Language of document : ECLI:EU:C:2015:224

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

16. April 2015(*)

„Nichtigkeitsklage – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Festlegung des Zeitpunkts, ab dem ein früherer Beschluss gilt – Bestimmung der Rechtsgrundlage – Nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltender Rechtsrahmen – Übergangsbestimmungen – Abgeleitete Rechtsgrundlage – Anhörung des Parlaments“

In der Rechtssache C‑540/13

betreffend eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV, eingereicht am 15. Oktober 2013,

Europäisches Parlament, vertreten durch F. Drexler, A. Caiola und M. Pencheva als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Kläger,

gegen

Rat der Europäischen Union, vertreten durch K. Pleśniak und A. F. Jensen als Bevollmächtigte,

Beklagter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin K. Jürimäe, der Richter J. Malenovský und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal,

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. November 2014,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. Januar 2015

folgendes

Urteil

1        Mit seiner Klage beantragt das Europäische Parlament die Nichtigerklärung des Beschlusses 2013/392/EU des Rates vom 22. Juli 2013 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633/JI über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem (VIS) für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt (ABl. L 198, S. 45, im Folgenden: angefochtener Beschluss).

 Rechtlicher Rahmen

2        Der Beschluss 2008/633/JI des Rates vom 23. Juni 2008 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem (VIS) für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten (ABl. L 218, S. 129) bestimmt in seinem Art. 18 Abs. 2:

„Dieser Beschluss gilt ab dem Zeitpunkt, der vom Rat festzulegen ist, sobald ihm die Kommission mitgeteilt hat, dass die Verordnung (EG) Nr. 767/2008 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über das Visa-Informationssystem (VIS) und den Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt (VIS-Verordnung) (ABl. L 218, S. 60)] in Kraft getreten und voll anwendbar ist.

Das Generalsekretariat des Rates veröffentlicht diesen Zeitpunkt im Amtsblatt der Europäischen Union.“

 Angefochtener Beschluss

3        Der Beschluss 2013/392, der auf den AEU-Vertrag und den Beschluss 2008/633, insbesondere dessen Art. 18 Abs. 2, gestützt wird, bestimmt in seinem Art. 1, dass der zuletzt genannte Beschluss ab dem 1. September 2013 gilt.

 Anträge der Parteien

4        Das Parlament beantragt,

–        den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

–        die Wirkungen dieses Beschlusses aufrechtzuerhalten, bis dieser durch einen neuen Rechtsakt ersetzt wird;

–        dem Rat die Kosten aufzuerlegen.

5        Der Rat beantragt,

–        die Klage als unzulässig oder zumindest als unbegründet abzuweisen;

–        hilfsweise, für den Fall, dass der angefochtene Beschluss für nichtig erklärt werden sollte, seine Wirkungen aufrechtzuerhalten, bis er durch einen neuen Rechtsakt ersetzt wird;

–        dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.

 Zur Klage

6        Das Parlament stützt seine Klage auf zwei Gründe, und zwar die Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift aufgrund der fehlenden Beteiligung des Parlaments an dem Verfahren zum Erlass des angefochtenen Beschlusses und die Wahl einer aufgehobenen oder rechtswidrigen Rechtsgrundlage.

 Zur Zulässigkeit bestimmter vom Parlament vorgebrachter Klagegründe oder Argumente

 Vorbringen der Parteien

7        Nach Ansicht des Rates sind bestimmte vom Parlament vorgebrachte Klagegründe oder Argumente als unzulässig zurückzuweisen, da es ihnen an Klarheit und Deutlichkeit mangele. Dies betreffe die Klagegründe oder Argumente hinsichtlich des Verstoßes gegen eine wesentliche Formvorschrift, zur Anwendung von Art. 39 Abs. 1 EU, zur Wahl einer aufgehobenen Rechtsgrundlage und zum Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des institutionellen Gleichgewichts.

