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Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzgerichts (Österreich) eingereicht am 3. November 2020 - XO gegen Finanzamt Waldviertel

(Rechtssache C-574/20)

Verfahrenssprache: Deutsch

Vorlegendes Gericht

Bundesfinanzgericht

Parteien des Ausgangsverfahrens

Beschwerdeführerin: XO

Belangte Behörde: Finanzamt Waldviertel

Vorlagefragen

Frage 1, die sich auf die Gültigkeit von Sekundärrecht bezieht:

Sind die Art. 4 und 7 der Verordnung (EG) Nr. 883/20041 in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/20122 geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004, neue Koordinierung oder Grundverordnung) gültig?

Frage 2:

Ist Art. 7 der Verordnung Nr. 883/2004, insbesondere dessen Überschrift „Aufhebung von Wohnortklauseln“, dahingehend auszulegen, dass er das rechtswirksame Zustandekommen der die Indexierung von Familienleistungen an die Kaufkraftverhältnisse im Wohnortstaat regelnden generellen Normen § 8a Familienlastenausgleichsgesetz (FLAG) 1967, § 33 Abs. 3 Ziff. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) 1988 und der Familienbeihilfe-Kinderabsetzbetrag-EU-Anpassungsverordnung insoweit verhindert hat, als damit eine Abwertung der Familienbeihilfe für bestimmte Mitgliedstaaten verbunden ist?

Frage 3:

Ist das in Art. 7 der Verordnung Nr. 883/2004 normierte Kürzungsverbot von Geldleistungen, insbesondere dessen Wortfolge „dürfen Geldleistungen … nicht … gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden“, dahingehend auszulegen, dass leg. cit. das rechtswirksame Zustandekommen der die Indexierung von Familienleistungen an die Kaufkraftverhältnisse im Wohnortstaat regelnden Bestimmungen § 8a Familienlastenausgleichsgesetz (FLAG) 1967 und § 33 Abs. 3 Ziff. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) 1988 insoweit nicht verhindert hat, als die in Rede stehenden Familienleistungen aufzuwerten sind?

Fragen 4 und 5, die sich auf das Gutachten, das der Gesetzesänderung zu Grunde gelegt wurde, beziehen:

Frage 4:

Sind die Art. 7 und 67 der Verordnung Nr. 883/2004 dahingehend auszulegen und solcherart voneinander abzugrenzen, dass Art. 7 den Erzeugungsprozess der Wohnortklausel als generell-abstrakte Norm durch das mitgliedstaatliche Parlament betrifft, wohingegen Art. 67 im konkreten Einzelfall den Erzeugungsprozess der individuell-konkreten Norm anspricht und direkt an den Träger gerichtet ist, wie er sich zunächst nach dem Titel II der Grundverordnung ergeben hat?

Frage 5:

Sind die Art. 67, 68 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 dahingehend auszulegen, dass sie wie ihre Vorgängerbestimmungen Art. 73 und 76 der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 10 der Verordnung Nr. 574/72 gemeinsam anzuwenden und daher nur im Kontext zu verstehen sind und die gemeinsam unter Beachtung des Grundsatzes der Antikumulierung das Ziel verfolgen, dass der Person nicht Ansprüche verloren gehen, was durch die in Art. 68 Abs. 1 und 2 angeordnete Typisierung und Hierarchisierung der beteiligten Mitgliedstaaten und ausdrücklichen Anordnung einer allenfalls gebotenen Zuzahlung des zuständigen Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nachrangig gelten, gewährleistet wird, so dass eine isolierte Auslegung des Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 wie im Gutachten nicht zulässig ist?

Frage 6:

Sind der Begriff der „allgemeinen Geltung“ einer Verordnung und die Wortfolge „Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar“ in Art. 288 Abs. 2 AEUV dahingehend auszulegen, dass sie auch das rechtwirksame Zustande[kommen] der individuellen Normen der zuständigen Träger, die auf die die Indexierung regelnden Normen aufbauen, verhindert haben und der im Ausgangsfall in Beschwerde gezogene Bescheid keine formale Rechtskraft (Bestandskraft) erlangt hat?

Frage 7:

Verstoßen § 53 Abs. 1 FLAG in der Stammfassung des Budgetbegleitgesetzes vom 29. Dezember 2000, BGBl 1142/2000, und § 53 Abs. 4 FLAG in der Stammfassung des Bundesgesetzes vom 4. Dezember 2018, mit dem das Familienlastenausgleichsgesetz 1967, das Einkommensteuergesetz 1988 und das Entwicklungshelfergesetz geändert werden, BGBl I 83/2018, gegen das Umsetzungsverbot von Verordnungen im Sinne des Art. 288 Abs. 2 AEUV?

