Language of document : ECLI:EU:T:2007:99

Rechtssache T‑366/00

Scott SA

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Staatliche Beihilfen – Kaufpreis eines Grundstücks – Entscheidung, mit der die Rückforderung einer mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbaren Beihilfe angeordnet wird – Fehler bei der Berechnung der Beihilfe – Verpflichtungen der Kommission bezüglich der Berechnung der Beihilfe – Rechte des Beihilfeempfängers – Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Art. 13 Abs. 1“

Leitsätze des Urteils

1.      Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission – Beurteilung der Rechtmäßigkeit anhand der bei Erlass der Entscheidung verfügbaren Informationen

2.      Staatliche Beihilfen – Verwaltungsverfahren – Verpflichtungen der Kommission – Sorgfältige und unvoreingenommene Prüfung

(Art. 88 EG)

3.      Staatliche Beihilfen – Verwaltungsverfahren – Bestimmung der Höhe der zurückzufordernden Beihilfe

(Art. 88 EG)

4.      Staatliche Beihilfen – Begriff

(Art. 87 EG und 88 Abs. 2 EG)

5.      Staatliche Beihilfen – Verwaltungsverfahren – Verpflichtungen der Kommission – Sorgfältige und unvoreingenommene Prüfung

(Art. 88 Abs. 2 EG)

6.      Staatliche Beihilfen – Verwaltungsverfahren – Möglichkeit für die Kommission, ihre Entscheidung auf die verfügbaren Informationen zu stützen – Voraussetzung

(Art. 88 Abs. 2 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates)

1.      Die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Kommission im Bereich staatlicher Beihilfen ist anhand der Informationen zu beurteilen, über die die Kommission zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Entscheidung verfügen konnte. Folglich kann die Entscheidung vor dem Gericht nicht unter Berufung auf Tatsachen angefochten werden, die der Kommission nicht bekannt und ihr während des Verwaltungsverfahrens nicht mitgeteilt worden waren. Hieraus folgt jedoch nicht, dass die vom Beihilfeempfänger in einer Nichtigkeitsklage vorgetragenen Beweise nicht für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Kommission herangezogen werden dürften, wenn diese Beweise der Kommission während des Verwaltungsverfahrens und vor Erlass der Entscheidung wirksam vorgelegt worden sind und die Kommission sie aus nicht gerechtfertigten Gründen ausgeschlossen hat.

(vgl. Randnrn. 45-46)

2.      Obwohl für das in Art. 88 EG geregelte Verfahren zur Kontrolle staatlicher Beihilfen keine Vorschrift besteht, die dem Beihilfeempfänger eine besondere Stellung unter den Beteiligten zuweist, und obwohl er nicht den Status eines Verfahrensbeteiligten hat, kann die Kommission im Hinblick darauf, dass sie den Fall sorgfältig und unvoreingenommen prüfen muss, unter bestimmten Umständen verpflichtet sein, Stellungnahmen des Beihilfeempfängers zu berücksichtigen, die nach Ablauf der den Beteiligten dafür in der Entscheidung über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens gesetzten Frist vorgelegt werden.

Dies ist der Fall, wenn der Beihilfeempfänger in Bezug auf einen für ihn wichtigen Aspekt, der streitig und angesichts des lange zurückliegenden Sachverhalts schwer aufzuklären ist – den Wert der Vergünstigung, die ihm gewährt worden sein soll –, Informationen im Anschluss an eine Zusammenkunft des betroffenen Mitgliedstaats mit der Kommission übermittelt, an der seine Vertreter teilnahmen und bei der die Kommission im Interesse des Verfahrens die Vorlage ergänzender Angaben innerhalb einer neuen, von ihr festgelegten Frist gestattete.

(vgl. Randnrn. 54-63)

3.      Das Ziel der Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe besteht nicht in der Verhängung einer vom Gemeinschaftsrecht nicht vorgesehenen Sanktion, sondern darin, dass der Beihilfeempfänger die Vergünstigung verliert, die ihm auf dem Markt gegenüber seinen Wettbewerbern zugutekam, und dass die Lage vor der Zahlung der Beihilfe wiederhergestellt wird. Die Kommission kann daher weder aus Milde einen geringeren Betrag zurückfordern als den Wert der empfangenen Beihilfe noch als Ausdruck ihrer Missbilligung hinsichtlich der Schwere des Verstoßes die Rückforderung eines diesen Wert übersteigenden Betrags anordnen. Sie muss vielmehr den genannten Wert so genau ermitteln, wie es die Umstände des Falls ermöglichen. Besondere Umstände, die nur eine annäherungsweise Schätzung des genauen Werts der Beihilfe zuließen, können zwar bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Kommission berücksichtigt werden; gleichwohl ist diese Schätzung eine tatsächliche Frage, die der Gemeinschaftsrichter in vollem Umfang nachzuprüfen hat, und die Zulässigkeit einer solchen annäherungsweisen Schätzung verleiht der Kommission keinen Ermessensspielraum hinsichtlich der Bestimmung des Betrags, dessen Rückforderung sie anordnet.