8        Das Parlament trägt vor, dass die Klageschrift hinreichend klar und deutlich sei.

 Würdigung durch den Gerichtshof

9        Nach Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs und der dazu ergangenen Rechtsprechung muss die Klageschrift den Streitgegenstand, die vorgebrachten Klagegründe und Argumente sowie eine kurze Darstellung dieser Klagegründe enthalten. Diese Angaben müssen so klar und deutlich sein, dass sie dem Beklagten die Vorbereitung seines Verteidigungsvorbringens und dem Gerichtshof die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe ermöglichen. Folglich müssen sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die eine Klage gestützt wird, zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben, und die Anträge in der Klageschrift müssen eindeutig formuliert sein, damit der Gerichtshof nicht ultra petita entscheidet oder eine Rüge übergeht (vgl. in diesem Sinne Urteil Vereinigtes Königreich/Rat, C‑209/13, EU:C:2014:283, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

10      Im vorliegenden Fall genügt die Darstellung der Klagegründe und Argumente der Klageschrift, die der Rat als unklar und undeutlich beanstandet, diesen Anforderungen. Sie hat es dem Rat insbesondere ermöglicht, eine Verteidigung in Bezug auf diese Klagegründe oder Argumente zu formulieren, und versetzt den Gerichtshof in die Lage, den angefochtenen Beschluss gerichtlich zu überprüfen.

11      Daher ist die Einrede der Unzulässigkeit wegen angeblich fehlender Klarheit und Deutlichkeit der Klageschrift zurückzuweisen.

12      Da die Rechtsgrundlage für das beim Erlass eines Rechtsakts zu befolgende Verfahren maßgebend ist (Urteile Parlament/Rat, C‑130/10, EU:C:2012:472, Rn. 80, und Parlament/Rat, C‑658/11, EU:C:2014:2025, Rn. 57), ist als Erstes der zweite Klagegrund zu prüfen.

 Zum zweiten Klagegrund: Wahl einer aufgehobenen oder rechtswidrigen Rechtsgrundlage

 Zum ersten Teil des zweiten Klagegrundes: Wahl einer aufgehobenen Rechtsgrundlage

–       Vorbringen der Parteien

13      Das Parlament macht geltend, dass die in dem angefochtenen Beschluss enthaltene Bezugnahme auf den AEU-Vertrag zu allgemein sei, um als Rechtsgrundlage für diesen Beschluss zu dienen, und dass Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 nicht als eine echte Rechtsgrundlage angesehen werden könne.

14      Diese Bestimmung beschränke sich nämlich auf eine implizite Bezugnahme auf Art. 34 Abs. 2 Buchst. c EU, der die einzig mögliche Rechtsgrundlage für den Erlass einer Maßnahme wie des angefochtenen Beschlusses im Rahmen der ehemaligen „dritten Säule“ dargestellt habe.

15      Folglich sei die vom Rat verwendete Rechtsgrundlage Art. 34 Abs. 2 Buchst. c EU. Da jedoch dieser Art. 34 durch den Vertrag von Lissabon aufgehoben worden sei, könne er nicht mehr als Rechtsgrundlage für den Erlass neuer Rechtsakte herangezogen werden. Der Umstand, dass eine Bestimmung des abgeleiteten Rechts implizit auf diesen Art. 34 Bezug nehme, sei in diesem Zusammenhang unerheblich, da diese Bestimmung infolge des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon als nunmehr unanwendbar anzusehen sei.

16      Der Rat erläutert, dass er den angefochtenen Beschluss auf der Grundlage von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 in Verbindung mit Art. 9 des Protokolls Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen (im Folgenden: Protokoll über die Übergangsbestimmungen) erlassen habe. In dem angefochtenen Beschluss sei weder der EU-Vertrag im Allgemeinen noch Art. 34 Abs. 2 Buchst. c EU im Besonderen erwähnt.

–       Würdigung durch den Gerichtshof

17      Zur Beurteilung der Begründetheit des ersten Teils des zweiten Klagegrundes ist die Rechtsgrundlage zu bestimmen, auf der der angefochtene Beschluss erlassen worden ist.

18      Hierzu ist festzustellen, dass dieser Beschluss nicht auf Art. 34 EU Bezug nimmt und dass seine Bezugsvermerke ausdrücklich auf den AEU-Vertrag sowie auf Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 verweisen.

19      In Anbetracht des Wortlauts des angefochtenen Beschlusses, der grundsätzlich die Rechtsgrundlage, auf die er gestützt ist, anführen muss, damit die Begründungspflicht erfüllt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Rat, C‑370/07, EU:C:2009:590, Rn. 39 und 55), kann daher nicht angenommen werden, dass dieser Beschluss auf Art. 34 EU beruht.

