Language of document : ECLI:EU:C:2018:557

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

11. Juli 2018(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Übereinkommen von Montego Bay – Art. 220 Abs. 6 – Durchsetzungsbefugnisse eines Küstenstaats – Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung von Bestimmungen des Völkerrechts – Richtlinie 2005/35/EG – Meeresverschmutzung durch Schiffe – Art. 7 Abs. 2 – Marpol‑Übereinkommen 73/78 – Öleinleitung in der ausschließlichen Wirtschaftszone durch ein auf der Durchfahrt befindliches fremdes Schiff – Voraussetzungen für die Einleitung eines Verfahrens gegen ein fremdes Schiff durch einen Küstenstaat – Freiheit der Schifffahrt – Schutz der Meeresumwelt – Schwere Schäden oder drohende schwere Schäden für die Küste, für damit zusammenhängende Interessen oder für Ressourcen des Küstenmeers oder der ausschließlichen Wirtschaftszone – Eindeutiger objektiver Beweis“

In der Rechtssache C‑15/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) mit Entscheidung vom 12. Dezember 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Januar 2017, in dem Verfahren

Bosphorus Queen Shipping Ltd Corp.

gegen

Rajavartiolaitos

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter J. Malenovský (Berichterstatter), M. Safjan, D. Šváby und M. Vilaras,

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Bosphorus Queen Shipping Ltd Corp., vertreten durch P. Karhu, asianajaja,

–        der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski als Bevollmächtigten,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch J. Van Holm, C. Van Lul und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,

–        der hellenischen Regierung, vertreten durch G. Karipsiadis, K. Georgiadis, M. Stellakatos, E. Tsaousi und E. Skalieri als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch B. Fodda und D. Colas als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch C. S. Schillemans und M. Bulterman als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Nicolae, A. Bouquet, E. Paasivirta und P. Aalto als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. Februar 2018

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 220 Abs. 6 des am 10. Dezember 1982 in Montego Bay unterzeichneten Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (United Nations Treaty Series, Bd. 1833, 1834 und 1835, S. 3, im Folgenden: Übereinkommen von Montego Bay) und von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen, einschließlich strafrechtlicher Sanktionen, für Verschmutzungsdelikte (ABl. 2005, L 255, S. 11) in der durch die Richtlinie 2009/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 (ABl. 2009, L 280, S. 52) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2005/35).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bosphorus Queen Shipping Ltd Corp. (im Folgenden: Bosphorus), der Eigentümergesellschaft des in Panama registrierten Trockenfrachtschiffs Bosphorus Queen, und dem Rajavartiolaitos (Grenzschutzbehörde, Finnland) über ein von ihm wegen des Einleitens von Öl durch dieses Schiff in der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) Finnlands gegen diese Gesellschaft verhängtes Bußgeld.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

 Übereinkommen über Maßnahmen auf Hoher See von 1969

3        Das Internationale Übereinkommen über Maßnahmen auf Hoher See bei Ölverschmutzungs-Unfällen wurde am 29. November 1969 in Brüssel geschlossen (United Nations Treaty Series, Bd. 970, S. 211, im Folgenden: Übereinkommen über Maßnahmen auf Hoher See von 1969). Die Union sowie mehrere ihrer Mitgliedstaaten sind keine Vertragsparteien dieses Übereinkommens, wohl aber die Republik Finnland und Panama.

4        Art. I Abs. 1 des Übereinkommens lautet: „Die Vertragsparteien dieses Übereinkommens können die erforderlichen Maßnahmen auf Hoher See zur Verhütung, Verringerung oder Beseitigung unmittelbarer ernster Gefahren treffen, die für ihre Küsten oder verwandte Interessen aus einer tatsächlichen oder drohenden Verschmutzung der See durch Öl infolge eines Seeunfalls oder damit verbundener Handlungen erwachsen, welche aller Wahrscheinlichkeit nach schwerwiegende schädliche Auswirkungen haben werden.“

5        Art. II Nr. 4 des Übereinkommens über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 bestimmt:

„Im Sinne dieses Übereinkommens haben die nachstehenden Ausdrücke folgende Bedeutung:

4.      ‚verwandte Interessen‘ bedeutet die Interessen eines Küstenstaats, die von dem Seeunfall unmittelbar betroffen oder bedroht sind, zum Beispiel

a)      mit der See verbundene Tätigkeiten in Küsten, Hafen-, oder Mündungsgebieten einschließlich der Fischerei, soweit sie ein wesentliches Mittel zum Lebensunterhalt der betroffenen Personen darstellen;

b)      touristische Anziehungspunkte in dem betroffenen Gebiet;

c)      die Gesundheit der Küstenbevölkerung und das Wohl des betroffenen Gebiets einschließlich der Erhaltung der lebenden Schätze des Meeres sowie der Tier- und Pflanzenwelt“.

 Marpol-Übereinkommen 73/78

6        Mit dem am 2. November 1973 in London unterzeichneten und durch das Protokoll vom 17. Februar 1978 ergänzten Internationalen Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe (im Folgenden: Marpol-Übereinkommen 73/78) wurden Regeln zur Verhütung von und zum Schutz vor Meeresverschmutzung aufgestellt.

7        Die Union ist keine Vertragspartei dieses Übereinkommens. Die Republik Finnland ist hingegen, wie alle übrigen Mitgliedstaaten der Union, Vertragspartei.

8        Die Regeln zur Verhütung der Verschmutzung durch Öl sind in der Anlage I zum Marpol-Übereinkommen 73/78 enthalten.

9        In Regel 1 Nr. 11 der Anlage I zum Übereinkommen wird das Sondergebiet definiert als „ein Meeresgebiet, in dem aus anerkannten technischen Gründen im Zusammenhang mit seinem ozeanografischen und ökologischen Zustand und der besonderen Natur seines Verkehrs die Annahme besonderer obligatorischer Methoden zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Öl erforderlich ist“. Im Sinne dieser Anlage gehört das Ostseegebiet, das die eigentliche Ostsee mit dem Bottnischen Meerbusen, dem Finnischen Meerbusen und dem im Skagerrak durch den Breitengrad von Skagen auf 57°44,8’N begrenzten Eingang zur Ostsee umfasst, zu den Sondergebieten.

10      Regel 15 in Teil C („Überwachung des Einleitens von Öl im Schiffsbetrieb“) der Anlage I zum Übereinkommen sieht vor:

„(1)      Vorbehaltlich der Regel 4 und der Absätze 2, 3 und 6 ist jedes Einleiten von Öl oder ölhaltigen Gemischen ins Meer aus Schiffen verboten.

B      Einleiten innerhalb von Sondergebieten

(3)      Jedes Einleiten von Öl oder ölhaltigen Gemischen ins Meer aus Schiffen mit einer Bruttoraumzahl von 400 und mehr ist verboten, es sei denn, dass alle nachstehenden Bedingungen erfüllt sind:

.1      das Schiff ist in Fahrt;

.2      das ölhaltige Gemisch wird in der Ölfilteranlage, die den Anforderungen der Regel 14 Absatz 7 entspricht, behandelt;

.3      der Ölgehalt des Ausflusses ohne Verdünnung beträgt nicht mehr als 15 Anteile je Million (ppm);

.4      das ölhaltige Gemisch stammt nicht aus den Bilgen von Ladepumpenräumen auf Öltankschiffen und

.5      bei Öltankschiffen ist das ölhaltige Gemisch nicht mit Ölladungsrückständen vermischt.“

 Übereinkommen von Montego Bay

11      Das Übereinkommen von Montego Bay ist am 16. November 1994 in Kraft getreten. Es wurde mit dem Beschluss 98/392/EG des Rates vom 23. März 1998 (ABl. 1998, L 179, S. 1) im Namen der Europäischen Union genehmigt.

12      Nach Art. 1 des Übereinkommens

„1.      bedeutet ‚Gebiet‘ den Meeresboden und den Meeresuntergrund jenseits der Grenzen des Bereichs nationaler Hoheitsbefugnisse;

4.      bedeutet ‚Verschmutzung der Meeresumwelt‘ die unmittelbare oder mittelbare Zuführung von Stoffen oder Energie durch den Menschen in die Meeresumwelt einschließlich der Flussmündungen, aus der sich abträgliche Wirkungen wie eine Schädigung der lebenden Ressourcen sowie der Tier- und Pflanzenwelt des Meeres, eine Gefährdung der menschlichen Gesundheit, eine Behinderung der maritimen Tätigkeiten einschließlich der Fischerei und der sonstigen rechtmäßigen Nutzung des Meeres, eine Beeinträchtigung des Gebrauchswerts des Meerwassers und eine Verringerung der Annehmlichkeiten der Umwelt ergeben oder ergeben können;

…“

13      Art. 56 („Rechte, Hoheitsbefugnisse und Pflichten des Küstenstaats in der [AWZ]“) des Übereinkommens sieht vor:

„(1)      In der [AWZ] hat der Küstenstaat

a)      souveräne Rechte zum Zweck der Erforschung und Ausbeutung, Erhaltung und Bewirtschaftung der lebenden und nichtlebenden natürlichen Ressourcen der Gewässer über dem Meeresboden, des Meeresbodens und seines Untergrunds sowie hinsichtlich anderer Tätigkeiten zur wirtschaftlichen Erforschung und Ausbeutung der Zone wie der Energieerzeugung aus Wasser, Strömung und Wind;

b)      Hoheitsbefugnisse, wie in den diesbezüglichen Bestimmungen dieses Übereinkommens vorgesehen, in Bezug auf

i)      die Errichtung und Nutzung von künstlichen Inseln, von Anlagen und Bauwerken;

ii)      die wissenschaftliche Meeresforschung;

iii)      den Schutz und die Bewahrung der Meeresumwelt;

c)      andere in diesem Übereinkommen vorgesehene Rechte und Pflichten.“

14      Art. 58 („Rechte und Pflichten anderer Staaten in der [AWZ]“) des Übereinkommens von Montego Bay bestimmt:

„(1)      Alle Staaten, ob Küsten- oder Binnenstaaten, genießen in der [AWZ] vorbehaltlich der diesbezüglichen Bestimmungen dieses Übereinkommens die in Artikel 87 genannten Freiheiten der Schifffahrt, des Überflugs und der Verlegung unterseeischer Kabel und Rohrleitungen sowie andere völkerrechtlich zulässige, mit diesen Freiheiten zusammenhängende Nutzungen des Meeres, insbesondere im Rahmen des Einsatzes von Schiffen und Luftfahrzeugen sowie des Betriebs unterseeischer Kabel und Rohrleitungen, die mit den anderen Bestimmungen des Übereinkommens vereinbar sind.