(vgl. Randnrn. 94-96)

4.      Im Rahmen der Beurteilung des Werts einer Beihilfe in Form eines Grundstücksverkaufs zu einem vermeintlichen Vorzugspreis verlangt die Anwendung des Grundsatzes des unter Marktbedingungen handelnden privaten Investors, dass der Kaufpreis zu schätzen ist, der zur damaligen Zeit unter normalen Marktbedingungen erzielt worden wäre. Bei der Untersuchung im Rahmen des Art. 88 Abs. 2 EG ist die Kommission verpflichtet, den Wert des Gegenstands anhand der verlässlichsten Methode zu bestimmen. Dieser Verpflichtung wird nicht genügt, wenn auf eine Schätzung zurückgegriffen wird, die auf den vom Verkäufer – im konkreten Fall den betroffenen Behörden – angegebenen historischen Erwerbs- und Erschließungskosten des streitigen Grundstücks beruht, und nicht auf eine unmittelbare und unabhängige Schätzung des Marktwerts dieses Grundstücks zum Zeitpunkt des Abschlusses der Übertragungsvereinbarung. Der Marktpreis eines Grundstücks richtet sich nämlich nicht zwingend nach den dem Verkäufer entstandenen Kosten, weil er von verschiedenen Faktoren, etwa dem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage im Verkaufszeitraum, beeinflusst werden kann.

(vgl. Randnrn. 106-108)

5.      Die Kommission verletzt die ihr im Rahmen des förmlichen Prüfverfahrens für staatliche Beihilfen nach Art. 88 Abs. 2 EG obliegende Verpflichtung, bei ihrer Untersuchung alle Gesichtspunkte des konkreten Falls sorgfältig und unvoreingenommen zu prüfen und sich umfassende Kenntnis von all diesen Gesichtspunkten zu verschaffen, wenn sie, obwohl ihr bekannt ist, dass die Schätzung des Beihilfebetrags, zu der sie in Anwendung der von ihr gewählten Berechnungsmethode gelangt ist, in Widerspruch zu einer Reihe anderer, auf abweichenden Methoden beruhender Schätzungen steht, nicht die notwendigen Maßnahmen trifft, um die mit ihrer eigenen Schätzung verbundenen Unsicherheitsfaktoren zu beseitigen.

(vgl. Randnrn. 135-136)

6.      Im Bereich staatlicher Beihilfen darf sich die Kommission nach den von der Rechtsprechung aufgestellten und in der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. [88 EG] genannten Grundsätzen, wenn die betreffenden Beteiligten keine gegenteiligen Informationen vorlegen, auf die in der Entscheidung über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens wiedergegebenen – auch unzutreffenden – Tatsachen stützen, die ihr zum Zeitpunkt des Erlasses der abschließenden Entscheidung vorliegen, sofern die fraglichen Tatsachen Gegenstand einer an den Mitgliedstaat gerichteten Anordnung der Kommission waren, ihr die erforderlichen Informationen vorzulegen.

Gibt sie dem Mitgliedstaat dagegen nicht auf, ihr Informationen zu den Tatsachen, die sie zu berücksichtigen beabsichtigt, zu übermitteln, kann sie anschließend etwaige fehlerhafte Sachverhaltsfeststellungen nicht damit rechtfertigen, dass sie befugt gewesen sei, bei Erlass der das förmliche Prüfverfahren abschließenden Entscheidung nur jene Informationen zu berücksichtigen, die ihr vorlagen.

Folglich kann das Gericht, wenn die Kommission ihre Entscheidung hinsichtlich bestimmter Tatsachen auf die verfügbaren Informationen stützt, ohne dabei die von der Rechtsprechung aufgestellten und in die Verordnung Nr. 659/1999 übernommenen Verfahrenserfordernisse zu beachten, die Frage prüfen, ob die Berücksichtigung dieser Tatsachen geeignet war, zu einem Beurteilungsfehler zu führen, der die angefochtene Entscheidung rechtswidrig macht.

Voraussetzung für die Berechtigung der Kommission, ihre Entscheidung auf der Grundlage der verfügbaren Informationen zu treffen, ist aber zudem, dass diese verlässlich sind; das ist nicht der Fall, wenn sie in Widerspruch zu Informationen stehen, die ihr z. B. vom Beihilfeempfänger zur Kenntnis gebracht werden.

Aus der fehlenden Zusammenarbeit eines Mitgliedstaats folgt nämlich nicht, dass das Verhalten der Kommission jeglicher Kontrolle durch den Gemeinschaftsrichter entzogen wäre. Die Kommission muss alle ihre Befugnisse einsetzen, um im Rahmen des Möglichen die fraglichen Informationen zu erlangen, und mit Sorgfalt vorgehen. Im Hinblick darauf, dass die Anordnung, eine als rechtswidrig eingestufte Beihilfe zurückzufordern, Auswirkungen auf einen Dritten hat, muss die Kommission alle ihr eingeräumten Befugnisse nutzen, um zu vermeiden, dass sich die fehlende Zusammenarbeit des fraglichen Mitgliedstaats in negativer und nicht gerechtfertigter Weise auf einen solchen Dritten auswirkt.

(vgl. Randnrn. 146-149)