuld des Angeklagten zu treffen. Die Kúria (Oberster Gerichtshof) sei jedoch der Ansicht, dass die Vorlagefragen, wie sie vom vorlegenden Richter in seinem ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchen formuliert worden seien, für die Beurteilung der Schuld von IS nicht relevant seien, so dass dieses Ersuchen rechtswidrig sei. In der Entscheidung der Kúria werde auch auf ihre eigenen vorangegangenen Grundsatzentscheidungen Bezug genommen, nach denen es nicht erforderlich sei, ein Vorabentscheidungsersuchen einzureichen, um feststellen zu lassen, dass das anwendbare ungarische Recht nicht mit den vom Unionsrecht geschützten Grundprinzipien vereinbar sei.

42      Nach Auffassung des vorlegenden Richters wird die Entscheidung der Kúria, die im Rahmen eines Rechtsmittels zur Wahrung des Rechts ergangen sei, auch wenn sie sich darauf beschränke, die Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchens festzustellen, ohne die Vorlageentscheidung selbst aufzuheben, grundlegende Auswirkungen auf die spätere Rechtsprechung der untergeordneten Gerichte haben, da mit solchen Rechtsmitteln die nationale Rechtsprechung harmonisiert werden solle. Daher sei zu befürchten, dass die Entscheidung der Kúria künftig eine abschreckende Wirkung auf die Richter der Untergerichte habe, die beabsichtigten, den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV zu befassen.

43      Ferner wirft der vorlegende Richter die Frage auf, wie mit dem bei ihm anhängigen, derzeit ausgesetzten Strafverfahren weiter zu verfahren ist, und vertritt die Auffassung, dass dies davon abhänge, ob die Entscheidung der Kúria rechtswidrig sei oder nicht.

44      Entweder stelle sich nämlich heraus, dass die Kúria (Oberster Gerichtshof) das Vorabentscheidungsersuchen zu Recht geprüft und für rechtswidrig erklärt habe. In diesem Fall müsste er in Erwägung ziehen, das Ausgangsverfahren fortzuführen, da nach § 491 Abs. 1 Buchst. a der Strafprozessordnung das Gericht das Verfahren fortsetzen müsse, wenn der Grund für dessen Aussetzung entfallen sei. Zwar sehe keine Bestimmung des ungarischen Rechts vor, was zu geschehen habe, wenn das Verfahren rechtswidrig ausgesetzt worden sei. Doch könnte diese Bestimmung der Strafprozessordnung im Wege eines Analogieschlusses dahin ausgelegt werden, dass das Gericht in einem solchen Fall verpflichtet sein müsste, das Verfahren fortzusetzen.

45      Stelle sich hingegen heraus, dass die Kúria (Oberster Gerichtshof) dieses Ersuchen zu Unrecht für rechtswidrig erklärt habe, müsste das untergeordnete Gericht in diesem Fall die Entscheidung dieses Höchstgerichts trotz dessen verfassungsrechtlicher Zuständigkeit für die Gewährleistung der Einheitlichkeit des nationalen Rechts als unionsrechtswidrig außer Acht lassen.

46      Außerdem stütze sich die Entscheidung der Kúria auf eine nationale Rechtsprechung, nach der die Vereinbarkeit des ungarischen Rechts mit dem Unionsrecht nicht Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens sein könne. Eine solche Rechtsprechung verstoße gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und widerspreche der Rechtsprechung des Gerichtshofs.

47      Der vorlegende Richter weist ergänzend darauf hin, dass der Präsident des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) am 25. Oktober 2019 aus denselben Gründen, wie sie der Entscheidung der Kúria zugrunde lägen, ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet habe.

48      Auf eine von der ungarischen Regierung übermittelte Information hin, wonach dieses Verfahren beendet worden sei, hat der Gerichtshof den vorlegenden Richter dazu befragt. In seiner Antwort vom 10. Dezember 2019 hat dieser bestätigt, dass der Präsident des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) den Antrag auf Einleitung dieses Disziplinarverfahrens mit Schreiben vom 22. November 2019 zurückgenommen habe.

49      Der vorlegende Richter hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass er insoweit nicht beabsichtige, das ergänzende Vorabentscheidungsersuchen zu ändern, da seine Besorgnis nicht darauf beruhe, dass gegen ihn selbst ein Disziplinarverfahren durchgeführt werde, sondern vielmehr darauf, dass ein solches Verfahren unter solchen Umständen überhaupt eingeleitet werden könne.

50      Die Qualität seiner Arbeit als Richter sei nämlich weder von seiner unmittelbaren Vorgesetzten noch vom Leiter der Abteilung für Strafsachen des Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Pest) in Frage gestellt worden, so dass dieses Disziplinarverfahren allein auf dem Inhalt der ursprünglichen Vorlageentscheidung beruhe.

51      Unter diesen Umständen hat das Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Pest) beschlossen, dem Gerichtshof die beiden folgenden zusätzlichen Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

4.      a)      Ist Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der das höchste richterliche Gremium in einem Verfahren, das die Vereinheitlichung der Rechtsprechung des Mitgliedstaats bezweckt, den Beschluss des Untergerichts zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens – ohne dass die Rechtswirksamkeit dieses Beschlusses davon betroffen ist – als gesetzwidrig qualifiziert?

b)      Falls die vierte Frage Buchst. a zu bejahen ist: Ist Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass das um Vorabentscheidung ersuchende Gericht Entscheide eines höheren Gerichts und dessen der Rechtseinheit dienende Stellungnahmen zu Grundsatzfragen, die dem Ersuchen widersprechen, außer Acht lassen muss?

c)      Falls die vierte Frage Buchst. a zu verneinen ist: Kann das ausgesetzte Strafverfahren während des Vorabentscheidungsverfahrens fortgesetzt werden?

5.      Ist der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung von Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass es mit diesem Grundsatz unvereinbar ist, gegen einen Richter wegen eines Vorabentscheidungsersuchens ein Disziplinarverfahren einzuleiten?

 Zum Antrag auf Durchführung eines beschleunigten Verfahrens

52      Zusammen mit seinem ergänzenden Vorabentscheidungsersuchen hat der vorlegende Richter auch den Antrag gestellt, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Er hält die Einleitung eines solchen Verfahrens insbesondere dadurch für gerechtfertigt, dass die Entscheidung der Kúria und das gegen ihn eingeleitete Disziplinarverfahren außerordentlich negative, abschreckende Wirkungen hätten, die Einfluss auf jede künftige Entscheidung über die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV in Ungarn haben könnten.