(2)      Die Artikel 88 bis 115 und sonstige diesbezügliche Regeln des Völkerrechts gelten für die [AWZ], soweit sie mit diesem Teil nicht unvereinbar sind.

(3)      Die Staaten berücksichtigen bei der Ausübung ihrer Rechte und der Erfüllung ihrer Pflichten aus diesem Übereinkommen in der [AWZ] gebührend die Rechte und Pflichten des Küstenstaats und halten die von ihm in Übereinstimmung mit dem Übereinkommen und den sonstigen Regeln des Völkerrechts erlassenen Gesetze und sonstigen Vorschriften ein, soweit sie mit diesem Teil nicht unvereinbar sind.“

15      Art. 61 („Erhaltung der lebenden Ressourcen“) des Übereinkommens sieht in den Abs. 1 bis 4 vor:

„(1)      Der Küstenstaat legt die zulässige Fangmenge für die lebenden Ressourcen in seiner [AWZ] fest.

(2)      Der Küstenstaat sorgt unter Berücksichtigung der besten ihm zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Angaben durch geeignete Erhaltungs- und Bewirtschaftungsmaßnahmen dafür, dass der Fortbestand der lebenden Ressourcen in der [AWZ] nicht durch übermäßige Ausbeutung gefährdet wird. Zur Erreichung dieses Zieles arbeiten der Küstenstaat und die zuständigen internationalen Organisationen, gleichviel ob subregionaler, regionaler oder weltweiter Art, soweit angemessen, zusammen.

(3)      Diese Maßnahmen müssen auch darauf gerichtet sein, die Populationen befischter Arten auf einem Stand zu erhalten oder auf diesen zurückzuführen, der den größtmöglich erreichbaren Dauerertrag sichert, wie er sich im Hinblick auf die in Betracht kommenden Umwelt- und Wirtschaftsfaktoren, einschließlich der wirtschaftlichen Bedürfnisse der vom Fischfang lebenden Küstengemeinden und der besonderen Bedürfnisse der Entwicklungsstaaten, ergibt, wobei die Fischereistrukturen, die gegenseitige Abhängigkeit der Bestände sowie alle allgemein empfohlenen internationalen Mindestnormen, gleichviel ob subregionaler, regionaler oder weltweiter Art, zu berücksichtigen sind.

(4)      Beim Ergreifen dieser Maßnahmen berücksichtigt der Küstenstaat die Wirkung auf jene Arten, die mit den befischten Arten vergesellschaftet oder von ihnen abhängig sind, um die Populationen dieser vergesellschafteten oder abhängigen Arten über einem Stand zu erhalten oder auf diesen zurückzuführen, auf dem ihre Fortpflanzung nicht ernstlich gefährdet wird.“

16      Art. 194 Abs. 5 des Übereinkommens lautet:

„Zu den in Übereinstimmung mit diesem Teil ergriffenen Maßnahmen gehören die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz und zur Bewahrung seltener oder empfindlicher Ökosysteme sowie des Lebensraums gefährdeter, bedrohter oder vom Aussterben bedrohter Arten und anderer Formen der Tier- und Pflanzenwelt des Meeres.“

17      Art. 211 („Verschmutzung durch Schiffe“) des Übereinkommens bestimmt in den Abs. 1 und 7:

„(1)      Die Staaten stellen im Rahmen der zuständigen internationalen Organisation oder einer allgemeinen diplomatischen Konferenz internationale Regeln und Normen zur Verhütung, Verringerung und Überwachung der Verschmutzung der Meeresumwelt durch Schiffe auf und fördern, wo es angebracht ist in derselben Weise, die Annahme von Systemen der Schiffswegeführung, um die Gefahr von Unfällen, die eine Verschmutzung der Meeresumwelt, einschließlich der Küste, und eine Schädigung damit zusammenhängender Interessen der Küstenstaaten durch Verschmutzung verursachen könnten, auf ein Mindestmaß zu beschränken. Diese Regeln und Normen werden in derselben Weise nach Bedarf von Zeit zu Zeit überprüft.

(7)      Die in diesem Artikel genannten internationalen Regeln und Normen sollen unter anderem die Verpflichtung vorsehen, die Küstenstaaten umgehend zu benachrichtigen, deren Küsten oder damit zusammenhängende Interessen möglicherweise durch Ereignisse einschließlich Seeunfälle beeinträchtigt werden, bei denen es zu einem Einleiten kommt oder kommen könnte.“

18      In den Abs. 3 bis 6 von Art. 220 („Durchsetzung durch Küstenstaaten“) sind die Befugnistatbestände festgelegt, auf deren Grundlage ein Küstenstaat Maßnahmen gegen ein Schiff ergreifen kann, das in seiner AWZ gegen internationale Regeln und Normen über die Meeresverschmutzung durch Schiffe verstoßen hat. Diese Absätze lauten:

„(3)      Bestehen eindeutige Gründe für die Annahme, dass ein in der [AWZ] oder im Küstenmeer eines Staates fahrendes Schiff in der [AWZ] gegen anwendbare internationale Regeln und Normen zur Verhütung, Verringerung und Überwachung der Verschmutzung durch Schiffe oder gegen die solchen Regeln und Normen entsprechenden und ihnen Wirksamkeit verleihenden Gesetze und sonstigen Vorschriften dieses Staates verstoßen hat, so kann dieser Staat das Schiff auffordern, Angaben über seine Identität und seinen Registerhafen, seinen letzten und nächsten Anlaufhafen und andere sachdienliche Angaben zu machen, die erforderlich sind, um festzustellen, ob ein Verstoß erfolgt ist.

(4)      Die Staaten erlassen Gesetze und sonstige Vorschriften und ergreifen andere Maßnahmen, damit ihre Flagge führende Schiffe den Ersuchen um Angaben nach Absatz 3 entsprechen.

(5)      Bestehen eindeutige Gründe für die Annahme, dass ein in der [AWZ] oder im Küstenmeer eines Staates fahrendes Schiff in der [AWZ] einen in Absatz 3 genannten Verstoß begangen hat, der zu einem beträchtlichen Einleiten führt, das eine erhebliche Verschmutzung der Meeresumwelt verursacht oder zu verursachen droht, so kann dieser Staat, um festzustellen, ob ein Verstoß vorliegt, eine Überprüfung an Bord des Schiffes durchführen, wenn sich das Schiff geweigert hat, Angaben zu machen, oder wenn die seitens des Schiffes gemachten Angaben offensichtlich von der tatsächlichen Lage abweichen und die Umstände des Falles eine solche Überprüfung rechtfertigen.

(6)      Gibt es einen eindeutigen objektiven Beweis dafür, dass ein in der [AWZ] oder im Küstenmeer eines Staates fahrendes Schiff in der [AWZ] einen in Absatz 3 genannten Verstoß begangen hat, der zu einem Einleiten führt, das schwere Schäden für die Küste oder damit zusammenhängende Interessen des Küstenstaats oder für Ressourcen seines Küstenmeers oder seiner [AWZ] verursacht oder zu verursachen droht, so kann dieser Staat, wenn die Beweislage dies rechtfertigt, in Übereinstimmung mit seinem innerstaatlichen Recht und vorbehaltlich des Abschnitts 7 ein Verfahren einleiten und insbesondere das Zurückhalten des Schiffes anordnen.“

19      Art. 221 („Maßnahmen zur Vermeidung von Verschmutzung durch Seeunfälle“) des Übereinkommens bestimmt:

„(1)      Dieser Teil berührt nicht das Recht der Staaten, nach Völkergewohnheitsrecht und aufgrund völkerrechtlicher Verträge außerhalb des Küstenmeers dem tatsächlichen oder drohenden Schaden angepasste Maßnahmen zu ergreifen und durchzusetzen, um ihre Küste oder damit zusammenhängende Interessen, einschließlich der Fischerei, vor tatsächlicher oder drohender Verschmutzung infolge eines Seeunfalls oder damit zusammenhängender Handlung zu schützen, welche erwartungsgemäß schädliche Folgen größeren Umfangs haben können.