20      Im Übrigen lässt auch kein anderer Bestandteil des angefochtenen Beschlusses erkennen, dass der Rat die Absicht gehabt hätte, Art. 34 EU als Rechtsgrundlage für diesen Beschluss zu verwenden.

21      Vor allem ist die Annahme, dass Art. 34 Abs. 2 Buchst. c EU die einzig mögliche Rechtsgrundlage für den Erlass einer Maßnahme wie des angefochtenen Beschlusses darstellte, selbst wenn sie zutrifft, in diesem Zusammenhang unerheblich, da die ausdrückliche Entscheidung des Rates, in dem angefochtenen Beschluss nicht diese Bestimmung, sondern den AEU-Vertrag und Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 zu nennen, eindeutig zum Ausdruck bringt, dass der angefochtene Beschluss auf die zuletzt genannte Bestimmung als solche gestützt ist.

22      Daraus folgt, dass die Aufhebung von Art. 34 EU durch den Vertrag von Lissabon dem angefochtenen Beschluss nicht seine Rechtsgrundlage entzieht.

23      Angesichts dessen ist der erste Teil des zweiten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum zweiten Teil des zweiten Klagegrundes: Wahl einer rechtswidrigen Rechtsgrundlage

–       Vorbringen der Parteien

24      Nach Auffassung des Parlaments stellt Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633, falls diese Bestimmung als Rechtsgrundlage des angefochtenen Beschlusses anzusehen sei, eine rechtswidrige abgeleitete Rechtsgrundlage dar, auf die dieser Beschluss nicht rechtswirksam gestützt werden könne.

25      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich nämlich, dass die Schaffung einer abgeleiteten Rechtsgrundlage, die die Modalitäten für den Erlass eines Rechtsakts erleichtere, nicht mit den Verträgen vereinbar sei. Dies treffe auf Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 zu, da darin keine Anhörung des Parlaments vorgesehen sei, obwohl diese in Art. 39 EU im Hinblick auf den Erlass einer Maßnahme wie des angefochtenen Beschlusses vorgeschrieben gewesen sei.

26      Außerdem sei Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon unanwendbar geworden und enthalte eine rechtswidrige Abweichung von dem durch diesen Vertrag für den Erlass neuer Rechtsakte eingeführten Verfahren. Eine solche Abweichung werde durch Art. 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen nicht gestattet. Aus dieser Vorschrift ergebe sich lediglich, dass die Rechtsakte der ehemaligen „dritten Säule“ durch das Inkrafttreten dieses Vertrags nicht automatisch aufgehoben würden.

27      Der Rat bestreitet in erster Linie die Zulässigkeit der vom Parlament erhobenen Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633. In diesem Zusammenhang macht er geltend, dass nach Art. 10 Abs. 1 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen die Befugnisse des Gerichtshofs hinsichtlich dieses Beschlusses bis zum 1. Dezember 2014 diejenigen geblieben seien, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon existiert hätten. Jedoch habe der damals geltende Art. 35 Abs. 6 EU keine Möglichkeit für das Parlament zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage gegen einen im Rahmen der ehemaligen „dritten Säule“ erlassenen Rechtsakt wie diesen Beschluss vorgesehen. Aus der damaligen sachlichen Unzuständigkeit des Gerichtshofs ergebe sich, dass die vom Parlament erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit für unzulässig zu erklären sei.

28      Hilfsweise trägt der Rat vor, dass Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 bei seinem Erlass mit dem EU-Vertrag in Einklang gestanden habe. Diese Bestimmung beschränke sich nämlich darauf, die Anwendung des in Art. 34 Abs. 2 Buchst. c EU festgelegten Verfahrens vorzusehen, und habe daher kein Verfahren sui generis eingeführt, das die Anhörung des Parlaments ausschließe.

29      Hinsichtlich der Wirkungen des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon macht der Rat geltend, dass die vom Parlament vorgeschlagene Auslegung von Art. 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen jede Möglichkeit des Erlasses der in den Rechtsakten der ehemaligen „dritten Säule“ vorgesehenen Durchführungsmaßnahmen paralysiere, was genau die Situation darstelle, die die Verfasser der Verträge hätten vermeiden wollen.