53      Gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

54      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein solches beschleunigtes Verfahren ein Verfahrensinstrument ist, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll. Außerdem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass das beschleunigte Verfahren keine Anwendung finden kann, wenn die Sensibilität und die Komplexität der durch einen Fall aufgeworfenen rechtlichen Fragen kaum mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu vereinbaren sind, insbesondere, wenn es nicht angebracht erscheint, das schriftliche Verfahren vor dem Gerichtshof zu verkürzen (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 103 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts mit Beschluss vom 19. Dezember 2019 den Antrag, die vorliegende Rechtssache einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, zurückgewiesen. Wie sich aus Rn. 48 des vorliegenden Urteils ergibt, wurde nämlich die Handlung, mit der das Disziplinarverfahren gegen den vorlegenden Richter eingeleitet wurde, zurückgenommen. Zudem betrifft das strafrechtliche Ausgangsverfahren keine Person, gegen die eine freiheitsentziehende Maßnahme ergangen ist.

56      Unter diesen Umständen ist auf der Grundlage dieser Angaben und Erläuterungen des vorlegenden Gerichts nicht ersichtlich, dass die vorliegende Rechtssache, die zudem, wie sich aus Rn. 52 des vorliegenden Urteils ergibt, hoch sensible und komplexe Fragen aufwirft, so dringlich wäre, dass es gerechtfertigt wäre, ausnahmsweise von den allgemeinen Vorschriften für Vorlagen zur Vorabentscheidung abzuweichen.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur vierten Frage

57      Mit seiner vierten Frage, die an erster Stelle zu prüfen ist, möchte der vorlegende Richter wissen, ob Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein Höchstgericht eines Mitgliedstaats im Anschluss an ein Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts die Rechtswidrigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens, mit dem der Gerichtshof von einem untergeordneten Gericht nach dieser Bestimmung befasst worden ist, feststellt, ohne dass allerdings die Rechtswirkungen der dieses Ersuchen enthaltenden Entscheidung betroffen sind, und, wenn dies der Fall ist, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass dieses untergeordnete Gericht verpflichtet ist, eine solche Entscheidung des Höchstgerichts außer Acht zu lassen.

 Zulässigkeit

58      Die ungarische Regierung hält die vierte Frage für unzulässig, da die im ergänzenden Vorabentscheidungsersuchen zur Erforderlichkeit einer Auslegung des Unionsrechts dargelegten Gründe für den Ausgang des Ausgangsverfahrens unerheblich seien, insbesondere weil die Entscheidung der Kúria keine Rechtswirkung auf die Vorlageentscheidung habe. Außerdem stützten sich die Annahmen des vorlegenden Richters zu den möglichen Auswirkungen dieser Entscheidung auf künftige Vorabentscheidungsverfahren auf zukünftige und hypothetische Ereignisse und seien als solche für die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit ebenfalls unerheblich.

59      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren eine enge Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof begründet, die auf einer Verteilung der Aufgaben zwischen ihnen beruht, und ein Verfahren darstellt, das dem Gerichtshof die Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften erlaubt, auf die es für die Entscheidung des bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreits ankommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2007, Omni Metal Service, C‑259/05, EU:C:2007:363, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen dieser Zusammenarbeit allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62      Im vorliegenden Fall ist, da der vorlegende Richter nach dem weiteren Gang des Ausgangsstrafverfahrens für den Fall fragt, dass die Entscheidung der Kúria als unionsrechtswidrig anzusehen sei, festzustellen, dass deren Entscheidung, auch wenn sie die Vorlageentscheidung weder aufhebt noch ändert und den vorlegenden Richter auch nicht verpflichtet, diesen Antrag zurückzunehmen oder zu ändern, nicht ohne Folgen für den vorlegenden Richter und das Ausgangsstrafverfahren bleibt.

63      Stuft dieses Höchstgericht das Vorabentscheidungsersuchen eines untergeordneten Gerichts als rechtswidrig ein, hat diese Einstufung nämlich zwangsläufig Folgen für das letztgenannte Gericht, auch wenn sie sich nicht unmittelbar auf die Gültigkeit der Vorlageentscheidung auswirkt. So muss der vorlegende Richter im vorliegenden Fall insbesondere entscheiden, ob er seine Vorlagefragen aufrechterhält und demzufolge gleichzeitig entscheiden, ob er seinen Aussetzungsbeschluss aufrechterhält, den die Kúria (Oberster Gerichtshof) im Wesentlichen als rechtswidrig angesehen hat, oder ob er vielmehr seine Fragen im Licht dieser Entscheidung zurückzieht und das Ausgangsstrafverfahren fortführt.

64      Im Übrigen wurde, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, die Entscheidung der Kúria in einer Grundsatzentscheidungen vorbehaltenen Sammlung veröffentlicht, um die Einheitlichkeit des nationalen Rechts zu gewährleisten.

65      Darüber hinaus muss der vorlegende Richter unter diesen Umständen auch beurteilen, ob er durch sein Festhalten an seinem ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchen nicht seine künftige Sachentscheidung des Ausgangsverfahrens mit einem Rechtsmittel anfechtbar macht, weil er im Lauf des Verfahrens einen Beschluss über die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens erlassen hat, der von der Kúria (Oberster Gerichtshof) für rechtswidrig erklärt wurde.

66      Nach alledem ist festzustellen, dass die vierte Frage nicht als für den Ausgang des Ausgangsverfahrens unerheblich angesehen werden kann, so dass sie zulässig ist.

 Zur Beantwortung der Frage

67      Was als Erstes die Frage betrifft, ob Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass der Oberste Gerichtshof eines Mitgliedstaats im Anschluss an ein Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts die Rechtswidrigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens, mit dem der Gerichtshof von einem untergeordneten Gericht nach dieser Bestimmung befasst worden ist, feststellt, ohne dass allerdings die Rechtswirkungen der dieses Ersuchen enthaltenden Entscheidung betroffen sind, ist darauf hinzuweisen, dass das Schlüsselelement des von den Verträgen geschaffenen Gerichtssystems in dem in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren besteht; Ziel dieser Bestimmung ist es, durch die Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten die einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu gewährleisten und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68      Insoweit hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die nationalen Gerichte die umfassende Befugnis haben, ihn mit einer Frage nach der Auslegung der relevanten Bestimmungen des Unionsrechts zu befassen, wobei aus dieser Befugnis für letztinstanzlich entscheidende Gerichte, vorbehaltlich der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten Ausnahmen, eine Pflicht wird (Urteil vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69      Sowohl diese Befugnis als auch diese Pflicht sind nämlich dem durch Art. 267 AEUV errichteten System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof und den mit dieser Bestimmung den nationalen Gerichten zugewiesenen Aufgaben des zur Anwendung des Unionsrechts berufenen Richters inhärent (Urteil vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 33).

70      Folglich ist ein mit einer Rechtssache befasstes nationales Gericht, wenn es der Auffassung ist, dass sich im Rahmen dieser Rechtssache eine Frage nach der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts stellt, befugt oder verpflichtet, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen, ohne dass diese Befugnis oder diese Pflicht durch nationale gesetzliche oder von der Rechtsprechung aufgestellte Regeln eingeschränkt werden könnte (Urteil vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 34).