(2)      Im Sinne dieses Artikels bedeutet ‚Seeunfall‘ einen Schiffszusammenstoß, das Stranden, ein sonstiges mit der Führung eines Schiffes zusammenhängendes Ereignis oder einen anderen Vorfall an Bord oder außerhalb eines Schiffes, durch die Sachschaden an Schiff oder Ladung entsteht oder unmittelbar zu entstehen droht.“

20      Art. 237 („Verpflichtungen aufgrund anderer Übereinkünfte über den Schutz und die Bewahrung der Meeresumwelt“) des Übereinkommens sieht vor:

„(1)      Dieser Teil berührt weder die bestimmten Verpflichtungen, die Staaten aufgrund früher geschlossener besonderer Übereinkommen und Abkommen über den Schutz und die Bewahrung der Meeresumwelt übernommen haben, noch Übereinkünfte, die zur Ausgestaltung der in diesem Übereinkommen enthaltenen allgemeinen Grundsätze geschlossen werden können.

(2)      Die von den Staaten aufgrund besonderer Übereinkünfte übernommenen bestimmten Verpflichtungen hinsichtlich des Schutzes und der Bewahrung der Meeresumwelt sollen in einer Weise erfüllt werden, die mit den allgemeinen Grundsätzen und Zielen dieses Übereinkommens vereinbar ist.“

 Wiener Übereinkommen

21      Das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331, im Folgenden: Wiener Übereinkommen) wurde am 23. Mai 1969 in Wien geschlossen.

22      In Art. 31 („Allgemeine Auslegungsregel“) des Wiener Übereinkommens heißt es:

„(1)      Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.

(3)      Außer dem Zusammenhang sind in gleicher Weise zu berücksichtigen

c)      jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz.

…“

23      Art. 32 („Ergänzende Auslegungsmittel“) des Übereinkommens lautet:

„Ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses, können herangezogen werden, um die sich unter Anwendung des Artikels 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Artikel 31

a)      die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder

b)      zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt.“

 Unionsrecht

24      Die Erwägungsgründe 1 bis 4 und 12 der Richtlinie 2005/35 lauten:

„(1)      Die Politik der Gemeinschaft im Bereich der Sicherheit des Seeverkehrs zielt auf ein hohes Sicherheits- und Umweltschutzniveau ab; sie beruht auf der Grundauffassung, dass alle an der Beförderung von Gütern auf See Beteiligten Verantwortung dafür tragen, dass die in den Gewässern der Gemeinschaft verkehrenden Schiffe die geltenden Vorschriften und Normen einhalten.

(2)      Die wesentlichen Normen für die von Schiffen ausgehenden Einleitungen von Schadstoffen stützen sich in allen Mitgliedstaaten auf das Marpol-Übereinkommen 73/78. Diese Regeln werden jedoch tagtäglich von zahlreichen in den Gemeinschaftsgewässern verkehrenden Schiffen übertreten, ohne dass dagegen Maßnahmen getroffen werden.

(3)      Da das Marpol-Übereinkommen 73/78 von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich umgesetzt wurde, ist eine Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene erforderlich. Erhebliche Unterschiede gibt es insbesondere bei der Praxis der Mitgliedstaaten zur Verhängung von Sanktionen für die von Schiffen ausgehenden Einleitungen von Schadstoffen.

(4)      Abschreckende Maßnahmen sind mit der Politik der Gemeinschaft im Bereich der Sicherheit des Seeverkehrs untrennbar verbunden, da sie einen Zusammenhang zwischen der Verantwortung aller an der Beförderung umweltbelastender Güter auf See Beteiligten und den drohenden Sanktionen herstellen. Im Hinblick auf einen effizienten Schutz der Umwelt bedarf es daher wirksamer, abschreckender und verhältnismäßiger Sanktionen.

(12)      Wenn ein klarer, objektiver Beweis dafür vorliegt, dass eine Einleitung einen größeren Schaden verursacht oder einen größeren Schaden zu verursachen droht, sollten die Mitgliedstaaten ihre zuständigen Behörden mit der Angelegenheit im Hinblick auf die Einleitung eines Verfahrens befassen, das im Einklang mit Artikel 220 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen von 1982 steht.“

25      Art. 1 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Ziel dieser Richtlinie ist es, die internationalen Standards für die Meeresverschmutzung durch Schiffe in das Gemeinschaftsrecht zu übernehmen und sicherzustellen, dass gegen Personen, die für Einleitungen von Schadstoffen verantwortlich sind, angemessene Sanktionen, einschließlich strafrechtlicher Sanktionen, verhängt werden, um die Sicherheit des Seeverkehrs zu erhöhen und den Schutz der Meeresumwelt vor der Verschmutzung durch Schiffe zu verstärken.

(2)      Diese Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, strengere Maßnahmen gegen die Meeresverschmutzung durch Schiffe im Einklang mit dem Völkerrecht zu ergreifen.“

26      In Art. 3 Abs. 1 Buchst. b und d der Richtlinie heißt es:

„(1)      Diese Richtlinie gilt im Einklang mit dem Völkerrecht für das Einleiten von Schadstoffen in

b)      das Küstenmeer eines Mitgliedstaats,

d)      die im Einklang mit dem Völkerrecht festgelegte [AWZ] oder entsprechende Zone eines Mitgliedstaats …“

27      Art. 7 („Durchsetzungsmaßnahmen von Küstenstaaten betreffend Schiffe im Transitverkehr“) sieht in Abs. 2 vor:

„Liegt ein klarer, objektiver Beweis dafür vor, dass ein Schiff, das die in Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b oder d genannten Gebiete befährt, in dem in Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe d genannten Gebiet einen Verstoß begangen hat, der zu einer Einleitung führt, die einen größeren Schaden an der Küste oder für die damit verbundenen Interessen des betroffenen Mitgliedstaats oder an Ressourcen in den in Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b oder d genannten Gebieten verursacht oder einen solchen Schaden zu verursachen droht, so befasst dieser Staat, wenn die Beweislage dies rechtfertigt, vorbehaltlich Teil XII Abschnitt 7 des [Übereinkommens von Montego Bay] seine zuständigen Behörden mit der Angelegenheit im Hinblick auf die Einleitung eines Verfahrens gemäß seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften, wobei dieses Verfahren auch das Festhalten des Schiffes umfassen kann.“

 Finnisches Recht

28      Die Richtlinie 2005/35 wurde in Finnland u. a. durch das Merenkulun ympäristönsuojelulaki (1672/2009) (Gesetz über den Umweltschutz im Seeverkehr [1672/2009]) umgesetzt.

29      Kapitel 3 („Bußgeld wegen Einleitens von Öl“) des Gesetzes bestimmt in § 1 Abs. 1:

„Verstöße gegen das in Kapitel 2 § 1 geregelte Verbot des Einleitens von Öl oder ölhaltigen Gemischen in den Gewässern oder der [AWZ] Finnlands werden mit einem Bußgeld (Bußgeld wegen Einleitens von Öl) geahndet, sofern das eingeleitete Öl oder ölhaltige Gemisch nach seiner Menge oder seinen Wirkungen nicht als geringfügig angesehen werden kann. Für Verstöße gegen das Einleitverbot, die von einem fremden Schiff auf der Durchfahrt in der [AWZ] Finnlands begangen werden, wird ein Bußgeld jedoch nur festgesetzt, wenn das Einleiten schwere Schäden für die Küste Finnlands oder damit zusammenhängende Interessen oder für Ressourcen des Küstenmeers oder der [AWZ] Finnlands verursacht oder zu verursachen droht.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

30      Nach den Angaben der Grenzschutzbehörde wurde von der Bosphorus Queen am 11. Juli 2011, als sie sich auf der Durchfahrt durch die finnische AWZ befand, Öl ins Meer eingeleitet.

31      Das Einleiten soll am Rand dieser AWZ geschehen seien, etwa 25 bis 30 km von der finnischen Küste entfernt. Das eingeleitete Öl breitete sich über eine Länge von etwa 37 km und eine Breite von etwa 10 m aus. Die von der Einleitung bedeckte Gesamtfläche wurde auf ungefähr 0,222 km2 und ihr Volumen auf 0,898 m3 bis 9,050 m3 geschätzt.

32      Das vorlegende Gericht führt aus, die finnischen Behörden hätten keine Maßnahmen zur Bekämpfung der Öleinleitung ergriffen. Es sei auch weder beobachtet worden, dass Öl an die Küste gelangt wäre, noch festgestellt worden, dass es konkrete Schäden verursacht hätte.

33      Als das Schiff, aus St. Petersburg (Russland) kommend, erneut durch die finnische AWZ fuhr, ordnete die Grenzschutzbehörde hingegen mit Bescheid vom 23. Juli 2011 zum einen als Sicherungsmaßnahme die Zahlung einer Sicherheitsleistung von 17 112 Euro durch Bosphorus an, mit der ein etwaiges Bußgeld wegen der Öleinleitung durch die Bosphorus Queen beglichen werden sollte, und hielt diese zum anderen fest. Nach der Zahlung der Sicherheitsleistung am 25. Juli 2011 durfte das Schiff seine Fahrt fortsetzen.

34      Die durch die Einleitung des Öls verursachten Risiken waren Gegenstand eines Gutachtens, das der Suomen ympäristökeskus (Finnische Umweltzentrale) am 26. Juli 2011 für die Grenzschutzbehörde erstellte. Die Umweltauswirkungen des eingeleiteten Öls wurden auf der Grundlage seiner geschätzten Mindestmenge bewertet. Aus dem Gutachten ergibt sich Folgendes:

–        Das Öl konnte zumindest zum Teil in das finnische Küstengebiet gelangen. In diesem Fall würde dessen Nutzung zu Freizeitzwecken beeinträchtigt.

–        Ein Teil des Öls hatte ferner Auswirkungen in der Nähe der Einleitstelle auf dem offenen Meer.

–        Das eingeleitete Öl war einer günstigen Entwicklung des Zustands der Umwelt in der Ostsee abträglich.

