Language of document : ECLI:EU:C:2012:65

Rechtssache C‑277/10

Martin Luksan

gegen

Petrus van der Let

(Vorabentscheidungsersuchen des Handelsgerichts Wien [Österreich])

„Vorabentscheidungsersuchen – Rechtsangleichung – Geistiges Eigentum – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Richtlinien 93/83/EWG, 2001/29/EG, 2006/115/EG und 2006/116/EG – Vertragliche Aufteilung der Verwertungsrechte an einem Filmwerk zwischen dem Hauptregisseur und dem Hersteller des Werks – Nationale Regelung, nach der diese Rechte kraft Gesetzes ausschließlich dem Filmhersteller zustehen – Möglichkeit der Abbedingung dieser Regel durch Parteivereinbarung – Nachfolgende Vergütungsansprüche“

Leitsätze des Urteils

1.        Völkerrechtliche Verträge – Verträge der Mitgliedstaaten – Vor dem Beitritt eines Mitgliedstaats zur Union geschlossene Verträge – Vertrag, nach dem der Mitgliedstaat eine unionsrechtswidrige Maßnahme treffen kann – Pflicht des Mitgliedstaats, vom Erlass einer solchen Maßnahme abzusehen – Unvereinbarkeit aufgrund einer Entwicklung des Unionsrechts – Unmöglichkeit für den Mitgliedstaat, sich auf den betreffenden Vertrag zu berufen, um von den aus dieser Entwicklung erwachsenen Verpflichtungen freigestellt zu werden

(Art. 351 AEUV)

2.        Rechtsangleichung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Verwertungsrechte an einem Filmwerk – Rechte, die kraft Gesetzes dem Hauptregisseur des Werks zustehen

(Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates, 2001/29, Art. 2 und 3; 2006/115, Art. 2 und 3, 2006/116, Art. 2; Richtlinie 93/83 des Rates, Art. 1 und 2)

3.        Rechtsangleichung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Verwertungsrechte an einem Filmwerk – Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, eine gesetzliche Vermutung der Abtretung dieser Rechte an den Hersteller des Werks aufzustellen – Voraussetzung – Widerlegbare Vermutung

(Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates, 2001/29 und 2006/115, Art. 3 Abs. 4 und 5)

4.        Rechtsangleichung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Verwertungsrechte an einem Filmwerk – Rechte, die kraft Gesetzes dem Hauptregisseur des Werks zustehen

(Richtlinie 2001/29 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5 Abs. 2 Buchst. b)

5.        Rechtsangleichung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Verwertungsrechte an einem Filmwerk – Anspruch auf gerechten Ausgleich im Rahmen der Privatkopieausnahme – Unmöglichkeit für die Mitgliedstaaten, eine gesetzliche Vermutung der Abtretung dieses Anspruchs an den Hersteller des Werks aufzustellen

(Richtlinie 2001/29 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5 Abs. 2 Buchst. b)

1.        Art. 351 Abs. 1 AEUV bezweckt, gemäß den Grundsätzen des Völkerrechts klarzustellen, dass die Anwendung des Vertrags nicht die Pflicht des betreffenden Mitgliedstaats berührt, die Rechte von Drittstaaten aus einer vor seinem Beitritt geschlossenen Übereinkunft zu wahren und seine entsprechenden Verpflichtungen zu erfüllen. Wenn allerdings eine solche Übereinkunft einem Mitgliedstaat gestattet, eine unionsrechtswidrige Maßnahme zu treffen, ohne ihn jedoch dazu zu verpflichten, so muss er vom Erlass einer solchen Maßnahme absehen. Diese Rechtsprechung muss entsprechende Anwendung auch dann finden, wenn sich aufgrund einer Entwicklung des Unionsrechts eine Gesetzesmaßnahme, die ein Mitgliedstaat gemäß der nach einer früheren internationalen Übereinkunft eröffneten Befugnis getroffen hat, als unionsrechtswidrig erweist. In einem solchen Fall kann sich der betroffene Mitgliedstaat nicht auf diese Übereinkunft berufen, um von den später aus dem Unionsrecht erwachsenen Verpflichtungen freigestellt zu werden.