71      Zwar beschränkt sich die Entscheidung der Kúria im vorliegenden Fall auf die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchens und hebt weder die dieses Ersuchen enthaltende Entscheidung auf, noch verpflichtet sie den vorlegenden Richter, das Ersuchen zurückzunehmen und das Ausgangsverfahren fortzusetzen, doch hat die Kúria (Oberster Gerichtshof) mit der Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieses Ersuchens gemäß § 490 der Strafprozessordnung, wie auch der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, eine Prüfung des ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchens vorgenommen, die der vom Gerichtshof vorgenommenen Prüfung der Zulässigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens gleichkommt.

72      Auch wenn Art. 267 AEUV einem Rechtsmittel gegen ein Vorabentscheidungsersuchen nach innerstaatlichem Recht nicht entgegensteht, ist eine Entscheidung eines Höchstgerichts, mit der ein Vorabentscheidungsersuchen für rechtswidrig erklärt wird, weil die vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich und erforderlich seien, mit diesem Artikel unvereinbar, da die Beurteilung dieser Gesichtspunkte in die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt, über die Zulässigkeit von Vorlagefragen zu entscheiden, wie sich aus der oben in den Rn. 60 und 61 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Cartesio, C‑210/06, EU:C:2008:723, Rn. 93 bis 96).

73      Zudem wäre, wie auch der Generalanwalt in Nr. 48 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Wirksamkeit des Unionsrechts gefährdet, wenn durch die Einlegung eines Rechtsbehelfs zum höchsten nationalen Gericht das innerstaatliche Gericht, bei dem ein nach Unionsrecht zu entscheidender Rechtsstreit anhängig ist, davon abgeschreckt wird, von der ihm durch Art. 267 AEUV eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, dem Gerichtshof Fragen vorzulegen, die die Auslegung und die Gültigkeit des Unionsrechts betreffen, um darüber entscheiden zu können, ob eine innerstaatliche Vorschrift mit dem Unionsrecht vereinbar ist oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

74      Auch wenn die Kúria (Oberster Gerichtshof) den vorlegenden Richter nicht verpflichtet hat, das ursprüngliche Vorabentscheidungsersuchen zurückzunehmen, bleibt nämlich festzuhalten, dass dieses Höchstgericht dieses Ersuchen mit seiner Entscheidung als rechtswidrig angesehen hat. Eine solche Feststellung der Rechtswidrigkeit ist jedoch geeignet, sowohl die Autorität der Antworten, die der Gerichtshof dem vorlegenden Richter geben wird, als auch die Entscheidung, die dieser im Licht dieser Antworten treffen wird, zu schwächen.

75      Im Übrigen kann diese Entscheidung der Kúria die ungarischen Gerichte veranlassen, davon abzusehen, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, um zu verhindern, dass ihre Vorabentscheidungsersuchen von einer der Parteien auf der Grundlage der Entscheidung der Kúria angefochten werden oder Gegenstand eines Rechtsmittels zur Wahrung des Rechts werden.

76      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des Mechanismus der Vorabentscheidung „die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen eine wirksame Kontrolle [darstellt], welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten gemäß den Artikeln [258 und 259 AEUV] ausgeübte Kontrolle ergänzt“ (Urteil vom 5. Februar 1963, van Gend & Loos, 26/62, EU:C:1963:1, S. 25). Begrenzungen der Ausübung der ihnen durch Art. 267 AEUV übertragenen Zuständigkeit durch die nationalen Gerichte würden den wirksamen gerichtlichen Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte beschränken.

77      Daher beschneidet die Entscheidung der Kúria die den nationalen Gerichten nach Art. 267 AEUV zuerkannten Befugnisse und hemmt als Folge die Effizienz der durch das Vorabentscheidungsverfahren eingerichteten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 25).

78      Was als Zweites die Frage betrifft, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts den nationalen Richter, der den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst hat, dessen Rechtswidrigkeit vom Höchstgericht des betreffenden Mitgliedstaats festgestellt worden ist, ohne dass allerdings die Rechtswirkungen seiner Vorlageentscheidung betroffen sind, verpflichtet, eine solche Entscheidung des Höchstgerichts außer Acht zu lassen, ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts besagt, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht. Dieser Grundsatz verpflichtet daher alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 244 und die dort angeführte Rechtsprechung).

79      Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts somit nicht dadurch beeinträchtigt werden kann, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich, ohne dass dem insbesondere die innerstaatlichen Bestimmungen über die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 245 und die dort angeführte Rechtsprechung).

80      Zweitens muss nach ständiger Rechtsprechung eine Bestimmung des nationalen Rechts, die der Durchführung des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens entgegensteht, unangewendet bleiben, ohne dass das betreffende Gericht die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 141 und die dort angeführte Rechtsprechung).

81      Daraus folgt, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ein untergeordnetes Gericht verpflichtet, eine Entscheidung des Höchstgerichts des betreffenden Mitgliedstaats außer Acht zu lassen, wenn es der Ansicht ist, dass diese Entscheidung die ihm durch Art. 267 AEUV zuerkannten Befugnisse beschneidet und als Folge die Effizienz der durch das Vorabentscheidungsverfahren eingerichteten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten hemmt. Klarzustellen ist, dass sich angesichts des Umfangs dieser Befugnisse kein Grund für die Aufrechterhaltung dieser Entscheidung daraus ableiten lässt, dass der Gerichtshof in seiner Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen die vollständige oder teilweise Unzulässigkeit der ihm durch dieses untergeordnete Gericht gestellten Vorlagefragen feststellen könnte.

82      Nach alledem ist auf die vierte Frage zum einen zu antworten, dass Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass das Höchstgericht eines Mitgliedstaats im Anschluss an ein Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts die Rechtswidrigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens, mit dem der Gerichtshof von einem untergeordneten Gericht nach dieser Bestimmung befasst worden ist, feststellt, weil die vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich und erforderlich seien, ohne dass allerdings die Rechtswirkungen der dieses Ersuchen enthaltenden Entscheidung betroffen sind, und zum anderen, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dieses untergeordnete Gericht verpflichtet, eine solche Entscheidung des nationalen Höchstgerichts außer Acht zu lassen.

 Zur fünften Frage

83      Mit seiner fünften Frage, die an zweiter Stelle zu prüfen ist, möchte der vorlegende Richter wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen einen nationalen Richter entgegenstehen, weil er den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV ersucht hat.

 Zulässigkeit

84      Die ungarische Regierung und die Kommission halten die fünfte Frage für unzulässig. Die ungarische Regierung argumentiert im Wesentlichen, dass es auf das gegen den vorlegenden Richter eingeleitete, aber später zurückgezogene und eingestellte Disziplinarverfahren nicht ankomme, da seine Auswirkungen auf die Richtertätigkeit des vorlegenden Richters nicht festgestellt werden könnten. Die Kommission ist im Kern der Ansicht, dass diese Frage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unerheblich sei und der vorlegende Richter jedenfalls keine Angaben zu den Auswirkungen der Einleitung des Disziplinarverfahrens auf die Fortführung des bei ihm anhängigen Strafverfahrens gemacht habe.