–        Das eingeleitete Öl gefährdete Vögel, die auf dem offenen Meer Nahrung aufnehmen und rasten.

–        Das Öl schädigte das pflanzliche und tierische Plankton. Die Ölverbindungen wurden in der Nahrungskette weitergegeben.

–        Die Dreistachligen Stichlinge des Oberflächenwassers des offenen Meeres hatten durch das eingeleitete Öl wahrscheinlich unmittelbar Schaden genommen, so dass kurzfristige negative Auswirkungen auf die Fischbestände nicht ausgeschlossen werden konnten.

–        In dem Gebiet gibt es eine starke Sedimentierung, und wahrscheinlich würde ein Teil der Ölverbindungen in die Bodenzone gelangen und die Bodenfauna schädigen.

–        In der Nähe des Gebiets befanden sich viele zum Natura-2000-Netz gehörende wertvolle Naturräume.

–        Der Zeitpunkt des Einleitens des Öls war für die Seevogelbestände besonders nachteilig, weil es in den Gewässern von den äußeren Schären von Hankoniemi (Finnland) bis zum Schärenmeer noch große Kolonien flugunfähiger Jungvögel gab und sich die Jungvögel der Eiderente weit entfernt von der Küste bewegten.

–        Zum Zeitpunkt des Einleitens des Öls befanden sich im Gebiet vor Hankoniemi Zehntausende Eiderenten. Das Einleiten verursachte eine erhebliche Gefahr für den Seevogelbestand der finnischen Küste.

35      Mit Entscheidung vom 16. September 2011 verhängte die Grenzschutzbehörde gegen Bosphorus ein Bußgeld von 17 112 Euro wegen Einleitens von Öl und begründete dies damit, dass das Einleiten schwere Schäden für die Küste oder damit zusammenhängende Interessen der Republik Finnland oder für Ressourcen ihres Küstenmeers oder ihrer AWZ verursacht oder zu verursachen gedroht habe.

36      Bosphorus und der Ausrüster des Schiffes erhoben daraufhin eine Klage beim Helsingin käräjäoikeus (Gericht des ersten Rechtszugs, Helsinki, Finnland) als Seegericht und beantragten die Nichtigerklärung der Entscheidungen vom 23. Juli und vom 16. September 2011, mit denen eine Sicherheitsleistung bzw. ein Bußgeld wegen Einleitens von Öl festgesetzt wurden. Sie machten u. a. geltend, dass das Einleiten keine schweren Umweltschäden hervorgerufen habe und dass allein die Gerichte des Flaggenstaats des Schiffes, mithin Panamas, für eine Entscheidung in dieser Rechtssache zuständig seien.

37      Mit Urteil vom 30. Januar 2012 sah es der Helsingin käräjäoikeus (Gericht des ersten Rechtszugs, Helsinki) als erwiesen an, dass das in Rede stehende Schiff mindestens etwa 900 l Öl ins Meer eingeleitet habe. Im Verlauf des mit diesem Urteil abgeschlossenen Verfahrens vernahm der Helsingin käräjäoikeus (Gericht des ersten Rechtszugs, Helsinki) einen Fachwissenschaftler der Umweltzentrale Finnlands als Zeugen. Sodann nahm er im Licht der ihm vorliegenden Informationen an, dass das Einleiten des Öls schwere Schäden im Sinne von Kapitel 3 § 1 des Gesetzes 1672/2009 zu verursachen gedroht habe. Aus diesen Gründen wies der Helsingin käräjäoikeus (Gericht des ersten Rechtszugs, Helsinki) die Klage ab.

38      Nachdem Bosphorus ein Rechtsmittel beim Helsingin hovioikeus (Berufungsgericht Helsinki) eingelegt hatte, stellte dieses die Gesellschaft von ihrer Pflicht zur Zahlung des Bußgelds wegen Einleitens von Öl mit der Begründung frei, dass diese Pflicht dem Ausrüster obliege, dessen Identität bekannt sei.

39      Die Grenzschutzbehörde legte daher beim Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) ein Rechtsmittel ein. Dieser hob die Entscheidung auf und verwies die Rechtssache an den Helsingin hovioikeus (Berufungsgericht Helsinki) zurück, damit dieser darüber befinde, ob ein Grund im Sinne von Kapitel 3 § 1 des Gesetzes 1672/2009 vorliege, der die Verhängung eines Bußgelds wegen Einleitens von Öl rechtfertige.

40      Mit Entscheidung vom 18. November 2014 stellte das Berufungsgericht fest, dass nach den ihm vorgelegten Beweisen die Gefahr bestand, dass das fragliche Einleiten von Öl schwere Schäden für die Küste oder damit zusammenhängende Interessen der Republik Finnland oder für Ressourcen ihres Küstenmeers oder ihrer AWZ verursacht. Folglich wies es die gegen die Entscheidung des Helsingin käräjäoikeus (Gericht des ersten Rechtszugs, Helsinki) eingelegte Berufung zurück.

41      Bosphorus legte daher ein Rechtsmittel beim Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) ein, mit dem sie die Aufhebung der Entscheidung des Helsingin hovioikeus (Berufungsgericht Helsinki), der Entscheidung des Helsingin käräjäoikeus (Gericht des ersten Rechtszugs, Helsinki) und der Entscheidungen vom 23. Juli und vom 16. September 2011 sowie die Nichtigerklärung des Bußgelds wegen Einleitens von Öl begehrte.

42      Unter diesen Umständen hat der Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist der Ausdruck „Küste oder damit zusammenhängende Interessen“ in Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay bzw. der Ausdruck „Küste oder … die damit verbundenen Interessen“ in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 anhand der in Art. II Nr. 4 des Übereinkommens über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 enthaltenen Definition des Ausdrucks „Küste oder verwandte Interessen“ auszulegen?

2.      Nach der Definition in Art. II Nr. 4 Buchst. c des in der Vorlagefrage 1 genannten Übereinkommens über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 bedeutet „verwandte Interessen“ u. a. das Wohl des betroffenen Gebiets einschließlich der Erhaltung der lebenden Schätze des Meeres sowie der Tier- und Pflanzenwelt. Gilt diese Vorschrift auch für die Erhaltung der lebenden Ressourcen sowie der Tier- und Pflanzenwelt in der AWZ, oder betrifft diese Bestimmung des Übereinkommens nur die Erhaltung der Interessen des Küstengebiets?

3.      Falls die unter 1 gestellte Frage verneint wird: Was ist mit dem Ausdruck „Küste oder damit zusammenhängende Interessen“ in Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay bzw. dem Ausdruck „Küste oder … die damit verbundenen Interessen“ in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 gemeint?

4.      Was bedeutet der Ausdruck „Ressourcen des Küstenmeers oder der [AWZ]“ im Sinne von Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay und Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35? Sind unter lebenden Ressourcen nur befischte Arten zu verstehen, oder fallen darunter auch mit befischten Arten vergesellschaftete oder von ihnen abhängige Arten im Sinne von Art. 61 Abs. 4 des Übereinkommens von Montego Bay, wie etwa Pflanzen- und Tierarten, die von den befischten Arten als Nahrung genutzt werden?

5.      Wie ist der Ausdruck „zu verursachen droht“ in Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay und Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 zu bestimmen? Ist die drohende Verursachung anhand des Begriffs der abstrakten oder der konkreten Gefahr oder in anderer Weise zu bestimmen?

6.      Ist bei der Bewertung der in Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay und Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 vorgesehenen Voraussetzungen der Befugnis des Küstenstaats davon auszugehen, dass die verursachten oder drohenden schweren Schäden eine schwerere Folge sind als die verursachte oder drohende erhebliche Verschmutzung der Meeresumwelt im Sinne von Art. 220 Abs. 5 des Übereinkommens von Montego Bay? Wie ist die „erhebliche Verschmutzung der Meeresumwelt“ zu definieren, und wie ist sie bei der Bewertung der verursachten oder drohenden schweren Schäden zu berücksichtigen?

7.      Welche Umstände sind bei der Bewertung der Schwere der verursachten bzw. drohenden Schäden zu berücksichtigen? Sind bei der Bewertung z. B. die Dauer und die geografische Ausdehnung der nachteiligen Auswirkungen, die sich als Schäden äußern, zu berücksichtigen? Wird dies bejaht: Wie sind die Dauer und das Ausmaß von Schäden zu bewerten?

8.      Die Richtlinie 2005/35 ist eine Mindestrichtlinie und hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, strengere Maßnahmen gegen die Meeresverschmutzung durch Schiffe im Einklang mit dem Völkerrecht zu ergreifen (Art. 1 Abs. 2). Gilt die Möglichkeit, strengere Regelungen anzuwenden, für Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie, wo die Befugnis des Küstenstaats, gegen ein auf der Durchfahrt befindliches Schiff einzuschreiten, geregelt ist?

9.      Kann den besonderen geografischen und ökologischen Gegebenheiten sowie der Empfindlichkeit des Ostseegebiets bei der Auslegung der in Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay und in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 festgelegten Voraussetzungen der Befugnis des Küstenstaats Bedeutung zugemessen werden?