(vgl. Randnrn. 61-63)

2.        Die Art. 1 und 2 der Richtlinie 93/83 zur Koordinierung bestimmter urheber- und leistungsschutzrechtlicher Vorschriften betreffend Satellitenrundfunk und Kabelweiterverbreitung einerseits sowie die Art. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft in Verbindung mit den Art. 2 und 3 der Richtlinie 2006/115 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums und Art. 2 der Richtlinie 2006/116 über die Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte andererseits sind dahin auszulegen, dass die Verwertungsrechte an dem Filmwerk (Vervielfältigungsrecht, Recht zur Ausstrahlung über Satellit und jedes andere Recht zur Wiedergabe im Wege der öffentlichen Zugänglichmachung) kraft Gesetzes unmittelbar und originär dem Hauptregisseur zustehen. Folglich sind diese Bestimmungen dahin auszulegen, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die die genannten Verwertungsrechte kraft Gesetzes ausschließlich dem Produzenten des betreffenden Werks zuweisen.

Art. 2 der Richtlinie 93/83 und die Art. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29 können insoweit nicht mit Blick auf Art. 1 Abs. 4 des Urheberrechtsvertrags der Weltorganisation für geistiges Eigentum in dem Sinne ausgelegt werden, dass ein Mitgliedstaat in seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften auf der Grundlage des Art. 14bis der Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst, indem er von der ihm dort eingeräumten Befugnis Gebrauch macht, dem Hauptregisseur eines Filmwerks die Verwertungsrechte an diesem Werk absprechen kann, weil eine solche Auslegung nicht die einschlägigen Unionszuständigkeiten beachten würde, nicht mit dem von der Richtlinie 2001/29 verfolgten Ziel vereinbar wäre und auch nicht mit den Anforderungen in Einklang stünde, die sich aus Art. 17 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben, der den Schutz des geistigen Eigentums garantiert.

(vgl. Randnrn. 71-72, Tenor 1)

3.        Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten die Möglichkeit lässt, eine Vermutung der Abtretung der Verwertungsrechte an dem Filmwerk (Recht zur Ausstrahlung über Satellit, Vervielfältigungsrecht und jedes andere Recht zur Wiedergabe im Wege der öffentlichen Zugänglichmachung) an den Produzenten des Filmwerks aufzustellen, vorausgesetzt, dass eine solche Vermutung nicht unwiderlegbar ist und damit die Möglichkeit für den Hauptregisseur des Filmwerks ausschlösse, eine anderslautende Vereinbarung zu treffen.

(vgl. Randnr. 87, Tenor 2)

4.        Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass der Hauptregisseur in seiner Eigenschaft als Urheber des Filmwerks kraft Gesetzes unmittelbar und originär Berechtigter des in Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft im Rahmen der sogenannten Privatkopieausnahme vorgesehenen Anspruchs auf gerechten Ausgleich sein muss.

(vgl. Randnr. 95, Tenor 3)

5.        Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit lässt, eine Vermutung der Abtretung des dem Hauptregisseur des Filmwerks zustehenden Anspruchs auf gerechten Ausgleich an den Produzenten dieses Werks aufzustellen, wobei es nicht darauf ankommt, ob diese Vermutung unwiderlegbar oder abbedingbar ist.

Die Bestimmungen des Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft erlegen nämlich dem Mitgliedstaat, der die Privatkopieausnahme in seinem nationalen Recht eingeführt hat, eine Ergebnispflicht in dem Sinne auf, dass er im Rahmen seiner Zuständigkeiten eine wirksame Erhebung des gerechten Ausgleichs, der den Inhabern der verletzten Rechte den entstandenen Schaden ersetzen soll, sicherstellen muss, da diesen Bestimmungen sonst jede praktische Wirksamkeit genommen würde. Den Mitgliedstaaten eine solche Ergebnispflicht zur Erhebung des gerechten Ausgleichs für die Rechtsinhaber aufzuerlegen, lässt sich aber konzeptionell nicht mit der Möglichkeit für die Rechtsinhaber vereinbaren, auf diesen gerechten Ausgleich zu verzichten, und erst recht nicht mit der Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, eine solche Abtretungsvermutung aufzustellen.

(vgl. Randnrn. 106, 108-109, Tenor 4)