Fragen 8 bis 12, die gemeinsam zu prüfen sind:

Frage 8:

Ist das Gebot der Inländergleichstellung gemäß Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 bzw. das dahinter stehende Diskriminierungsverbot des Art. 45 Abs. 2 AEUV dahingehend auszulegen, dass diesem nur dann entsprochen wird, wenn der Wanderarbeitnehmer jenem Inländer, der einen Inlandssachverhalt verwirklicht, gleichgestellt wird und dem daher die Familienbeihilfe gemäß § 12 in Verbindung mit §§ 2, 8 FLAG im Voraus mitgeteilt und laufend monatlich im Voraus ausgezahlt wird, oder wird dem Gebot der Inländergleichstellung entsprochen, wenn eine Gleichstellung des Wanderarbeitnehmers mit dem Inländer, der wie er einen zwischenstaatlichen Sachverhalt gemäß § 4 FLAG verwirklicht, gleichgestellt wird, jedoch im zweiten Fall abweichend die Familienbeihilfe gemäß § 4 Abs. 4 FLAG erst jährlich nach Ablauf des Kalenderjahrs für das betreffende Kalenderjahr erhält?

Frage 9:

Ist die in Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 883/2004 angeordnete Aussetzung von Ansprüchen auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags dahingehend auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Antikumulierungsregel wie § 4 Abs. 1 bis 3 FLAG, die Österreich als vorrangig zuständigem Mitgliedstaat in einer Ausgangssituation wie der vorliegenden berechtigt, die Familienbeihilfe um Ansprüche auf „eine gleichartige ausländische Beihilfe“ im anderen Mitgliedstaat zu kürzen, entgegensteht, weil bereits die Unionsnorm die Antikumulierung verhindert hat und die Antikumulierungsregel des § 4 Abs. 1 bis 3 FLAG folglich ins Leere geht?

Frage 10:

Ist die in Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 883/2004 angeordnete Aussetzung von Ansprüchen auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags dahingehend auszulegen, dass der Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften nachrangig gelten und der die Aussetzung der in seinen Rechtsvorschriften vorgesehenen Familienleistungen aufgrund der unionsrechtlichen Anordnung zu befolgen hat, verbunden ist, einen Antrag des Wanderarbeitnehmers oder eines Familienangehörigen oder sonst nach den mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften berechtigten Person abweislich zu entscheiden und die Familienleistung bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags selbst dann nicht zu gewähren, wenn eine rein mitgliedstaatliche Betrachtung – allenfalls aufgrund einer alternativen Rechtsgrundlage – die Bewilligung zuließe?

Frage 11:

Im Fall der Bejahung von Frage 10 stellt sich die Frage, ob der Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften nachrangig gelten und der die Aussetzung der in seinen Rechtsvorschriften vorgesehenen Familienleistungen aufgrund der unionsrechtlichen Anordnung zu befolgen hat, jedoch den Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen mangels Höhe nicht schuldet, einen Antrag mit der Begründung abzuweisen hätte, dass die Aussetzung des Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 88[3]/2004 einer Gewährung von Familienbeihilfenansprüchen entgegenstehe?

Frage 12:

Ist Art. 68 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 883/2004 dahingehend auszulegen, dass das Formular E411 der Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer in seinen Punkten 6 und 7, die von jenem Mitgliedstaat auszufüllen sind, dessen Rechtsvorschriften nachrangig gelten, dem Informationsbedürfnis des Mitgliedstaates, dessen Rechtsvorschriften vorrangig gelten, in einer Situation wie im Ausgangsfall nicht mehr entspricht, weil der vorrangig zuständige Mitgliedstaat die Information vom anderen Mitgliedstaat im Sinne der Fragen 10 und 11 benötigt, dass dieser die Aussetzung des Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 883/2004 vollzieht, wodurch sich eine Auseinandersetzung mit der mitgliedstaatlichen Rechtlage, zu der auch Verdienstgrenzen gehören, erübrigt?

Frage 13:

Ist die vom [Gerichtshof] in ständiger Rechtsprechung auf Grundlage des Loyalitätsprinzips gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV entwickelte Rechtsbereinigungspflicht dahingehend zu verstehen, dass sie auch vom Verfassungsgerichtshof aufgrund eines Antrags des Vorlagegerichts wahrgenommen werden könnte?

Frage 14:

Ist Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV über die Frage nach der Gültigkeit von Sekundärrecht, die selbst für ein zwischeninstanzliches Vorlagegericht obligatorisch ist, und die mit der Gültigkeitsfrage verbundene Verpflichtung des Vorlagegerichts, die Anwendung gültigen Unionsrechts durch Erlass einer mit Beschluss getroffenen vorläufigen Anordnung zu gewährleisten, mit dem aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts die Revision nicht zugelassen wurde, dahingehend auszulegen, dass es mitgliedstaatlichen Normen wie Art. 133 Abs. 4 und 9 B-VG in Verbindung mit § 25a Abs. 1 bis 3 VwGG, § 30a Abs. 7 VwGG, die den Parteien des zu Grunde liegenden Verwaltungsverfahrens gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts innerstaatlich die Rechtsschutzkontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof in Form der außerordentlichen Revision einräumt, entgegensteht?

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1     Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1).

2     Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (ABl. 2012, L 149, S. 4).