85      Insoweit ist im Licht der bereits in den Rn. 60 und 61 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung darauf hinzuweisen, dass der vorlegende Richter in seiner Antwort vom 10. Dezember 2019 auf das ihm vom Gerichtshof übermittelte Auskunftsersuchen erklärt hat, dass seine Frage trotz der Rücknahme des gegen ihn eingeleiteten Disziplinarverfahrens weiterhin erheblich sei, da sich seine Zweifel aus dem Faktum als solchem ergäben, dass ein Disziplinarverfahren unter solchen Umständen eingeleitet werden könne, und somit unabhängig von der Fortführung dieses Verfahrens seien.

86      Zudem ist festzustellen, dass die vierte und die fünfte Vorlagefrage eng miteinander verbunden sind. Aus dem ergänzenden Vorabentscheidungsersuchen geht nämlich hervor, dass der Präsident des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) aufgrund der Entscheidung der Kúria, mit der das ursprüngliche Vorabentscheidungsersuchen für rechtswidrig erklärt wurde, die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den vorlegenden Richter beantragt hat. Mit seiner fünften Frage möchte der vorlegende Richter somit im Wesentlichen wissen, ob er die Entscheidung der Kúria außer Acht lassen kann, wenn er in der Sache über das Ausgangsverfahren entscheidet, ohne dabei befürchten zu müssen, dass das auf die Entscheidung der Kúria gestützte Disziplinarverfahren gegen ihn wieder aufgenommen wird.

87      Folglich ist der vorlegende Richter, wie im Rahmen der vierten Frage, mit einem verfahrensrechtlichen Hindernis konfrontiert, das sich aus der gegen ihn gerichteten Anwendung einer nationalen Regelung ergibt, das von ihm auszuräumen ist, bevor er den Ausgangsrechtsstreit ohne Beeinflussung von außen und damit gemäß Art. 47 der Charta in völliger Unabhängigkeit entscheiden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Governo della Repubblica italiana [Status der italienischen Friedensrichter], C‑658/18, EU:C:2020:572, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). Er fragt sich nämlich, unter welchen Voraussetzungen das Ausgangsverfahren nach der Entscheidung der Kúria fortgeführt werden kann, mit der das ursprüngliche Vorabentscheidungsersuchen für rechtswidrig erklärt und auch die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen ihn begründet wurden. Insoweit unterscheidet sich die vorliegende Rechtssache von den Rechtssachen, in denen das Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234), ergangen ist, in denen die betreffenden vorlegenden Gerichte die Antworten auf die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zur Auslegung des Unionsrechts nicht benötigten, um über einer Sachentscheidung in den bei ihnen anhängigen Verfahren vorgelagerte Verfahrensfragen des nationalen Rechts zu entscheiden.

88      Folglich ist die fünfte Frage zulässig.

 Zur Beantwortung der Frage

89      Vorab ist festzustellen, dass die fünfte Frage die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, von Art. 47 der Charta und von Art. 267 AEUV betrifft. Aus der Begründung der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass sich diese Frage, wie bereits in den Rn. 86 und 87 des vorliegenden Urteils ausgeführt, im Zusammenhang mit einer verfahrensrechtlichen Schwierigkeit stellt, die vor einer Sachentscheidung im Ausgangsrechtsstreit auszuräumen ist und die die Befugnisse des vorlegenden Richters im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV in Frage stellt. Daher ist die fünfte Frage nur im Hinblick auf Art. 267 AEUV zu prüfen.

90      Insoweit ist im Licht der in den Rn. 68 bis 70 und 72 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs darauf hinzuweisen, dass dieser bereits entschieden hat, dass nationale Bestimmungen, nach denen gegen nationale Richter ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden kann, weil sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet haben, nicht zulässig sind. Die bloße Aussicht, aufgrund der Einreichung eines Vorabentscheidungsersuchens oder der Entscheidung, dieses anschließend aufrechtzuerhalten, derartiger Verfolgung ausgesetzt zu sein, ist nämlich geeignet, die tatsächliche Wahrnehmung der Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs durch die betreffenden nationalen Richter und der Aufgaben des zur Anwendung des Unionsrechts berufenen Richters zu beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 227).

91      Der Umstand, dass die Richter keinen Disziplinarverfahren oder ‑strafen wegen der Ausübung einer solchen in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallenden Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs ausgesetzt sind, stellt zudem eine ihrer Unabhängigkeit inhärente Garantie dar, die insbesondere für das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit von wesentlicher Bedeutung ist, das durch den in Art. 267 AEUV vorgesehenen Mechanismus des Vorabentscheidungsersuchens verkörpert wird (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

92      Im Übrigen ist festzustellen, dass ein Disziplinarverfahren, das aus dem Grund eingeleitet wird, dass ein nationaler Richter beschlossen hat, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen, geeignet ist, sämtliche mitgliedstaatlichen Gerichte davon abzuhalten, solche Ersuchen einzureichen, was die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefährden könnte.

93      Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen einen nationalen Richter entgegensteht, weil dieser den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV ersucht hat.

 Zur ersten Frage

 Zulässigkeit

94      Nach Ansicht der ungarischen Regierung ist das Ausgangsverfahren, wie die Kúria (Oberster Gerichtshof) festgestellt habe, eine Rechtssache, deren Beurteilung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einfach sei und die grundsätzlich keiner Auslegung des Unionsrechts bedürfe. Unter Bezugnahme auf die Entscheidung der Kúria macht die Regierung allgemein geltend, dass das Ausgangsstrafverfahren keine Tatsachen oder Umstände erkennen lasse, aus denen sich ein Verstoß gegen die Vorschriften über den Sprachengebrauch in diesem Verfahren oder ein Versäumnis der mit dem Verfahren betrauten Behörden schließen lasse, und aus denen der vorlegende Richter die Notwendigkeit einer Auslegung des Unionsrechts hätte ableiten können. Da sich im Ausgangsverfahren in Bezug auf die Qualität der Dolmetschleistung kein wirkliches Problem stelle, sei der erste Teil dieser Frage hypothetischer Natur, so dass ihre Beantwortung durch den Gerichtshof weder erforderlich noch möglich sei. Ebenso wenig sei angesichts des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens die Beantwortung des zweiten Teils dieser Frage erforderlich, da sich auf der Grundlage des von der Kúria (Oberster Gerichtshof) anhand der Ermittlungsakte festgestellten Sachverhalts feststellen lasse, dass der Angeklagte die gegen ihn erhobenen Vorwürfe verstanden habe.

