Language of document : ECLI:EU:C:2013:346

Rechtssache C‑651/11

Staatssecretaris van Financiën

gegen

X BV

(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden)

„Mehrwertsteuer – Sechste Richtlinie 77/388/EWG – Art. 5 Abs. 8 – Begriff ‚Übertragung des Gesamtvermögens oder eines Teilvermögens‘ – Veräußerung von 30 % der Anteile an einer Gesellschaft, für die der Veräußerer mehrwertsteuerpflichtige Dienstleistungen erbringt“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 30. Mai 2013

Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Sechste Richtlinie – Übertragung des Gesamtvermögens oder eines Teilvermögens – Begriff – Veräußerung von 30 % der Anteile an einer Gesellschaft durch einen Anteilseigner, der für diese Gesellschaft mehrwertsteuerpflichtige Dienstleistungen erbringt – Ausschluss – Gleichzeitige Übertragung der restlichen Anteile auf denselben Erwerber durch die anderen Anteilseigner – Übertragung, die in engem Zusammenhang mit den Tätigkeiten für die Gesellschaft steht – Keine Auswirkung

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 5 Abs. 8 und Art. 6 Abs. 5)

Art. 5 Abs. 8 und/oder Art. 6 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern sind dahin auszulegen, dass die Veräußerung von 30 % der Anteile an einer Gesellschaft, für die der Veräußerer mehrwertsteuerpflichtige Dienstleistungen erbringt, keine Übertragung des Gesamtvermögens oder eines Teilvermögens bei der Lieferung von Gegenständen oder bei Dienstleistungen im Sinne dieser Bestimmungen darstellt. Dies gilt unabhängig davon, ob die anderen Anteilseigner die übrigen Anteile an dieser Gesellschaft praktisch gleichzeitig an dieselbe Person übertragen oder diese Übertragung in engem Zusammenhang mit den für diese Gesellschaft ausgeübten Managementtätigkeiten steht.

Der Begriff „Übertragung des Gesamtvermögens oder eines Teilvermögens“ erfasst nämlich die Übertragung eines Geschäftsbetriebs oder eines selbständigen Unternehmensteils, die jeweils materielle und gegebenenfalls immaterielle Bestandteile umfassen, die zusammengenommen ein Unternehmen oder einen Unternehmensteil bilden, mit dem eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit fortgeführt werden kann. Der bloße Erwerb, das bloße Halten und der bloße Verkauf von Gesellschaftsanteilen stellen jedoch für sich genommen keine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Sechsten Richtlinie dar, da der bloße Erwerb von Beteiligungen an anderen Unternehmen keine Nutzung eines Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen darstellt. Daher kann die Übertragung von Gesellschaftsanteilen – unabhängig von der Höhe der Beteiligung – nur dann einer Übertragung eines Teil- oder Gesamtvermögens gleichgestellt werden, wenn der Gesellschaftsanteil Teil einer eigenständigen Einheit ist, die eine selbständige wirtschaftliche Betätigung ermöglicht, und diese Tätigkeit vom Erwerber fortgeführt wird. Eine bloße Veräußerung von Anteilen ohne gleichzeitige Übertragung von Vermögenswerten versetzt den Erwerber nicht in die Lage, eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit als Rechtsnachfolger des Veräußerers fortzuführen. Die Anteilseigner sind keine Inhaber von Vermögenswerten des Unternehmens, an dem sie Anteile halten, sondern Inhaber dieser Anteile und haben in dieser Eigenschaft ein Recht auf eine Gewinnbeteiligung.

Zudem wird die Mehrwertsteuer nach dem Grundprinzip des Mehrwertsteuersystems auf jeden Produktions- oder Vertriebsvorgang erhoben, abzüglich der Mehrwertsteuer, mit der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet worden sind. In Art. 5 Abs. 8 der Sechsten Richtlinie wird der Begriff „Übertragender“ im Singular verwendet, woraus folgt, dass die Anwendung dieser Bestimmung nicht vorgesehen ist, wenn mehrere Übertragende ihre Beteiligung an denselben Erwerber veräußern. Somit ist jeder Vorgang einzeln und selbständig zu beurteilen.

(vgl. Randnrn. 32, 36, 38, 39, 45-47, 58 und Tenor)