10.      Ist mit „eindeutiger objektiver Beweis“ im Sinne von Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay bzw. „klarer, objektiver Beweis“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 neben dem Beweis, dass ein Schiff die Verstöße, auf die sich die genannten Vorschriften beziehen, begangen hat, auch der Beweis der Folgen des Einleitens gemeint? Was für ein Beweis ist dafür, dass schwere Schäden für die Küste oder damit zusammenhängende Interessen oder für Ressourcen des Küstenmeers oder der AWZ – etwa für die Vogel- und Fischbestände sowie die Meeresumwelt in dem Gebiet – drohen, zu verlangen? Bedeutet das Erfordernis eines eindeutigen bzw. klaren objektiven Beweises, dass z. B. die Bewertung der nachteiligen Auswirkungen des eingeleiteten Öls auf die Meeresumwelt immer auf konkreten Untersuchungen und Studien über die Auswirkungen der geschehenen Öleinleitung beruhen muss?

 Zu den Vorlagefragen

 Vorbemerkungen

43      Zur Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts in dieser Rechtssache ist der Gerichtshof gehalten, über das Übereinkommen von Montego Bay, das Marpol-Übereinkommen 73/78 und das Übereinkommen über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 zu befinden. Daher ist der unionsrechtliche Status dieser Übereinkommen zu bestimmen.

44      Das Übereinkommen von Montego Bay ist von der Union unterzeichnet und genehmigt worden. Seine Bestimmungen sind integraler Bestandteil der Rechtsordnung der Union und binden sie. Folglich ist der Gerichtshof für die Auslegung dieser Bestimmungen zuständig. Ferner hat das Übereinkommen Vorrang vor den Bestimmungen des abgeleiteten Unionsrechts (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a., C‑308/06, EU:C:2008:312, Rn. 42 und 53), die im Rahmen des Möglichen im Einklang mit ihm auszulegen sind.

45      Das Marpol-Übereinkommen 73/78, dem die Union nicht beigetreten ist, das aber alle ihre Mitgliedstaaten bindet, kann Folgen für die Auslegung sowohl des Übereinkommens von Montego Bay als auch der Bestimmungen des abgeleiteten Rechts haben, die wie die der Richtlinie 2005/35 in den Anwendungsbereich des Marpol-Übereinkommens 73/78 fallen. Denn in Anbetracht des gewohnheitsrechtlichen Grundsatzes von Treu und Glauben, der Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts ist, und des Art. 4 Abs. 3 EUV muss der Gerichtshof das Marpol-Übereinkommen 73/78 bei der Auslegung dieser Bestimmungen berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a., C‑308/06, EU:C:2008:312, Rn. 47 und 52).

46      Dem Übereinkommen über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 ist die Union nicht beigetreten, und es kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie an die Stelle ihrer Mitgliedstaaten getreten ist, sei es auch nur, weil nicht alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien des Übereinkommens sind. Daraus ergibt sich, dass es die Union nicht bindet und dass der Gerichtshof nicht dafür zuständig ist, es als solches im Rahmen einer Vorlage zur Vorabentscheidung auszulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Juni 2008, Commune de Mesquer, C‑188/07, EU:C:2008:359, Rn. 85).

47      Da der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache zur Auslegung des Übereinkommens von Montego Bay aufgerufen ist, ist das Übereinkommen über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 jedoch zu berücksichtigen, weil es Teil der für die Auslegung des Übereinkommens von Montego Bay maßgebenden Regeln ist.

48      Aus Art. 237 des Übereinkommens von Montego Bay – der das Verhältnis zwischen ihm und besonderen Übereinkommen über den Schutz und die Bewahrung der Meeresumwelt regelt, zu denen auch das Übereinkommen über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 zählt – ergibt sich, dass das Übereinkommen von Montego Bay die bestimmten Verpflichtungen, die Staaten aufgrund dieser besonderen Übereinkommen übernommen haben, nicht berührt.

49      Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35, der die Bestimmungen von Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay in das Unionsrecht übernimmt und dessen Wortlaut im Wesentlichen dem von Art. 220 Abs. 6 entspricht, ist in Anbetracht der in Rn. 44 des vorliegenden Urteils getroffenen Feststellung im Einklang mit ihm auszulegen. Folglich ist die Auslegung von Art. 220 Abs. 6 grundsätzlich als auf Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 übertragbar anzusehen.

 Zum ersten Satz der zehnten Frage

50      Mit dem ersten Satz seiner zehnten Frage, der an erster Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay und Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 dahin auszulegen sind, dass sich der Ausdruck „eindeutiger objektiver Beweis“ bzw. „klarer, objektiver Beweis“ im Sinne dieser Bestimmungen nicht nur auf die Begehung eines Verstoßes bezieht, sondern auch auf den Beweis der Folgen dieses Verstoßes.

51      Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay sieht vor, dass ein Staat, wenn es einen eindeutigen objektiven Beweis dafür gibt, dass ein in seiner AWZ oder in seinem Küstenmeer fahrendes Schiff in der AWZ einen in Art. 220 Abs. 3 genannten Verstoß begangen hat, der zu einem Einleiten führt, das schwere Schäden für die Küste oder damit zusammenhängende Interessen des Küstenstaats oder für Ressourcen seines Küstenmeers oder seiner AWZ verursacht oder zu verursachen droht, in Übereinstimmung mit seinem innerstaatlichen Recht und vorbehaltlich des Abschnitts 7 des Übereinkommens, wenn die Beweislage dies rechtfertigt, ein Verfahren einleiten und insbesondere das Zurückhalten des Schiffes anordnen kann.

52      Dem Wortlaut von Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay lässt sich nicht entnehmen, ob sich das Vorliegen eines „eindeutigen objektiven Beweis[es]“ im Sinne dieser Bestimmung lediglich auf den begangenen Verstoß oder auch auf dessen Folgen beziehen soll.

53      Unter diesen Umständen ist auf den Kontext, in den sich die Begriffe „eindeutige[r] objektive[r] Beweis“ im Sinne dieser Bestimmung einfügen, sowie auf die mit Art. 220 des Übereinkommens von Montego Bay verfolgten Ziele abzustellen.

54      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Abs. 3, 5 und 6 von Art. 220 des Übereinkommens von Montego Bay eine Reihe abgestufter Maßnahmen darstellen, die der Küstenstaat gegen ein Schiff ergreifen kann, das verdächtigt wird oder von dem feststeht, dass es in der AWZ dieses Staates einen Verstoß begangen hat.

55      Zunächst bezieht sich Art. 220 Abs. 3 dieses Übereinkommens auf einen Verstoß gegen anwendbare internationale Regeln und Normen zur Verhütung, Verringerung und Überwachung der Verschmutzung durch Schiffe oder gegen die solchen Regeln und Normen entsprechenden und ihnen Wirksamkeit verleihenden Gesetze und sonstigen Vorschriften des betreffenden Staates, wobei solche Verstöße insbesondere im Marpol-Übereinkommen 73/78 definiert werden.

56      Diese Bestimmung sieht dabei – wenn eindeutige Gründe für die Annahme bestehen, dass ein solcher Verstoß begangen wurde – vor, dass der Küstenstaat von dem Schiff bestimmte Angaben über seine Identität und seinen Registerhafen, seinen letzten und nächsten Anlaufhafen und andere sachdienliche Angaben fordern kann, die erforderlich sind, um festzustellen, ob ein Verstoß erfolgt ist.

57      Art. 220 Abs. 5 des Übereinkommens von Montego Bay verleiht dem Küstenstaat sodann das Recht, eine Überprüfung an Bord des Schiffes durchzuführen. Hierzu wird in dieser Bestimmung nicht nur verlangt, dass eindeutige Gründe für die Annahme bestehen, dass ein Schiff einen Verstoß im Sinne von Art. 220 Abs. 3 des Übereinkommens begangen hat, sondern auch, dass dieser Verstoß hinsichtlich seiner Folgen besondere Merkmale aufweist (im Folgenden: qualifizierter Verstoß). Der Verstoß muss nämlich zu einem beträchtlichen Einleiten geführt haben, das eine erhebliche Verschmutzung der Meeresumwelt verursacht hat oder zu verursachen droht.

58      Daher erweist sich, dass die Verfasser des Übereinkommens von Montego Bay dem Küstenstaat aufgrund des Vorliegens eines qualifizierten Verstoßes im Sinne von Art. 220 Abs. 5 des Übereinkommens die Befugnis zu einem stärkeren als dem in Art. 220 Abs. 3 vorgesehenen Eingriff verliehen haben.

59      Schließlich ist Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay mit dessen Art. 220 Abs. 5 vergleichbar, da er sich auf einen qualifizierten Verstoß bezieht. Ein Verstoß im Sinne dieser Bestimmung muss nämlich zu einem Einleiten geführt haben, das schwere Schäden für die Küste oder damit zusammenhängende Interessen des Küstenstaats oder für Ressourcen seines Küstenmeers oder die AWZ dieses Staates (im Folgenden: Rechtsgüter und damit zusammenhängende Interessen des Küstenstaats) verursacht oder zu verursachen droht.

60      Die beiden Bestimmungen unterscheiden sich jedoch dadurch, dass Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay die Eingriffsbefugnis des Küstenstaats davon abhängig macht, dass ein „eindeutige[r] objektive[r] Beweis“ für die Begehung eines qualifizierten Verstoßes vorliegt, und nicht lediglich davon, dass eindeutige Gründe für die Annahme bestehen, dass ein solcher Verstoß begangen wurde. Zudem darf der Küstenstaat, wenn die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 220 Abs. 6 erfüllt sind, besonders hart durchgreifen, da er in Übereinstimmung mit seinem innerstaatlichen Recht das Zurückhalten des betreffenden Schiffs anordnen kann.

