Language of document : ECLI:EU:T:2015:133

Rechtssache T‑496/11

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland

gegen

Europäische Zentralbank (EZB)

„Wirtschafts- und Währungspolitik – EZB – Nichtigkeitsklage – Rahmen für die Überwachungspolitik des Eurosystems – Anfechtbare Handlung – Zulässigkeit – Überwachung von Zahlungs- und Wertpapierabwicklungssystemen – Erfordernis eines Standorts in einem Mitgliedstaat des Eurosystems für Clearingsysteme mit zentraler Gegenpartei – Zuständigkeit der EZB“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 4. März 2015

1.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Handlungen, die Rechtswirkungen entfalten sollen – Von der Europäischen Zentralbank veröffentlichter Überwachungsrahmen, mit dem ein Standorterfordernis für zentrale Gegenparteien vorgeschrieben wird, die für das Clearing von Transaktionen mit Wertpapieren vorgesehen sind – Einbeziehung

(Art. 263 AEUV)

2.      Nichtigkeitsklage – Klage gegen einen Rechtsakt, durch den ein früherer, nicht fristgerecht angefochtener Rechtsakt bestätigt wird – Unzulässigkeit – Begriff des bestätigenden Rechtsakts – Rechtsakt, mit dem eine Bestimmung eines früheren Rechtsakts geändert wird – Nichteinbeziehung

(Art. 263 AEUV)

3.      Nichtigkeitsklage – Klage der Mitgliedstaaten – Klage gegen einen Rechtsakt der Europäischen Zentralbank – Zulässigkeit unabhängig vom Nachweis eines Rechtsschutzinteresses – Nichtteilnahme des betreffenden Mitgliedstaats an bestimmten Aspekten der Wirtschafts- und Währungsunion – Keine Auswirkung

(Art. 263 Abs. 2 und 4 AEUV; Protokolle Nrn. 4 und 15 zum EU-Vertrag und zum AEU-Vertrag)

4.      Europäische Zentralbank – Zuständigkeiten des Europäischen Zentralbanksystems – Förderung des reibungslosen Funktionierens der Zahlungssysteme – Erlass eines Überwachungsrahmens für Clearingsysteme für Wertpapiere – Nichteinbeziehung

(Art. 127 Abs. 2 AEUV; Protokoll Nr. 4 zum EU-Vertrag und zum AEU-Vertrag, Art. 22)

5.      Europäische Union – Begrenzte Ermächtigungen – Implizite Ermächtigung – Voraussetzungen – Implizite Zuständigkeit der Europäischen Zentralbank für die Regulierung von Wertpapierclearingsystemen – Fehlen

(Art. 13 Abs. 2 EUV und Art. 48 EUV; Art. 129 Abs. 3 AEUV; Protokoll Nr. 4 zum EU-Vertrag und zum AEU-Vertrag, Art. 22)

1.      Ein von der Europäischen Zentralbank veröffentlichter Rahmen für die Überwachungspolitik des Eurosystems (im Folgenden: Überwachungsrahmen), mit dem ein Standorterfordernis festgelegt wird, das auf zentrale Gegenparteien Anwendung findet, die in Mitgliedstaaten ansässig sind, die nicht am Eurosystem teilnehmen, ist eine Handlung, die Gegenstand einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV sein kann.

In die Prüfung, ob eine Handlung geeignet ist, Rechtswirkungen zu erzeugen, und folglich Gegenstand einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV sein kann, sind nämlich ihr Wortlaut und der Kontext, in dem sie steht, ihr Wesen sowie die Absicht ihres Urhebers einzubeziehen. Was erstens den Wortlaut und den Kontext betrifft, in dem die angefochtene Handlung steht, ermöglicht diese Prüfung die Beurteilung, wie die fragliche Handlung von den Betroffenen vernünftigerweise wahrgenommen werden konnte. Insoweit verwendet die Passage des außerhalb des internen Bereichs der Europäischen Zentralbank öffentlich gemachten Überwachungsrahmens, die sich auf den Standort der zentralen Gegenparteien bezieht, die für das Clearing von Transaktionen mit Wertpapieren vorgesehen sind, eine Formulierung, die ihrer Art nach zwingend ist, und ist besonders präzise abgefasst, was ihre Anwendung erleichtert. Soweit zudem die Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten des Euroraums zu dem Schluss gelangen könnten, gehalten zu sein, für die Einhaltung des im Überwachungsrahmen enthaltenen Standorterfordernisses zu sorgen, könnte einer zentralen Gegenpartei, die die in dem Überwachungsrahmen genannten Kriterien nicht erfüllt, der Zugang zu den anderen Akteuren, die an der Wertpapiertransaktionskette beteiligt sind, entzogen werden.