95      Insoweit ist in Anbetracht der in den Rn. 60 und 61 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs festzustellen, dass der vorlegende Richter im ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchen die Umstände, unter denen er beschlossen hat, diese Frage zu stellen, und die Gründe für seine Frage klar darlegt. Wie sich aus den Rn. 25 bis 28 des vorliegenden Urteils ergibt, betrifft das Ausgangsverfahren nämlich ein Strafverfahren in Abwesenheit gegen einen in der Türkei geborenen schwedischen Staatsangehörigen, der wegen eines Verstoßes gegen die ungarischen Rechtsvorschriften über Feuerwaffen und Munition nach Ermittlungen verfolgt wird, in deren Verlauf er von den Polizeibehörden im Beisein eines Dolmetschers für die schwedische Sprache, aber ohne Beistand eines Rechtsanwalts vernommen wurde, obwohl es sich dabei um eine Vernehmung handelte, bei der ihm mitgeteilt wurde, dass er verdächtigt werde, Straftaten im Sinne dieser ungarischen Rechtsvorschriften begangen zu haben. Somit weist der Ausgangsrechtsstreit einen offensichtlichen Bezug zu den Bestimmungen der Richtlinien 2010/64 und 2012/13 auf, auf die sich die erste Frage bezieht.

96      Was im Übrigen das Vorbringen der ungarischen Regierung betrifft, das Ausgangsverfahren sei eine Sache, deren Beurteilung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einfach sei und die daher keine Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof erfordere, so dass das Vorabentscheidungsersuchen nicht erforderlich gewesen sei, genügt zum einen der Hinweis, dass es, wie sich aus der in Rn. 60 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, ausschließlich Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, das die Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung zu übernehmen hat, im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls sowohl zu beurteilen, ob eine Vorabentscheidung erforderlich ist, damit es sein Urteil erlassen kann, als auch, ob die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen erheblich sind. Zum anderen kann ein solcher Umstand ein nationales Gericht nicht daran hindern, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, und führt nicht zur Unzulässigkeit dieser Frage (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2021, Ubezpieczeniowy Fundusz Gwarancyjny, C‑383/19, EU:C:2021:337, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

97      Folglich ist festzustellen, dass die erste Frage zulässig ist.

 Zur Beantwortung der Frage

98      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich die erste Frage auf Art. 6 Abs. 1 EUV bezieht. Abgesehen von einem allgemeinen Verweis auf die Anwendbarkeit der Charta stützt diese Bestimmung jedoch nicht die Argumentation des vorlegenden Richters, wie sich aus den Gründen des ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchens ergibt. Im Übrigen handelt es sich um eine allgemeine Bestimmung, mit der die Union anerkennt, dass die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig sind, die klarstellt, dass die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union durch die Bestimmungen der Charta in keiner Weise erweitert werden, und in der die Methode zur Auslegung der in der Charta verankerten Rechte, Freiheiten und Grundsätze näher erläutert wird. Unter diesen Umständen ist diese Bestimmung für die Prüfung der ersten Frage unerheblich.

99      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann dieser jedoch veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Urteil vom 7. August 2018, Smith, C‑122/17, EU:C:2018:631, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

100    Nach Art. 48 Abs. 1 der Charta gilt jeder Angeklagte bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig. Ferner bestimmt Art. 48 Abs. 2 der Charta, dass jedem Angeklagten die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet wird.

101    In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta, soweit sie Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, diese Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in dieser Konvention verliehen werden. Wie aus den Erläuterungen zu Art. 48 der Charta hervorgeht, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta der Grundrechte bei deren Auslegung zu berücksichtigen sind, entspricht Art. 48 der Charta Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung von Art. 48 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das nicht hinter dem in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierten Schutzniveau zurückbleibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Gambino und Hyka, C‑38/18, EU:C:2019:628, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

102    Unter diesen Umständen möchte der vorlegende Richter mit dem ersten Teil seiner ersten Frage wissen, ob Art. 5 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet, ein Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern einzurichten oder sicherzustellen, dass die Angemessenheit der Qualität der in Gerichtsverfahren erbrachten Dolmetschleistungen überprüft werden kann.

103    Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass „die Mitgliedstaaten [sich] darum [bemühen], ein oder mehrere Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern einzurichten, die angemessen qualifiziert sind“ (Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64).

104    Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind für die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom 2. September 2015, Surmačs, C‑127/14, EU:C:2015:522, Rn. 28, und vom 16. November 2016, DHL Express [Austria], C‑2/15, EU:C:2016:880, Rn. 19).

105    Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64, in dem das Verb „sich bemühen“ verwendet wird, ergibt, ist die Einrichtung eines Registers mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern, die angemessen qualifiziert sind, eher ein programmatisches Erfordernis als eine Ergebnispflicht, die im Übrigen als solche keine unmittelbare Wirkung hat.

106    Diese wörtliche Auslegung wird durch den Kontext, in den sich diese Bestimmung einfügt, und durch die mit der Richtlinie 2010/64 verfolgten Ziele bestätigt.

107    Nach ihrem zwölften Erwägungsgrund setzt die Richtlinie gemeinsame Mindestvorschriften im Bereich von Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren fest.

108    Solche Mindestvorschriften sollten nach dem 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie gewährleisten, dass es unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung gibt, damit verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und ein faires Verfahren gewährleistet wird.

109    Zur Qualität von Dolmetschleistungen und Übersetzungen heißt es im 24. Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/64, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen sollten, dass diese bei entsprechenden Hinweisen an die zuständigen Behörden in einem bestimmten Fall kontrolliert werden kann. Außerdem bestimmt Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64, dass die Mitgliedstaaten konkrete Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Dolmetschleistungen und Übersetzungen der in Art. 2 Abs. 8 der Richtlinie geforderten Qualität entsprechen, wobei die letztgenannte Bestimmung klarstellt, dass die Dolmetschleistungen „eine für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreichende Qualität aufweisen [müssen], wobei insbesondere sicherzustellen ist, dass verdächtige oder beschuldigte Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, und imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“

110    Aus diesen Bestimmungen und Erwägungsgründen ergibt sich unabhängig von den konkreten Anwendungsmodalitäten von Art. 5 der Richtlinie 2010/64, dass diese den Mitgliedstaaten vorschreibt, „konkrete Maßnahmen“ zu ergreifen, die darauf abzielen, für die „ausreichende Qualität“ der Dolmetschleistungen Sorge zu tragen, um zum einen sicherzustellen, dass die betroffenen Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, und imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und zum anderen eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten. Insoweit stellt die Einrichtung eines Registers mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern eines der Mittel dar, die geeignet sind, zur Verwirklichung dieses Ziels beizutragen. Auch wenn die Erstellung eines solchen Registers somit nicht als den Mitgliedstaaten durch diese Richtlinie vorgeschrieben angesehen werden kann, ändert dies jedoch nichts daran, dass Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie hinreichend genau und unbedingt, um von einem Einzelnen in Anspruch genommen und vom nationalen Richter angewandt zu werden, vorsieht, dass die Mitgliedstaaten konkrete Maßnahmen ergreifen, um die Qualität der Dolmetschleistungen und Übersetzungen sicherzustellen, zu diesem Zweck über angemessene Dienste zu verfügen und einen effizienten Zugang zu diesen Diensten fördern.