61      Somit erweist sich, dass die Verfasser des Übereinkommens von Montego Bay dem Küstenstaat das Recht verleihen wollten, eine solche besonders strenge Maßnahme zu ergreifen, wenn der von einem Schiff begangene Verstoß diesem Staat zum einen schwere Schäden verursacht oder zu verursachen droht, und zum anderen nachgewiesen ist, dass das in Rede stehende Schiff der Urheber eines solchen Verstoßes ist.

62      Da diese beiden – gleich wichtigen – Voraussetzungen kumulativer Art sind, ist Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay so auszulegen, dass er die Eingriffsbefugnis des Küstenstaats davon abhängig macht, dass ein eindeutiger objektiver Beweis sowohl für die Begehung eines Verstoßes im Sinne von Art. 220 Abs. 3 dieses Übereinkommens durch das Schiff vorliegt als auch dafür, dass dem in Rede stehenden Küstenstaat dadurch Schäden entstehen oder zu entstehen drohen.

63      Eine solche Auslegung dieser Bestimmung wird durch das Ziel des Übereinkommens von Montego Bay bestätigt, das darin besteht, für alle Meeresräume einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Staaten als Küstenstaaten und ihren Interessen als Flaggenstaaten, die widerstreitend sein können, zu schaffen (Urteil vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a., C‑308/06, EU:C:2008:312, Rn. 58).

64      Die Ausübung der Eingriffsbefugnis des Küstenstaats in seiner AWZ, insbesondere die Befugnis, das Zurückhalten eines unter der Flagge eines anderen Staates fahrenden Schiffes anzuordnen, wodurch es zeitweise an der Ausübung der durch das internationale Seerecht in diesem Gebiet garantierten Freiheit der Schifffahrt gehindert wird, setzt zur Sicherstellung eines gerechten Ausgleichs zwischen den Interessen des Küstenstaats und des Flaggenstaats voraus, dass der Küstenstaat einen hinreichenden Beweis – und nicht nur einen ernsthaften Verdacht – hat, dass dieses Schiff einen Verstoß begangen hat, der schwere Schäden verursacht hat oder zu verursachen droht.

65      Daher ist auf den ersten Satz der zehnten Frage zu antworten, dass Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay und Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 dahin auszulegen sind, dass sich der Ausdruck „eindeutiger objektiver Beweis“ bzw. „klarer, objektiver Beweis“ im Sinne dieser Bestimmungen nicht nur auf die Begehung eines Verstoßes bezieht, sondern auch auf den Beweis seiner Folgen.

 Zu den ersten drei Fragen

66      Mit seinen ersten drei Fragen, die zusammen an zweiter Stelle zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, wie der in Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay genannte Ausdruck „Küste oder damit zusammenhängende Interessen“ und der in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 genannte Ausdruck „Küste oder … die damit verbundenen Interessen“ in Anbetracht der Bestimmungen des Übereinkommens über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 auszulegen sind.

67      Zur Auslegung der Bestimmungen des Übereinkommens von Montego Bay sind die in Art. 31 des Wiener Übereinkommens wiedergegebenen Regeln des Völkergewohnheitsrechts heranzuziehen, die die Unionsorgane binden und Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK, C‑266/16, EU:C:2018:118, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). Aus ihnen ergibt sich, dass ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen ist.

68      Zunächst ist festzustellen, dass der in Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay genannte Ausdruck „Küste oder damit zusammenhängende Interessen“ in diesem Übereinkommen nicht definiert wird.

69      Im Übereinkommen über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 wird der Ausdruck „Küsten oder verwandte Interessen“ verwendet und klargestellt, was unter dem Begriff „verwandte Interessen“ zu verstehen ist.

70      Genauer gesagt lautet dessen Art. I Abs. 1: „Die Vertragsparteien dieses Übereinkommens können die erforderlichen Maßnahmen auf Hoher See zur Verhütung, Verringerung oder Beseitigung unmittelbarer ernster Gefahren treffen, die für ihre Küsten oder verwandte Interessen aus einer tatsächlichen oder drohenden Verschmutzung der See durch Öl infolge eines Seeunfalls oder damit verbundener Handlungen erwachsen, welche aller Wahrscheinlichkeit nach schwerwiegende schädliche Auswirkungen haben werden.“

71      Überdies werden in Art. II Nr. 4 des Übereinkommens „verwandte Interessen“ definiert als die „Interessen eines Küstenstaats, die von dem Seeunfall unmittelbar betroffen oder bedroht sind, z. B. [erstens] mit der See verbundene Tätigkeiten in Küsten-, Hafen- oder Mündungsgebieten einschließlich der Fischerei, soweit sie ein wesentliches Mittel zum Lebensunterhalt der betroffenen Personen darstellen; [zweitens] touristische Anziehungspunkte in dem betroffenen Gebiet; [drittens] die Gesundheit der Küstenbevölkerung und das Wohl des betroffenen Gebiets einschließlich der Erhaltung der lebenden Schätze des Meeres sowie der Tier- und Pflanzenwelt“.

72      Der Ausdruck „Küsten oder verwandte Interessen“ im Sinne des Übereinkommens über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 entspricht dem in Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay verwendeten Ausdruck „Küste oder damit zusammenhängende Interessen“.

73      Zwar findet sich in der französischen Fassung von Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay der Begriff „littoral“, während in Art. I Abs. 1 des Übereinkommens über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 der Begriff „côtes“ verwendet wird. Beide Begriffe bezeichnen jedoch im gewöhnlichen Sprachgebrauch den Bereich, an dem Meer und Land aufeinandertreffen. Zudem sind die beiden Bestimmungen in der englischen Sprachfassung gleich formuliert; dort wird zur Bezeichnung dieses Bereichs derselbe Begriff, nämlich „coastline“, verwendet.

74      In der französischen Fassung von Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay findet sich auch der Ausdruck „État côtier“, während in Art. II Nr. 4 des Übereinkommens über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 der Ausdruck „État riverain“ verwendet wird. Beide Ausdrücke bezeichnen jedoch im gewöhnlichen Sprachgebrauch das Landgebiet am Rand eines Meeres.

75      Zudem ist, wie der Generalanwalt in Nr. 70 seiner Schlussanträge ausführt, der Entstehungsgeschichte von Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay eindeutig zu entnehmen, dass sich die Vertragsparteien vom Übereinkommen über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 leiten ließen, als sie festlegten, dass auch der Küstenstaat befugt sein sollte, Maßnahmen gegen fremde Schiffe zu ergreifen, die in der unter seiner Hoheit stehenden AWZ einen Verstoß begangen haben. Daher ist davon auszugehen, dass dem Ausdruck „Küste oder damit zusammenhängende Interessen“ in Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay grundsätzlich die gleiche Bedeutung beizumessen ist wie Art. I Abs. 1 und Art. II Nr. 4 des Übereinkommens über Maßnahmen auf Hoher See von 1969.

76      Zum Zeitpunkt der Annahme des Übereinkommens über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 war die Regelung über AWZ allerdings noch nicht Teil des Völkerrechts.

77      Im Übereinkommen von Montego Bay wurde aber die Anerkennung der AWZ verankert, und es regelt nunmehr deren Rechtsstatus. In diesem Kontext geht schon aus dem Wortlaut von Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens klar hervor, dass es auch für die lebenden und nicht lebenden „Ressourcen seiner [AWZ]“ gilt, die nach Art. 56 Abs. 1 Buchst. a und b des Übereinkommens den Hoheitsbefugnissen des Küstenstaats unterliegen.

78      Der in Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay verwendete Begriff der Ressourcen des Küstenmeers ist im Übrigen dahin zu verstehen, dass er nicht lebende Ressourcen des Küstenmeers einschließt.

79      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass auf die ersten drei Fragen zu antworten ist, dass dem in Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay genannten Ausdruck „Küste oder damit zusammenhängende Interessen“ und dem in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 genannten Ausdruck „Küste oder … die damit verbundenen Interessen“ grundsätzlich die gleiche Bedeutung zukommt wie dem in Art. I Abs. 1 und Art. II Nr. 4 des Übereinkommens über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 genannten Ausdruck „Küsten oder verwandte Interessen“, wobei Art. 220 Abs. 6 auch für nicht lebende Ressourcen des Küstenmeers sowie die Ressourcen der AWZ des Küstenstaats gilt.

 Zur vierten Frage

80      Mit seiner vierten Frage, die an dritter Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay und Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 dahin auszulegen sind, dass die Ressourcen des Küstenmeers oder der AWZ eines Küstenstaats im Sinne dieser Bestimmungen ausschließlich befischte Arten bezeichnen, oder ob sie auch mit befischten Arten vergesellschaftete oder von ihnen abhängige Arten einschließen, wie etwa Pflanzen- und Tierarten, von denen sich die befischten Arten ernähren.

81      Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay bezieht sich auf Schäden, die an „Ressourcen“ des Küstenmeers oder der AWZ eines Küstenstaats verursacht werden oder verursacht zu werden drohen. Diese Bestimmung ist daher in dieser Hinsicht weit auszulegen, wie sich bereits aus ihrem Wortlaut ergibt, und nicht so zu verstehen, dass bestimmte Ressourcen von ihrem Anwendungsbereich ausgeschlossen werden sollen.

82      Somit sind unter den Ressourcen des Küstenmeers oder der AWZ eines Küstenstaats im Sinne von Art. 220 Abs. 6 die befischten Arten, aber auch mit befischten Arten vergesellschaftete oder von ihnen abhängige Arten zu verstehen.

