Language of document : ECLI:EU:C:2021:596

Rechtssache C791/19

Europäische Kommission

gegen

Republik Polen

 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 15. Juli 2021

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Disziplinarordnung für Richter – Rechtsstaatlichkeit – Richterliche Unabhängigkeit – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Disziplinarvergehen aufgrund des Inhalts von Gerichtsentscheidungen – Unabhängige und durch Gesetz errichtete Disziplinargerichte – Einhaltung einer angemessenen Frist und Achtung der Verteidigungsrechte in Disziplinarverfahren – Art. 267 AEUV – Beschränkung des Rechts und der Pflicht der nationalen Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden“

1.        Vertragsverletzungsklage – Beschleunigtes Verfahren – Voraussetzungen – Umstände, die eine rasche Erledigung rechtfertigen – Fehlen – Sensibilität und Komplexität der aufgeworfenen Rechtsfragen, die nicht mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu vereinbaren sind

(Satzung des Gerichtshofs, Art. 23a; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 133 Abs. 1)

(vgl. Rn. 32-34)

2.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist – Umfang

(Art. 2 und 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47 und 51 Abs. 1)

(vgl. Rn. 52-54)

3.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist – Achtung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit – Umfang

(Art. 2 und 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47 und 48)

(vgl. Rn. 55-61, 95-98, 228)

4.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist – Achtung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit – Neue Disziplinarkammer des Obersten Gerichts, die mit Richtern besetzt ist, die vom Präsidenten der Republik Polen auf Vorschlag des Landesjustizrats ernannt werden – Disziplinarkammer, die für die Entscheidung über Disziplinarsachen gegen Richter des Obersten Gerichts und gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuständig ist – Kammer, die ausschließlich aus neuen Richtern besteht, die eine sehr hohe Vergütung erhalten und über besonders weitgehende organisatorische, funktionelle und finanzielle Autonomie verfügen – Berechtigte Zweifel der Rechtsunterworfenen an der Unempfänglichkeit dieser Kammer für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen – Verstoß – Vertragsverletzung

(Art. 2 und 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV; Art. 258 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)

(vgl. Rn. 80-83, 86, 102-110, 112, 113, 235, Tenor 1)

5.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist – Achtung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit – Nationale Regelung, in der Verhaltensweisen, die die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern auslösen können, nicht klar und präzise festgelegt sind – Regelung, die nicht verhindern kann, dass Richter allein aufgrund ihrer Entscheidung der Gefahr ausgesetzt sind, dass ihre disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit ausgelöst wird – Kammer, die für die Entscheidung über Disziplinarsachen gegen Richter zuständig ist und nicht das Erfordernis der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllt – Unzulässigkeit – Vertragsverletzung

(Art. 2 und 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)

(vgl. Rn. 134, 136-141, 146-148, 157, 235, Tenor 1)

6.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist – Erfüllung des Erfordernisses des durch Gesetz errichteten Gerichts – Nationale Regelung, die dem Präsidenten der Disziplinarkammer das Ermessen einräumt, das für die Entscheidung über eine Disziplinarsache gegen einen Richter örtlich zuständige Disziplinargericht zu bestimmen – Fehlen von Kriterien für eine solche Bestimmung – Unzulässigkeit – Vertragsverletzung

(Art. 2 und 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)

(vgl. Rn. 164, 172, 173, 176, 235, Tenor 1)

7.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist – Achtung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit – Nationale Regelung, nach der ein Disziplinarverfahren gegen einen Richter eingeleitet werden kann, gegen den in derselben Sache bereits ein durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenes Disziplinarverfahren durchgeführt wurde – Nationale Regelung, die nicht gewährleistet, dass Disziplinarsachen gegen Richter innerhalb angemessener Frist entschieden werden – Unzulässigkeit – Vertragsverletzung

(Art. 2 und 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)

(vgl. Rn. 187, 193, 197, 202, 235, Tenor 1)