111    Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2010/64 sieht hierzu unbedingt und genau vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass verdächtige oder beschuldigte Personen im Einklang mit nach einzelstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahren „die Möglichkeit haben, zu beanstanden, dass die Qualität der Dolmetschleistungen für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens unzureichend sei“.

112    Eine solche Möglichkeit entbindet die Mitgliedstaaten jedoch nicht von ihrer in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64 in Verbindung mit u. a. deren Art. 2 Abs. 8 vorgesehenen Verpflichtung, „konkrete Maßnahmen“ zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Dolmetschleistungen „ausreichende Qualität“ aufweisen, insbesondere, wenn es kein Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern gibt.

113    Um die Anforderungen an ein faires Verfahren zu erfüllen, muss in diesem Zusammenhang sichergestellt werden, dass die beschuldigte Person verstehen kann, was ihr vorgeworfen wird, und sich verteidigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci, C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Verpflichtung der zuständigen Behörden beschränkt sich daher nicht auf die Bestellung eines Dolmetschers. Sie haben bei entsprechenden Hinweisen in einem bestimmten Fall außerdem die Qualität der Dolmetschleistung zu prüfen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 18. Oktober 2006, Hermi/Italien, CE:ECHR:2006:1018JUD001811402, § 70).

114    Das Versäumnis der nationalen Gerichte, Behauptungen über unzureichende Leistungen eines Dolmetschers zu prüfen, kann nämlich zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte führen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 24. Juni 2019, Knox/Italien, CE:ECHR:2019:0124JUD007657713, §§ 182 und 186).

115    Um sicherzustellen, dass die verdächtige oder beschuldigte Person, die die Sprache des Strafverfahrens nicht spricht und nicht versteht, gleichwohl ordnungsgemäß darüber unterrichtet wurde, was ihr vorgeworfen wird, müssen die nationalen Gerichte somit prüfen, ob sie eine Dolmetschleistung „ausreichender Qualität“ erhalten hat, um den gegen sie erhobenen Tatvorwurf zu verstehen, damit ein faires Verfahren gewährleistet ist. Damit die nationalen Gerichte diese Prüfung durchführen können, müssen diese Gerichte insbesondere Zugang zu den Informationen über das Verfahren der Auswahl und der Bestellung unabhängiger Übersetzer und Dolmetscher haben.

116    Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass es in Ungarn kein Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern gibt. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es wegen der Lücken der nationalen Regelung praktisch unmöglich sei, die Qualität der den verdächtigen oder angeklagten Personen zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen zu gewährleisten. Die ungarische Regierung macht allerdings geltend, dass die nationalen Vorschriften über die Tätigkeit von Berufsdolmetschern und ‑übersetzern sowie die strafverfahrensrechtlichen Regelungen es jeder Person, die die ungarische Sprache nicht beherrsche, erlaubten, sprachliche Unterstützung zu erhalten, die den Anforderungen eines fairen Verfahrens genüge. Abgesehen von diesen Erwägungen zum nationalen Recht ist es Sache des vorlegenden Gerichts, den Sachverhalt des vorliegenden Falls konkret und genau zu beurteilen, um zu prüfen, ob die der betroffenen Person im Ausgangsverfahren zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen im Hinblick auf die sich aus der Richtlinie 2010/64 ergebenden Anforderungen von ausreichender Qualität waren, um es dieser Person zu ermöglichen, Kenntnis von den Gründen ihrer Festnahme oder der gegen sie erhobenen Tatvorwürfe zu erlangen, und um in die Lage versetzt zu werden, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.

117    Folglich ist Art. 5 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen und Übersetzungen ausreicht, damit die verdächtige oder beschuldigte Person den gegen sie erhobenen Tatvorwurf verstehen kann und diese Dolmetschleistungen von den nationalen Gerichten überprüft werden können.

118    Mit dem zweiten Teil der ersten Vorlagefrage soll geklärt werden, ob in Ermangelung eines solchen Registers oder einer anderen Methode zur Überprüfung der Angemessenheit der Dolmetschleistungen und für den Fall, dass nicht festgestellt werden kann, ob die verdächtige oder beschuldigte Person über den Gegenstand des gegen sie bestehenden Verdachts bzw. des gegen sie erhobenen Tatvorwurfs unterrichtet worden ist, Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 in Verbindung mit Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie der Fortführung eines Verfahrens in Abwesenheit entgegenstehen.

119    Diese Frage beruht auf der Prämisse, dass das Fehlen nationaler Maßnahmen zur Sicherstellung der Qualität der Dolmetschleistungen dem vorlegenden Gericht die Möglichkeit nehmen würde, die Angemessenheit der Dolmetschleistungen zu prüfen. Unabhängig von der Frage des Bestehens allgemeiner nationaler Maßnahmen, die es ermöglichen, die Qualität der in Strafverfahren zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen sicherzustellen und zu überprüfen, ist es jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens konkret und genau zu beurteilen, um zu prüfen, ob die der betroffenen Person in diesem Verfahren zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen im Hinblick auf die sich aus der Richtlinie 2010/64 ergebenden Anforderungen von ausreichender Qualität waren.

120    Am Ende dieser Prüfung kann das vorlegende Gericht zu dem Schluss gelangen, dass es nicht feststellen kann, ob die betroffene Person in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde, sei es, weil die ihr zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen unzureichend waren, sei es, weil deren Qualität nicht ermittelt werden kann. Folglich ist der zweite Teil der ersten Vorlagefrage so zu verstehen, dass mit ihm geklärt werden soll, ob Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 im Licht von Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass es ihnen zuwiderläuft, dass eine Person in Abwesenheit verurteilt wird, obwohl sie aufgrund einer unzureichenden Dolmetschleistung nicht in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde, oder wenn die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen nicht ermittelt und somit nicht festgestellt werden kann, ob die Person in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde.

121    Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 6 Abs. 3 EMRK jede angeklagte Person das Recht hat, „innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden“. Die Garantien des Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK gelten für jede „angeklagte Person“ in der autonomen Bedeutung, die diesem Begriff im Rahmen der EMRK zukommt. Eine „strafrechtliche Anklage“ liegt ab dem Zeitpunkt vor, zu dem eine Person von der zuständigen Behörde offiziell von der ihr zur Last gelegten Begehung einer Straftat in Kenntnis gesetzt wird, oder ab dem Zeitpunkt, zu dem ihre Situation durch Handlungen, die von den Behörden infolge eines Verdachts gegen sie vorgenommen wurden, spürbar beeinträchtigt wurde. So kann insbesondere eine Person, die wegen des Verdachts, eine Straftat begangen zu haben, festgenommen wurde, als „einer Straftat angeklagt“ betrachtet werden und den Schutz von Art. 6 EMRK beanspruchen (EGMR, 12. Mai 2017, Simeonovi/Bulgarien, CE:ECHR:2017:0512JUD002198004, §§ 110 und 111).