83      Das Übereinkommen von Montego Bay trägt der gegenseitigen Abhängigkeit verschiedener Arten im Übrigen ausdrücklich Rechnung. Bei der in Art. 61 des Übereinkommens vorgesehenen Erhaltung der lebenden Ressourcen wird der Küstenstaat nämlich im Rahmen der von ihm gemäß Art. 61 Abs. 3 ergriffenen Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, die Populationen befischter Arten über einem bestimmten Stand zu erhalten oder auf ihn zurückzuführen, durch Art. 61 Abs. 4 ausdrücklich dazu verpflichtet, die Wirkung dieser Maßnahmen auf die mit den befischten Arten vergesellschafteten oder von ihnen abhängigen Arten zu berücksichtigen.

84      Daher ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay und Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 dahin auszulegen sind, dass unter den Ressourcen des Küstenmeers oder der AWZ eines Küstenstaats im Sinne dieser Bestimmungen nicht nur befischte Arten zu verstehen sind, sondern auch mit ihnen vergesellschaftete oder von ihnen abhängige Arten, wie etwa Pflanzen- und Tierarten, von denen sich die befischten Arten ernähren.

 Zur sechsten Frage

85      Mit seiner sechsten Frage, die an vierter Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und gegebenenfalls wie der in Art. 220 Abs. 5 des Übereinkommens von Montego Bay verwendete Ausdruck „erhebliche Verschmutzung“ bei der Anwendung seines Art. 220 Abs. 6 und von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 und insbesondere bei der Beurteilung der in diesen Bestimmungen definierten Folgen eines Verstoßes zu berücksichtigen ist.

86      Auch wenn Art. 220 Abs. 5 des Übereinkommens von Montego Bay den Begriff „Verschmutzung“ nicht definiert, ergibt sich hierzu aus dessen Art. 1 Abs. 4, dass „‚Verschmutzung der Meeresumwelt‘ die unmittelbare oder mittelbare Zuführung von Stoffen oder Energie durch den Menschen in die Meeresumwelt einschließlich der Flussmündungen, aus der sich abträgliche Wirkungen wie eine Schädigung der lebenden Ressourcen sowie der Tier- und Pflanzenwelt des Meeres, eine Gefährdung der menschlichen Gesundheit, eine Behinderung der maritimen Tätigkeiten einschließlich der Fischerei und der sonstigen rechtmäßigen Nutzung des Meeres, eine Beeinträchtigung des Gebrauchswerts des Meerwassers und eine Verringerung der Annehmlichkeiten der Umwelt ergeben oder ergeben können“, bedeutet.

87      Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay verweist seinerseits u. a. auf den Begriff der „damit zusammenhängenden Interessen“ des Küstenstaats, der – wie sich aus Rn. 75 des vorliegenden Urteils ergibt – grundsätzlich ebenso zu verstehen ist wie in Art. II Nr. 4 des Übereinkommens über Maßnahmen auf Hoher See von 1969.

88      Der Schutz der „damit zusammenhängenden Interessen“ des Küstenstaats wird zwar üblicherweise bei einer Verschmutzung relevant. Festzustellen ist aber, dass sich Art. II Nr. 4 des Übereinkommens über Maßnahmen auf Hoher See von 1969 speziell auf die schädlichen wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Folgen einer solchen Verschmutzung für den Küstenstaat bezieht, genauer gesagt darauf, dass ein schwerer Schaden verursacht wird oder verursacht zu werden droht, in erster Linie für die verschiedenen mit der Nutzung des Meeres zusammenhängenden gewerblichen Tätigkeiten der Küstenbevölkerung – soweit sie ein wesentliches Mittel zu ihrem Lebensunterhalt darstellen –, sodann für die touristischen Aktivitäten in den Küstenregionen und schließlich für die Gesundheit und das Wohl der Küstenbevölkerung.

89      Aus diesem Vergleich ergibt sich, dass zwischen Art. 220 Abs. 5 und Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay wesentliche Unterschiede bestehen.

90      Art. 220 Abs. 5 bezweckt nämlich im Licht von Art. 1 Abs. 4 des Übereinkommens von Montego Bay zum einen keinen besonderen Schutz der Rechtsgüter und damit zusammenhängenden Interessen des Küstenstaats, und zum anderen muss dieser Staat nicht das Vorliegen eines „schweren Schadens“ für seine Interessen nachweisen.

91      Da sich das Ziel dieser beiden Bestimmungen unterscheidet, ist der Ausdruck „erhebliche Verschmutzung“ in Art. 220 Abs. 5 des Übereinkommens von Montego Bay daher bei der Anwendung von dessen Art. 220 Abs. 6 grundsätzlich nicht zu berücksichtigen.

92      Folglich ist auf die sechste Frage zu antworten, dass der in Art. 220 Abs. 5 des Übereinkommens von Montego Bay verwendete Ausdruck „erhebliche Verschmutzung“ bei der Anwendung seines Art. 220 Abs. 6 und von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 und insbesondere bei der Beurteilung der in diesen Bestimmungen definierten Folgen eines Verstoßes grundsätzlich nicht zu berücksichtigen ist.

 Zu den Fragen 5 und 7 sowie den letzten beiden Sätzen der zehnten Frage

93      Mit seinen Fragen 5 und 7 sowie den letzten beiden Sätzen der zehnten Frage, die zusammen an fünfter Stelle zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, auf welche Weise die in Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay und in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 definierten Folgen eines Verstoßes zu bewerten sind.

94      Wie sich aus Rn. 65 des vorliegenden Urteils ergibt, ist Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay dahin auszulegen, dass er sich nicht nur auf einen eindeutigen objektiven Beweis für die Begehung eines Verstoßes bezieht, sondern auch auf den Beweis der Folgen dieses Verstoßes.

95      Diese Bestimmung sieht ferner für ihre Anwendung vor, dass der von einem Schiff begangene Verstoß zu einem beträchtlichen Einleiten geführt hat, das – wie in Rn. 59 des vorliegenden Urteils dargelegt – schwere Schäden an bestimmten Rechtsgütern und damit zusammenhängenden Interessen des Küstenstaats verursacht hat oder zu verursachen droht.

96      Das bedeutet, dass in einer konkreten Situation alle Indizien zu berücksichtigen sind, die den Nachweis ermöglichen, dass ein Schaden an diesen Rechtsgütern oder Interessen verursacht wurde oder verursacht zu werden droht, und dass die Schwere des Schadens, der an diesen Rechtsgütern oder Interessen verursacht wurde oder verursacht zu werden droht, zu beurteilen ist, ohne von vornherein eine bestimmte Art von Beweisen zu privilegieren.

97      In diesem Kontext ist hervorzuheben, dass die durch Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay geschützten Rechtsgüter und damit zusammenhängenden Interessen des Küstenstaats eine heterogene Gruppe bilden.

98      Folglich sind die geschädigten Rechtsgüter und Interessen zu bestimmen und die Schwere der Beeinträchtigungen zu bewerten, die dem einen oder anderen oder sogar allen von ihnen zugefügt wurden.

99      Der besonderen Eigenart des von dem Schaden betroffenen Rechtsguts oder damit zusammenhängenden Interesses ist ebenfalls Rechnung zu tragen. Die Empfindlichkeit des Küstenstaats gegenüber der Schädigung durch Einleitungen unterscheidet sich nämlich je nach Art der in Rede stehenden Rechtsgüter oder damit zusammenhängenden Interessen. So beeinträchtigt eine Gefahr für die Gesundheit der Küstenbevölkerung einen Küstenstaat grundsätzlich stärker als ein rein wirtschaftlicher Schaden.

100    Ferner sind die Folgen der fraglichen Einleitungen auf die Rechtsgüter und damit zusammenhängenden Interessen des Küstenstaats festzustellen.

101    Insoweit reicht es angesichts der Dringlichkeit, die dem Erlass einer Schutzmaßnahme zukommen kann, und der dem Wortlaut von Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay zu entnehmenden Relevanz eines bloß drohenden Schadensrisikos zur Ermächtigung des Küstenstaats für das Ergreifen einer solchen Maßnahme aus, Charakter und Umfang des Schadens, der durch die Einleitungen für die verschiedenen Rechtsgüter und damit zusammenhängenden Interessen des Küstenstaats entstehen kann, unter Berücksichtigung der verfügbaren wissenschaftlichen Daten nachzuweisen. Dabei ist im Rahmen des Möglichen der Art der in den betreffenden Einleitungen enthaltenen Schadstoffe sowie Volumen, Richtung, Geschwindigkeit und Dauer ihrer Ausbreitung Rechnung zu tragen.

102    Aus allen vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass auf die Fragen 5 und 7 sowie die letzten beiden Sätze der zehnten Frage zu antworten ist, dass bei der Bewertung der in Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay und in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 definierten Folgen eines Verstoßes alle Indizien heranzuziehen sind, die den Nachweis ermöglichen, dass ein Schaden an den Rechtsgütern oder damit zusammenhängenden Interessen des Küstenstaats verursacht wurde oder verursacht zu werden droht, unter Berücksichtigung insbesondere

–        des kumulativen Charakters der Beeinträchtigung mehrerer oder sogar aller dieser Rechtsgüter und aller damit zusammenhängenden Interessen sowie der Unterschiede bei der Empfindlichkeit des Küstenstaats hinsichtlich der Beeinträchtigung der verschiedenen Rechtsgüter und damit zusammenhängenden Interessen sowie

–        der absehbaren nachteiligen Folgen der Einleitungen für diese Rechtsgüter und damit verbundenen Interessen, auf der Grundlage nicht nur der verfügbaren wissenschaftlichen Daten, sondern auch der Art des oder der in den fraglichen Einleitungen enthaltenen Schadstoffe sowie von Volumen, Richtung, Geschwindigkeit und Dauer der Ausbreitung der Einleitungen.