Was zweitens das Wesen des Überwachungsrahmens betrifft, kommt die Aufstellung eines Erfordernisses, wonach zentrale Gegenparteien, deren Tätigkeit oberhalb der im Überwachungsrahmen festgelegten Schwellenwerte liegt, innerhalb des Euroraums ansässig sein müssen, der Hinzufügung einer neuen Regel zur Rechtsordnung gleich, weil ein solches Erfordernis in keiner bereits bestehenden Rechtsnorm vorkommt. Was drittens die von der Europäischen Zentralbank beim Erlass des Überwachungsrahmens verfolgte Absicht betrifft, soll dieser Überwachungsrahmen zentrale Gegenparteien, deren Tätigkeit die in ihm festgelegten Schwellenwerte überschreitet, zur Einhaltung eines Standorterfordernisses verpflichten und stellt folglich – mangels gegenläufiger Anhaltspunkte in seinem Text – den endgültigen Standpunkt der Europäischen Zentralbank dar.

(vgl. Rn. 31, 32, 34, 37, 39, 45, 48, 50, 51, 53, 54)

2.      Eine Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung, durch die eine frühere, nicht fristgerecht angefochtene Entscheidung lediglich bestätigt wird, ist unzulässig. Allerdings bestätigt eine Entscheidung nur dann lediglich eine frühere Entscheidung, wenn sie kein neues Element gegenüber der früheren Handlung enthält und ihr keine erneute Prüfung der Lage des Adressaten dieser früheren Handlung vorausgegangen ist. Wird insoweit eine Bestimmung einer Verordnung geändert, wird die Klagemöglichkeit wieder eröffnet, und zwar nicht nur gegen diese Bestimmung allein, sondern gegen alle Bestimmungen, die, auch wenn sie nicht geändert worden sind, mit ihr eine Einheit bilden.

Für eine Klage gegen einen von der Europäischen Zentralbank veröffentlichten Überwachungsrahmen, mit dem ein Standorterfordernis festgelegt wird, das auf zentrale Gegenparteien Anwendung findet, die in Mitgliedstaaten ansässig sind, die nicht am Eurosystem teilnehmen, bedeutet somit der Umstand, dass die Europäische Zentralbank in früheren Handlungen möglicherweise den Grundsatz einer Standortpolitik zum Ausdruck gebracht hat, die auf zentrale Gegenparteien Anwendung finden könnte, nicht, dass der Überwachungsrahmen als bestätigende Handlung eingestuft wird, da die in Rede stehende Standortpolitik dort in einer veränderten Form vorkommt.

(vgl. Rn. 59-62)

3.      In seiner Eigenschaft als Mitgliedstaat ist das Vereinigte Königreich aufgrund von Art. 263 Abs. 2 AEUV befugt, gegen Handlungen der Europäischen Zentralbank zu klagen, ohne den Voraussetzungen von Art. 263 Abs. 4 AEUV zu unterliegen. Auch wenn gemäß dem Protokoll Nr. 15 zum AEU-Vertrag über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland bestimmte Vorschriften des AEU-Vertrags und des Protokolls Nr. 4 zum AEU-Vertrag über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken für das Vereinigte Königreich nicht gelten, ist es berechtigt, eine Klage zu erheben, um durch den Unionsrichter prüfen zu lassen, dass die Europäische Zentralbank ihre Befugnisse nicht überschritten hat.

(vgl. Rn. 73, 75)

4.      Die Europäische Zentralbank verfügt nicht über die erforderliche Befugnis, um die Tätigkeit von Clearingsystemen für Wertpapiere zu regulieren, so dass ein Überwachungsrahmen, mit dem den zentralen Gegenparteien, die am Wertpapierclearing beteiligt sind, das Erfordernis eines Standorts innerhalb des Euroraums auferlegt wird, wegen Unzuständigkeit für nichtig zu erklären ist.