–       Würdigung durch den Gerichtshof

30      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs muss die Wahl der Rechtsgrundlage eines Unionsrechtsakts auf objektiven und gerichtlich nachprüfbaren Umständen beruhen, zu denen das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören (Urteil Kommission/Parlament und Rat, C‑43/12, EU:C:2014:298, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      In dieser Hinsicht ist hervorzuheben, dass zwischen den Parteien zum Verhältnis zwischen Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 und dem Ziel oder dem Inhalt des angefochtenen Beschlusses keine Uneinigkeit besteht. Allerdings stellt das Parlament die Rechtmäßigkeit dieser Bestimmung in Abrede, indem es geltend macht, dass sie die Modalitäten für den Erlass einer Maßnahme wie des angefochtenen Beschlusses im Verhältnis zu dem hierfür in den Verträgen vorgesehenen Verfahren erleichtere.

32      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können jedoch – da die Grundsätze über die Willensbildung der Unionsorgane in den Verträgen festgelegt sind und nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen – allein die Verträge ein Organ in besonderen Fällen dazu ermächtigen, ein von ihnen geschaffenes Entscheidungsverfahren zu ändern. Würde daher einem Organ die Möglichkeit zur Schaffung abgeleiteter Rechtsgrundlagen gegeben, sei es im Sinne einer Verschärfung oder einer Erleichterung der Modalitäten des Erlasses eines Rechtsakts, so liefe dies darauf hinaus, ihm eine Rechtsetzungsbefugnis zu verleihen, die über das in den Verträgen vorgesehene Maß hinausginge (vgl. Urteil Parlament/Rat, C‑133/06, EU:C:2008:257, Rn. 54 bis 56).

33      Dieses Ergebnis, das im Urteil Parlament/Rat (C‑133/06, EU:C:2008:257) für eine abgeleitete Rechtsgrundlage gefunden wurde, die den Erlass von Rechtsetzungsakten ermöglichte, ist auch auf die in einem Rechtsakt des abgeleiteten Rechts vorgesehenen Rechtsgrundlagen anzuwenden, die den Erlass von Durchführungsmaßnahmen dieses Rechtsakts ermöglichen und dabei die in den Verträgen vorgesehenen Modalitäten des Erlasses solcher Maßnahmen verschärfen oder erleichtern.

34      Auch wenn nämlich die Verträge vorsehen, dass das Parlament und der Rat bestimmte Regeln für die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission festlegen, binden gleichwohl die in den Verträgen vorgesehenen spezifischen Regeln über den Erlass von Durchführungsmaßnahmen die Organe genauso wie diejenigen für den Erlass von Rechtsetzungsakten, so dass ihnen durch abgeleitete Rechtsakte nicht widersprochen werden darf.

35      Da die Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seines Erlasses zu beurteilen ist (vgl. entsprechend Urteile Gualtieri/Kommission, C‑485/08 P, EU:C:2010:188, Rn. 26, Schindler Holding u. a./Kommission, C‑501/11 P, EU:C:2013:522, Rn. 31, und Schaible, C‑101/12, EU:C:2013:661, Rn. 50), ist die Rechtmäßigkeit von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 in diesem Zusammenhang anhand der Bestimmungen zu beurteilen, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses den Erlass einer Maßnahme wie des angefochtenen Beschlusses regelten, d. h. anhand der Art. 34 Abs. 2 Buchst. c EU und 39 Abs. 1 EU.

36      Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass der Rat, der je nachdem einstimmig oder mit qualifizierter Mehrheit beschließt, nach Anhörung des Parlaments für Zwecke, die mit anderen als den in Art. 34 Abs. 2 Buchst. a und b EU genannten Zielen des Titels VI des EU-Vertrags in Einklang stehen, Beschlüsse fasst und die zur Durchführung dieser Beschlüsse erforderlichen Maßnahmen trifft.

37      In diesem Zusammenhang ist zwar festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 den Rat nicht dazu verpflichtet, das Parlament vor Erlass der in dieser Bestimmung vorgesehenen Maßnahme anzuhören.