 Zur neunten Frage

103    Mit seiner neunten Frage, die an sechster Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und gegebenenfalls wie sich die geografischen und ökologischen Besonderheiten sowie die Empfindlichkeit des Ostseegebiets auf die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay und von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 auswirken.

104    Die Ostsee ist, wie der Generalanwalt in Nr. 105 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, auf internationaler Ebene als Sondergebiet anerkannt, das geografische Besonderheiten und ein besonders empfindliches Ökosystem aufweist, das besonderen Schutzes bedarf.

105    Derartige Besonderheiten wirken sich unmittelbar auf die Definition und die Einstufung eines Verstoßes im Sinne von Art. 220 Abs. 3 des Übereinkommens von Montego Bay aus und infolgedessen auf die Anwendung von Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens. Nach Regel 15 Abschnitt B in Teil C von Kapitel 3 der Anlage I des Marpol-Übereinkommens 73/78 sind nämlich die Voraussetzungen, unter denen kein Verstoß vorliegt, innerhalb von Sondergebieten strenger als beim Einleiten außerhalb von Sondergebieten.

106    Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass die spezifische Zielsetzung von Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay nicht darin besteht, einen besonderen Schutz für ein Sondergebiet sicherzustellen, sondern darin, bestimmte Rechtsgüter und Interessen des Küstenstaats unabhängig davon zu schützen, ob das an ihn angrenzende Meer ein Sondergebiet darstellt oder nicht.

107    Auch wenn die Besonderheiten der Ostsee möglicherweise bei der Beurteilung des Ausmaßes des dem Küstenstaat zugefügten Schadens berücksichtigt werden können, können sie sich somit nicht automatisch auf diese Beurteilung auswirken.

108    Nach alledem ist auf die neunte Frage zu antworten, dass sich die geografischen und ökologischen Besonderheiten sowie die Empfindlichkeit des Ostseegebiets auf die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay und von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 auswirken, und zwar hinsichtlich der Definition und Einstufung des Verstoßes sowie, jedoch nicht automatisch, auf die Beurteilung des Ausmaßes des Schadens, der durch den Verstoß an den Rechtsgütern und damit zusammenhängenden Interessen des Küstenstaats hervorgerufen wurde.

 Zur achten Frage

109    Mit seiner achten Frage, die an letzter Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 dahin auszulegen ist, dass er es den Mitgliedstaaten gestattet, im Fall der Anwendbarkeit von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie im Einklang mit dem Völkerrecht strengere als die dort aufgezählten Maßnahmen zu treffen.

110    Wie sich schon aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 ergibt, hindert sie die Mitgliedstaaten nicht daran, im Einklang mit dem Völkerrecht strengere Maßnahmen gegen die Meeresverschmutzung durch Schiffe zu ergreifen.

111    Ferner ist festzustellen, dass sich keiner Bestimmung der Richtlinie entnehmen lässt, dass die den Mitgliedstaaten durch Art. 1 Abs. 2 verliehene Befugnis auf einzelne Richtlinienbestimmungen beschränkt wäre.

112    Folglich muss eine solche Befugnis grundsätzlich auch für Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 gelten, in dem geregelt ist, wann der Küstenstaat gegen ein Schiff im Transitverkehr vorgehen darf.

113    Nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 müssen etwaige strengere Maßnahmen jedoch im Einklang mit dem Völkerrecht stehen.

114    Insoweit ist festzustellen, dass Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35, wie sich aus Rn. 49 des vorliegenden Urteils ergibt, im Einklang mit Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay auszulegen ist.

115    Wie in Rn. 63 des vorliegenden Urteils ausgeführt, kommt aber in Art. 220 Abs. 6 zum Ausdruck, dass durch das Übereinkommen von Montego Bay für alle Meeresräume ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen der Staaten als Küstenstaaten und ihren Interessen als Flaggenstaaten geschaffen werden soll.

116    Daher kann Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 nicht dahin verstanden werden, dass er dem Küstenstaat gestattet, strengere als die in diesem Artikel vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen, wenn die Gefahr besteht, dass der mit Art. 220 Abs. 6 des Übereinkommens von Montego Bay angestrebte gerechte Ausgleich zwischen den Interessen des Küstenstaats und denen des Flaggenstaats gestört wird.

117    Eine solche Auslegung kann den Küstenstaat allerdings nicht daran hindern, Maßnahmen zu ergreifen, die in ihrer Tragweite den in Art. 220 Abs. 6 vorgesehenen entsprechen, da dieser Artikel, wie sich aus der Verwendung des Begriffs „insbesondere“ ergibt, keine erschöpfende Liste der zulässigen Maßnahmen enthält.

118    Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf die achte Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 dahin auszulegen ist, dass er es den Mitgliedstaaten nicht gestattet, im Fall der Anwendbarkeit von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie im Einklang mit dem Völkerrecht strengere als die dort aufgezählten Maßnahmen zu treffen, wobei die Küstenstaaten befugt sind, andere Maßnahmen zu ergreifen, die in ihrer Tragweite den in Art. 220 Abs. 6 vorgesehenen entsprechen.

 Kosten

119    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 220 Abs. 6 des am 10. Dezember 1982 in Montego Bay unterzeichneten Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen und Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen, einschließlich strafrechtlicher Sanktionen, für Verschmutzungsdelikte in der durch die Richtlinie 2009/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sich der Ausdruck „eindeutiger objektiver Beweis“ bzw. „klarer, objektiver Beweis“ im Sinne dieser Bestimmungen nicht nur auf die Begehung eines Verstoßes bezieht, sondern auch auf den Beweis seiner Folgen.

2.      Der in Art. 220 Abs. 6 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen genannte Ausdruck „Küste oder damit zusammenhängende Interessen“ und der in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 in der durch die Richtlinie 2009/123 geänderten Fassung genannte Ausdruck „Küste oder … die damit verbundenen Interessen“ sind dahin auszulegen, dass diesen Ausdrücken grundsätzlich die gleiche Bedeutung zukommt wie dem in Art. I Abs. 1 und Art. II Nr. 4 des am 29. November 1969 in Brüssel geschlossenen Internationalen Übereinkommens über Maßnahmen auf Hoher See bei Ölverschmutzungs-Unfällen genannten Ausdruck „Küsten oder verwandte Interessen“, wobei Art. 220 Abs. 6 auch für nicht lebende Ressourcen des Küstenmeers sowie die Ressourcen der ausschließlichen Wirtschaftszone des Küstenstaats gilt.

3.      Art. 220 Abs. 6 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen und Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 in der durch die Richtlinie 2009/123 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass unter den Ressourcen des Küstenmeers oder der ausschließlichen Wirtschaftszone eines Küstenstaats im Sinne dieser Bestimmungen nicht nur befischte Arten zu verstehen sind, sondern auch mit ihnen vergesellschaftete oder von ihnen abhängige Arten, wie etwa Pflanzen- und Tierarten, von denen sich die befischten Arten ernähren.

4.      Der in Art. 220 Abs. 5 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen verwendete Ausdruck „erhebliche Verschmutzung“ ist bei der Anwendung von Art. 220 Abs. 6 dieses Übereinkommens und von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 in der durch die Richtlinie 2009/123 geänderten Fassung und insbesondere bei der Beurteilung der in diesen Bestimmungen definierten Folgen eines Verstoßes grundsätzlich nicht zu berücksichtigen.

5.      Bei der Bewertung der in Art. 220 Abs. 6 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen und in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 in der durch die Richtlinie 2009/123 geänderten Fassung definierten Folgen eines Verstoßes sind alle Indizien heranzuziehen, die den Nachweis ermöglichen, dass ein Schaden an den Rechtsgütern oder damit zusammenhängenden Interessen des Küstenstaats verursacht wurde oder verursacht zu werden droht, unter Berücksichtigung insbesondere

–        des kumulativen Charakters der Beeinträchtigung mehrerer oder sogar aller dieser Rechtsgüter und aller damit zusammenhängenden Interessen sowie der Unterschiede bei der Empfindlichkeit des Küstenstaats hinsichtlich der Beeinträchtigung der verschiedenen Rechtsgüter und damit zusammenhängenden Interessen sowie

–        der absehbaren nachteiligen Folgen der Einleitungen für diese Rechtsgüter und damit verbundenen Interessen, auf der Grundlage nicht nur der verfügbaren wissenschaftlichen Daten, sondern auch der Art des oder der in den fraglichen Einleitungen enthaltenen Schadstoffe sowie von Volumen, Richtung, Geschwindigkeit und Dauer der Ausbreitung der Einleitungen.

6.      Die geografischen und ökologischen Besonderheiten sowie die Empfindlichkeit des Ostseegebiets wirken sich auf die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 220 Abs. 6 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen und von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 in der durch die Richtlinie 2009/123 geänderten Fassung aus, und zwar hinsichtlich der Definition und Einstufung des Verstoßes sowie, jedoch nicht automatisch, auf die Beurteilung des Ausmaßes des Schadens, der durch den Verstoß an den Rechtsgütern und damit zusammenhängenden Interessen des Küstenstaats hervorgerufen wurde.

7.      Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2005/35 in der durch die Richtlinie 2009/123 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er es den Mitgliedstaaten nicht gestattet, im Fall der Anwendbarkeit von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie im Einklang mit dem Völkerrecht strengere als die dort aufgezählten Maßnahmen zu treffen, wobei die Küstenstaaten befugt sind, andere Maßnahmen zu ergreifen, die in ihrer Tragweite den in Art. 220 Abs. 6 vorgesehenen entsprechen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Finnisch.