122    Nach der Rechtsprechung des EGMR stellt in Strafsachen eine genaue und vollständige Unterrichtung über die gegen eine beschuldigte Person erhobenen Vorwürfe und folglich auch die von einem Gericht möglicherweise zu ihren Lasten vorzunehmende rechtliche Beurteilung eine wesentliche Voraussetzung für den fairen Charakter des Verfahrens dar. Das Recht auf Unterrichtung über Art und Gegenstand der Anklage ist im Licht des Rechts der beschuldigten Person auf Vorbereitung ihrer Verteidigung zu sehen (EGMR, 25. März 1999, Pélissier und Sassi/Frankreich, CE:ECHR:1999:0325JU002544494, §§ 52 und 54). Die Unterrichtung einer Person darüber, dass sie verfolgt werden soll, stellt einen Rechtsakt von solcher Bedeutung dar, dass seine Form und sein Inhalt geeignet sein müssen, die tatsächliche Ausübung der Rechte der beschuldigten Person zu gewährleisten, so dass eine vage und inoffizielle Kenntnis nicht ausreicht (EGMR, 1. März 2006, Sejdovic/Italien, CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 99).

123    Ein faires Verfahren setzt voraus, dass jede Person in der Lage sein muss, den gegen sie erhobenen Tatvorwurf zu verstehen, um sich verteidigen zu können. Bei einer Person, die die Sprache des gegen sie geführten Strafverfahrens nicht spricht oder nicht versteht und der keine sprachliche Unterstützung gewährt wurde, die es ihr ermöglicht hätte, die gegen sie erhobenen Tatvorwürfe zu verstehen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie in der Lage war, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.

124    Diese grundlegende Garantie wird u. a. durch das in Art. 2 der Richtlinie 2010/64 vorgesehene Recht auf Dolmetschleistungen umgesetzt, das für jede Vernehmung oder Verhandlung während der Strafverfahren vorsieht, dass verdächtigen oder beschuldigten Personen, die die Sprache des betreffenden Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, unverzüglich Dolmetschleistungen zur Verfügung gestellt werden, sowie durch das Recht auf Übersetzung wesentlicher Unterlagen gemäß Art. 3 dieser Richtlinie.

125    Werden Verdächtige oder beschuldigte Personen festgenommen oder inhaftiert, erlegt Art. 4 der Richtlinie 2012/13 den Mitgliedstaaten eine Verpflichtung auf, ihnen eine schriftliche Erklärung der Rechte auszuhändigen, in der insbesondere die in Art. 3 der Richtlinie genannten Verfahrensrechte genau angegeben sind.

126    Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2012/13 bestimmt ferner, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen die schriftliche Erklärung ihrer Rechte in einer Sprache erhalten, die sie verstehen. Ist diese Erklärung nicht in der entsprechenden Sprache verfügbar, so werden Verdächtige oder beschuldigte Personen „in einer Sprache, die sie verstehen, mündlich über ihre Rechte belehrt“.

127    Nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung hat „umgehend und so detailliert“ zu erfolgen, „dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden“.

128    Zwar regelt die Richtlinie 2012/13 nicht die Modalitäten der in ihrem Art. 6 vorgesehenen Unterrichtung der beschuldigten Person über den Tatvorwurf. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht das u. a. mit Art. 6 der Richtlinie angestrebte Ziel beeinträchtigen, das, wie sich auch aus deren 27. Erwägungsgrund ergibt, darin besteht, Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, die Vorbereitung ihrer Verteidigung zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten (Urteil vom 13. Juni 2019, Moro, C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

129    Folglich sind die Informationen, die jeder Person, die verdächtigt oder beschuldigt wird, eine strafbare Handlung begangen zu haben, gemäß Art. 6 der Richtlinie 2012/13 mitzuteilen sind, in einer Sprache zu erteilen, die diese Person versteht, gegebenenfalls mit sprachlicher Unterstützung durch einen Dolmetscher oder durch eine schriftliche Übersetzung.

130    Da für das gesamte Strafverfahren das Recht auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf entscheidend ist, genügt der Umstand, dass einer Person, die die Sprache dieses Verfahrens nicht spricht oder nicht versteht, keine sprachliche Unterstützung gewährt wurde, die es ihr ermöglicht hätte, den Inhalt des Verfahrens zu verstehen und sich zu verteidigen, dass kein faires Verfahren gegeben ist und die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte beeinträchtigt wird.

131    Zwar sieht Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass spätestens dann, wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden. Daher kann nach dieser Bestimmung das Versäumnis, diese Informationen zu erteilen, insbesondere weil sie nicht in einer der beschuldigten Person verständlichen Sprache erteilt wurden, in der Strafverhandlung geheilt werden.

132    Jedoch ergibt sich daraus auch, dass das Strafgericht nicht ohne Verstoß gegen Art. 6 der Richtlinie 2012/13 und den Grundsatz des fairen Verfahrens bzw. Beeinträchtigung der wirksamen Ausübung der Verteidigungsrechte, die diese Vorschrift gewährleisten soll, in Abwesenheit der angeklagten Person über die Begründetheit der Anklage entscheiden kann, wenn diese Person nicht zuvor in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf informiert wurde.

133    Sollte sich auf der Grundlage der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen im vorliegenden Fall herausstellen, dass die zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen keine „ausreichende Qualität“ aufwiesen, um es dem Angeklagten zu ermöglichen, die Gründe für seine Festnahme und die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe zu verstehen, könnte dies der Fortführung des Strafverfahrens in Abwesenheit entgegenstehen.

134    Da zudem das Recht von verdächtigen und beschuldigten Personen, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein, in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankert ist, hängt die Möglichkeit, das Strafverfahren in Abwesenheit durchzuführen, nach Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie davon ab, dass sie rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurden.

135    Schließlich trifft es zu, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 9 der Richtlinie 2016/343 sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie bei der sie betreffenden Verhandlung nicht anwesend waren, obwohl die in Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen nicht erfüllt wurden, das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs haben, die bzw. der eine neue Prüfung des Sachverhalts ermöglicht. Allerdings kann diese Bestimmung nicht rechtfertigen, dass eine Person in Abwesenheit verurteilt werden kann, obwohl sie nicht gemäß den Anforderungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf informiert wurde, wenn dieser Informationsmangel auf einer unzureichenden Dolmetschleistung beruht und folglich gegen andere Vorschriften des Unionsrechts verstößt.

136    Sollte sich auf der Grundlage der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen im vorliegenden Fall herausstellen, dass die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistung nicht ermittelt werden kann, könnte dies im Übrigen ebenfalls der Fortführung des Strafverfahrens in Abwesenheit entgegenstehen. Kann die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistung nicht ermittelt werden, bedeutet dies nämlich, dass nicht festgestellt werden kann, ob die beschuldigte Person über den gegen sie bestehenden Verdacht oder den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde. Somit gelten alle Erwägungen zu der in den Rn. 121 bis 135 des vorliegenden Urteils geprüften Fallgestaltung aufgrund der für das gesamte Strafverfahren entscheidenden Bedeutung des Rechts auf Unterrichtung über den gegen eine Person erhobenen Tatvorwurf und des grundlegenden Charakters der Verteidigungsrechte für diese zweite Fallgestaltung entsprechend.