8.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist – Achtung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit – Disziplinarverfahren gegen einen Richter, der aus gesundheitlichen Gründen nicht am Verfahren teilnehmen kann – Nationale Regelung, nach der Handlungen zur Bestellung eines Verteidigers, der die Interessen dieses Richters verteidigen soll, den Lauf des Verfahrens nicht hemmen – Fortsetzung des Disziplinarverfahrens bei entschuldigter Abwesenheit des Richters oder seines Vertreters – Nationale Regelung, die die Verteidigungsrechte der beschuldigten Richter nicht achtet – Unzulässigkeit – Vertragsverletzung

(Art. 2 und 19 EUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47 und 48)

(vgl. Rn. 208-210, 213, 235, Tenor 1)

9.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Befugnis der nationalen Gerichte zur Befragung des Gerichtshofs – Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit – Nationale Regelung, die einen Richter wegen der Anrufung des Gerichtshofs im Wege der Vorabentscheidung einem Disziplinarverfahren aussetzen kann – Unzulässigkeit – Vertragsverletzung

(Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV)

(vgl. Rn. 223-227, 230, 231, 234, 235, Tenor 2)

Zusammenfassung

Die polnischen Rechtsvorschriften über die Disziplinarordnung für Richter verstoßen gegen das Unionsrecht

Das Erfordernis der Unabhängigkeit verlangt, dass die Disziplinarordnung die erforderliche Gewähr bietet, dass jede Gefahr einer politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen vermieden wird

Im Jahr 2017 erließ Polen eine neue Disziplinarordnung für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Im Rahmen dieser Gesetzesreform wurde beim Obersten Gericht eine neue Kammer, die Izba Dyscyplinarna (im Folgenden: Disziplinarkammer), eingerichtet. Die Disziplinarkammer war u. a. für Disziplinarsachen gegen Richter des Obersten Gerichts und im zweiten Rechtszug für Disziplinarsachen gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuständig.

Da die Europäische Kommission der Auffassung war, dass Polen durch den Erlass der neuen Disziplinarordnung gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht(1) verstoßen habe, hat sie beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage erhoben. Die Kommission macht insbesondere geltend, dass die Disziplinarordnung weder die Unabhängigkeit noch die Unparteilichkeit der Disziplinarkammer gewährleiste, die ausschließlich aus Richtern bestehe, die von der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) (im Folgenden: KRS) ausgewählt worden seien, und dass 23 der 25 Mitglieder der KRS von politischen Stellen ernannt würden.

In dem Urteil in dieser Rechtssache hat die Große Kammer des Gerichtshofs der Vertragsverletzungsklage der Kommission stattgegeben. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass diese neue Disziplinarordnung für Richter die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigt. Außerdem erlaubt sie es den betreffenden Richtern nicht, die ihnen im Rahmen des Vorabentscheidungsmechanismus obliegenden Pflichten in völliger Unabhängigkeit zu erfüllen.

Würdigung durch den Gerichtshof

In einem ersten Schritt hat der Gerichtshof entschieden, dass Polen gegen seine Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist, verstoßen hat.

Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass nach seiner ständigen Rechtsprechung Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und das sich aus dieser Bestimmung ergebende Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit verlangen, dass die Disziplinarordnung für Richter der nationalen Gerichte, die Bestandteil ihrer Rechtsbehelfssysteme in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, die erforderlichen Garantien aufweist, um jegliche Gefahr zu verhindern, dass eine solche Disziplinarordnung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen eingesetzt wird. Dies setzt insbesondere voraus, dass Vorschriften erlassen werden, die festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen. Solche Vorschriften müssen außerdem die Einschaltung einer unabhängigen Einrichtung gemäß einem Verfahren, das die in den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegten Rechte, insbesondere die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang gewährleistet, und die Möglichkeit vorsehen, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten.

Nach den Feststellungen des Gerichtshofs hat Polen erstens die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer nicht gewährleistet und dadurch die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigt. Es hat nämlich nicht sichergestellt, dass die gegen Richter eingeleiteten Disziplinarverfahren von einer Einrichtung kontrolliert werden, die solche Garantien bietet. Nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten. In Anwendung der Gesetzesreform von 2017 wird das Verfahren zur Ernennung der Richter am Obersten Gericht und insbesondere das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts aber wesentlich durch die KRS bestimmt – ein Organ, das von der polnischen Exekutive und Legislative erheblich umgebildet wurde. Die Disziplinarkammer besteht zudem ausschließlich aus von der KRS ausgewählten neuen Richtern, die dem Obersten Gericht nicht bereits angehört haben und im Vergleich zu den Bedingungen in den anderen Kammern des Obersten Gerichts eine sehr hohe Vergütung erhalten und über besonders weitgehende organisatorische, funktionelle und finanzielle Autonomie verfügen. Alle diese Gesichtspunkte können bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der Disziplinarkammer für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die polnische Legislative und Exekutive und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen.