Art. 22 des Protokolls Nr. 4 zum AEU-Vertrag sieht vor, dass die Bank Verordnungen erlassen kann, um effiziente und zuverlässige Verrechnungs- und Zahlungssysteme innerhalb der Union und im Verkehr mit dritten Ländern zu gewährleisten; diese Befugnis ist eines der Mittel, die der Bank zur Verfügung stehen, um die Aufgabe zu erfüllen, mit der Art. 127 Abs. 2 AEUV das Eurosystem betraut, nämlich das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme zu fördern. Allerdings fällt ein „Zahlungssystem“ im Sinne von Art. 127 Abs. 2 AEUV in den Bereich des Transfers von Geldmitteln. Folglich lässt sich unter eine solche Definition zwar die „Geldseite“ von Clearingoperationen subsumieren, nicht aber die „Wertpapierseite“ von Clearingoperationen einer zentralen Gegenpartei, da Wertpapiere, obgleich sie als Gegenstand einer einen Transfer von Geldmitteln auslösenden Transaktion gewertet werden können, für sich genommen keine Zahlungen darstellen. Eine entsprechende Schlussfolgerung gilt auch für den in Art. 22 des Protokolls Nr. 4 zum AEU-Vertrag verwendeten Ausdruck „Verrechnungs- und Zahlungssysteme“.

Daraus folgt zwangsläufig, dass die der Europäischen Zentralbank mit Art. 22 des Protokolls Nr. 4 zum AEU-Vertrag eingeräumte Möglichkeit, Verordnungen zu erlassen, als ausschließlich auf Zahlungsclearingsysteme beschränkt angesehen werden muss. Demzufolge ist – mangels einer ausdrücklichen Bezugnahme auf das Wertpapierclearing in Art. 22 des Protokolls Nr. 4 zum AEU-Vertrag – festzustellen, dass mit der Wahl des Ausdrucks „Verrechnungs- und Zahlungssysteme“ hervorgehoben werden sollte, dass die Europäische Zentralbank über die Befugnis verfügt, Verordnungen zu erlassen, um effiziente und zuverlässige Zahlungssysteme, darunter auch solche, die eine Clearingphase einschließen, zu gewährleisten, ohne dass ihr eine eigenständige Regulierungsbefugnis für sämtliche Clearingsysteme verliehen werden sollte.

(vgl. Rn. 88, 89, 97-101, 110)

5.      Weist ein Artikel des Vertrags einem Organ eine bestimmte Aufgabe zu, so ist davon auszugehen, dass er ihm damit auch die zur Erfüllung dieser Aufgabe unerlässlichen Befugnisse verleiht, andernfalls würde dieser Bestimmung jede praktische Wirksamkeit genommen Ob eine implizite Rechtsetzungsbefugnis vorliegt, ist jedoch anhand eines strengen Prüfungsmaßstabs zu beurteilen, da eine solche Befugnis eine Ausnahme vom Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung im Sinne von Art. 13 Abs. 2 EUV darstellt. Solche impliziten Befugnisse werden nur ausnahmsweise von der Rechtsprechung anerkannt und nur unter der Voraussetzung, dass sie notwendig sind, um die praktische Wirksamkeit der Bestimmungen des betroffenen Vertrags oder der betroffenen Grundverordnung sicherzustellen.

Insoweit bestehen zwar zwischen den Zahlungssystemen und den Wertpapierclearingsystemen enge Verbindungen, und Störungen, die die Wertpapierclearingsysteme betreffen, können sich auf die Zahlungssysteme auswirken und deren reibungsloses Funktionieren beeinträchtigen; diese Verbindungen genügen jedoch nicht, um es zu rechtfertigen, dass der Europäischen Zentralbank implizite Befugnisse zur Regulierung von Wertpapierclearingsystemen zuerkannt werden, da der AEU-Vertrag die Möglichkeit vorsieht, dass der Bank solche Befugnisse ausdrücklich übertragen werden. Art. 129 Abs. 3 AEUV sieht nämlich für bestimmte Vorschriften des Protokolls Nr. 4 zum AEU-Vertrag, darunter seinen Art. 22, ein vereinfachtes Änderungsverfahren vor, das von dem des Art. 48 EUV abweicht.

(vgl. Rn. 104-108)