137    Folglich sind Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2010/64, Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 in Verbindung mit Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass es ihnen zuwiderläuft, dass eine Person in Abwesenheit verurteilt wird, obwohl sie aufgrund einer unzureichenden Dolmetschleistung nicht in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde, oder wenn die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen nicht ermittelt und somit nicht festgestellt werden kann, dass die Person in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde.

138    In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass

–        Art. 5 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen und Übersetzungen ausreicht, damit die verdächtige oder beschuldigte Person den gegen sie erhobenen Tatvorwurf verstehen kann und diese Dolmetschleistungen von den nationalen Gerichten überprüft werden können;

–        Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2010/64, Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 in Verbindung mit Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass es ihnen zuwiderläuft, dass eine Person in Abwesenheit verurteilt wird, obwohl sie aufgrund einer unzureichenden Dolmetschleistung nicht in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde, oder wenn die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen nicht ermittelt und somit nicht festgestellt werden kann, dass die Person in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde.

 Zur zweiten und zur dritten Frage

139    Mit seiner zweiten Frage möchte der vorlegende Richter wissen, ob der in Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass die Präsidentin des Landesgerichtsamts den Präsidenten eines Gerichts, der u. a. befugt ist, die Geschäftsverteilung festzulegen, Disziplinarverfahren gegen Richter einzuleiten und deren Leistung zu beurteilen, unter Umgehung eines Bewerbungsverfahrens für Richter im Wege einer befristeten Beauftragung ernennt, und, falls dies der Fall ist, ob das Verfahren vor einem so geleiteten Gericht ein faires Verfahren ist. Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dahin auszulegen ist, dass er einem Besoldungssystem entgegensteht, das für Richter niedrigere Bezüge als für Staatsanwälte derselben Kategorie vorsieht sowie ermessensabhängige Gratifikationen für Richter ermöglicht, und, falls dies der Fall ist, ob dieser Grundsatz dahin auszulegen ist, dass unter solchen Umständen das Recht auf ein faires Verfahren nicht gewährleistet werden kann.

140    Da die ungarische Regierung und die Kommission die Zulässigkeit dieser Fragen im Wesentlichen mit der Begründung bestreiten, dass weder die Auslegung von Art. 19 EUV noch die von Art. 47 der Charta für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erheblich sei, ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein muss, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

141    Der Gerichtshof hat daher wiederholt darauf hingewiesen, dass sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV folgt, dass das Vorabentscheidungsverfahren insbesondere voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren berücksichtigt werden kann (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

142    In einem solchen Verfahren muss daher ein Bezug zwischen dem fraglichen Rechtsstreit und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, bestehen, so dass diese Auslegung einem objektiven Erfordernis für die Entscheidung entspricht, die das nationale Gericht zu treffen hat (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

143    Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht, dass zwischen den unionsrechtlichen Vorschriften, auf die sich die zweite und die dritte zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage beziehen, und dem Ausgangsverfahren ein Bezug bestünde, aufgrund dessen die Auslegung, um die ersucht wird, erforderlich werden könnte, damit der vorlegende Richter entsprechend den aus einer solchen Auslegung zu ziehenden Erkenntnissen eine Entscheidung treffen kann, deren es bedürfte, um über diese Rechtssache zu befinden (vgl. entsprechend Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 52 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

144    Wie nämlich erstens auch der Generalanwalt in den Nrn. 90 und 91 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat der Ausgangsrechtsstreit nichts mit dem ungarischen Justizsystem insgesamt zu tun, das in mancherlei Hinsicht durchaus geeignet wäre, die Unabhängigkeit der Justiz und insbesondere des vorlegenden Gerichts bei der Durchführung des Unionsrechts zu beeinträchtigen. Insoweit genügt der Umstand, dass ein sachlicher Bezug zwischen den materiell-rechtlichen Fragen des Ausgangsrechtsstreits und Art. 47 der Charta oder sogar umfassender Art. 19 EUV bestehen könnte, nicht, um das Kriterium der Erforderlichkeit im Sinne von Art. 267 AEUV zu erfüllen. Dafür müsste die Auslegung dieser Bestimmungen, um die im Rahmen der zweiten und der dritten Frage ersucht wird, noch einem objektiven Erfordernis für die Sachentscheidung des Ausgangsverfahrens entsprechen, was vorliegend nicht der Fall ist.

145    Zweitens hat der Gerichtshof zwar bereits zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen für zulässig erklärt, die sich auf die Auslegung von Verfahrensvorschriften des Unionsrechts beziehen, die das betreffende vorlegende Gericht zum Erlass seines Urteils anwenden muss (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 17. Februar 2011, Weryński, C‑283/09, EU:C:2011:85, Rn. 41 und 42), um dergleichen geht es jedoch in der zweiten und der dritten Frage, die im Rahmen der vorliegenden Rechtssache gestellt worden sind, nicht (vgl. entsprechend Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 50).

146    Drittens erscheint eine Antwort des Gerichtshofs auf diese Fragen auch nicht geeignet, dem nationalen Gericht eine Auslegung des Unionsrechts an die Hand zu geben, die es ihm ermöglicht, über Verfahrensfragen des nationalen Rechts zu entscheiden, bevor es in dem bei ihm anhängigen Verfahren in der Sache entscheiden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 51).

147    Nach alledem sind die zweite und die dritte Frage unzulässig.

 Kosten

148    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass das Höchstgericht eines Mitgliedstaats im Anschluss an ein Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts die Rechtswidrigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens, mit dem der Gerichtshof von einem untergeordneten Gericht nach dieser Bestimmung befasst worden ist, feststellt, weil die vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich und erforderlich seien, ohne dass allerdings die Rechtswirkungen der dieses Ersuchen enthaltenden Entscheidung betroffen sind. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet dieses untergeordnete Gericht, eine solche Entscheidung des nationalen Höchstgerichts außer Acht zu lassen.

2.      Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass er der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen einen nationalen Richter entgegensteht, weil dieser den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV ersucht hat.

3.      Art. 5 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen und Übersetzungen ausreicht, damit die verdächtige oder beschuldigte Person den gegen sie erhobenen Tatvorwurf verstehen kann und diese Dolmetschleistungen von den nationalen Gerichten überprüft werden können.

Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2010/64, Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren in Verbindung mit Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass es ihnen zuwiderläuft, dass eine Person in Abwesenheit verurteilt wird, obwohl sie aufgrund einer unzureichenden Dolmetschleistung nicht in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde, oder wenn die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen nicht ermittelt und somit nicht festgestellt werden kann, dass die Person in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Ungarisch.