Zweitens hat der Gerichtshof ausgehend von der Tatsache, dass die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer – wie gezeigt – nicht gewährleistet sind, festgestellt, dass Polen es zugelassen hat, dass der Inhalt von Gerichtsentscheidungen als Disziplinarvergehen von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit eingestuft werden kann. Unter Hinweis auf die Notwendigkeit, zu verhindern, dass die Disziplinarordnung zur politischen Kontrolle von Gerichtsentscheidungen oder zur Ausübung von Druck auf Richter eingesetzt werden kann, hat der Gerichtshof festgestellt, dass im vorliegenden Fall die neue Disziplinarordnung, die hinsichtlich des Verhaltens, das die Verantwortlichkeit von Richtern auslösen kann, nicht den Anforderungen an Klarheit und Präzision genügt, auch die Unabhängigkeit der Richter beeinträchtigt.

Drittens hat Polen zum einen auch nicht gewährleistet, dass Disziplinarsachen gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit innerhalb angemessener Frist entschieden werden, wodurch die Unabhängigkeit dieser Richter ebenfalls beeinträchtigt wird. Nach der neuen Disziplinarordnung kann nämlich gegen einen Richter, gegen den ein durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung abgeschlossenes Disziplinarverfahren anhängig war, in derselben Sache erneut ein Disziplinarverfahren durchgeführt werden, so dass er ständig unter der potenziellen Bedrohung solcher Verfahren verbleibt. Zum anderen sind die neuen Verfahrensvorschriften für Disziplinarverfahren gegen Richter geeignet, die Verteidigungsrechte der beschuldigten Richter zu beschränken. Nach dieser neuen Regelung unterbrechen nämlich Handlungen, die mit der Bestellung des Verteidigers eines Richters und der Übernahme der Verteidigung durch diesen zusammenhängen, das Verfahren nicht, zumal das Verfahren trotz entschuldigter Abwesenheit des Richters oder seines Verteidigers durchgeführt werden kann. Ferner können die genannten neuen Verfahrensvorschriften insbesondere dann, wenn sie – wie im vorliegenden Fall – im Zusammenhang mit einer Disziplinarordnung stehen, die die oben bereits festgestellten Mängel aufweist, letztlich die Gefahr erhöhen, dass die Disziplinarordnung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen eingesetzt wird.

Viertens hat der Gerichtshof entschieden, dass Polen dadurch, dass es dem Präsidenten der Disziplinarkammer das Ermessen eingeräumt hat, das im ersten Rechtszug zuständige Disziplinargericht in Disziplinarsachen gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu bestimmen, nicht gewährleistet hat, dass solche Rechtssachen von einem „durch Gesetz errichteten“ Gericht entschieden werden, wie es auch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verlangt.

In einem zweiten Schritt hat der Gerichtshof festgestellt, dass Polen dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen hat, dass es zulässt, dass das Recht der Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens eingeschränkt wird. Nationale Bestimmungen, nach denen gegen nationale Richter ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden kann, weil sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet haben, sind nämlich nicht zulässig, da sie die tatsächliche Wahrnehmung der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Befugnis oder Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs durch die betreffenden nationalen Richter sowie das System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beeinträchtigt, das durch die Verträge geschaffen wurde, um die einheitliche Auslegung und die volle Geltung des Unionsrechts zu gewährleisten.


1      Nach Ansicht der Kommission hat Polen gegen seine Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – der die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsieht, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist –, und aus Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV – der für einige nationale Gerichte die Befugnis (Abs. 2) und für andere die Verpflichtung (Abs. 3) vorsieht, ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen –, verstoßen.