38      Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Bestimmung des abgeleiteten Unionsrechts jedoch möglichst so auszulegen, dass sie mit den Bestimmungen der Verträge vereinbar ist (Urteil Efir, C‑19/12, EU:C:2013:148, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Da sich zum einen die Verpflichtung zur Auslegung eines Rechtsakts des abgeleiteten Rechts im Einklang mit dem Primärrecht aus dem allgemeinen Auslegungsgrundsatz ergibt, wonach eine Bestimmung so weit wie möglich in einer ihre Rechtmäßigkeit nicht in Frage stellenden Weise auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 47 und 48, und Überprüfung Kommission/Strack, C‑579/12 RX‑II, EU:C:2013:570, Rn. 40), und zum anderen die Rechtmäßigkeit von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 aus den in Rn. 35 des vorliegenden Urteils genannten Gründen insbesondere anhand von Art. 39 Abs. 1 EU zu beurteilen ist, ist daher die zuerst genannte Bestimmung im Einklang mit der zuletzt genannten Vorschrift auszulegen.

40      Folglich ist Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 im Einklang mit Art. 39 Abs. 1 EU dahin auszulegen, dass er dem Rat nur nach Anhörung des Parlaments gestattet, einen Rechtsakt zu erlassen, in dem der Zeitpunkt, ab dem dieser Beschluss gilt, festgelegt werden soll. Dementsprechend ist das Argument des Parlaments zurückzuweisen, wonach der Umstand, dass die zuerst genannte Bestimmung keine Verpflichtung zu seiner Anhörung vorsehe, bedeute, dass dadurch Modalitäten des Erlasses einer Maßnahme wie des angefochtenen Beschlusses eingeführt würden, die im Vergleich zu dem im EU-Vertrag hierfür vorgesehenen Verfahren erleichtert seien.

41      Hinsichtlich des Vorbringens des Parlaments zur Unvereinbarkeit von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 mit den nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon anwendbaren Verfahrensvorschriften ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass das Protokoll über die Übergangsbestimmungen Vorschriften speziell zu den rechtlichen Regelungen enthält, die nach Inkrafttreten dieses Vertrags auf die vor diesem Zeitpunkt auf der Grundlage des EU-Vertrags erlassenen Rechtsakte anwendbar sind.

42      So sieht Art. 9 dieses Protokolls vor, dass diese Rechtsakte so lange Rechtswirkung behalten, bis sie in Anwendung der Verträge aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden.

43      Diese Vorschrift ist im Licht des ersten Erwägungsgrundes dieses Protokolls auszulegen, wonach zur Regelung des Übergangs von den institutionellen Bestimmungen der Verträge, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon anwendbar sind, zu den Bestimmungen dieses Vertrags Übergangsbestimmungen vorgesehen werden müssen.

44      Da der institutionelle Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen durch den Vertrag von Lissabon wesentliche Änderungen erfahren hat, ist Art. 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen daher so zu verstehen, dass er insbesondere sicherstellen soll, dass die im Rahmen dieser Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte trotz der Änderung des institutionellen Rahmens dieser Zusammenarbeit weiterhin wirksam angewendet werden können.

45      Folgte man dem Argument des Parlaments, wonach es die Aufhebung der besonderen Verfahren zum Erlass von Maßnahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen durch den Vertrag von Lissabon unmöglich mache, solche Maßnahmen unter den Voraussetzungen der im Rahmen dieser Zusammenarbeit erlassenen allgemeinen Rechtsakte zu erlassen, solange diese Rechtsakte nicht geändert worden seien, um an den Vertrag von Lissabon angepasst zu werden, würde dies nur dazu führen, die wirksame Anwendung dieser Rechtsakte zu erschweren, wenn nicht gar zu verhindern, und dadurch die Verwirklichung des von den Verfassern der Verträge verfolgten Ziels zu gefährden.

46      Im Übrigen würde die vom Parlament vorgeschlagene Auslegung von Art. 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen, wonach dieser Artikel lediglich bedeute, dass die Rechtsakte im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht automatisch aufgehoben würden, diesem Artikel jede praktische Wirksamkeit nehmen.

47      Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass eine Bestimmung eines vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ordnungsgemäß auf der Grundlage des EU-Vertrags ergangenen Rechtsakts, die Modalitäten für den Erlass anderer Maßnahmen vorsieht, weiterhin ihre Rechtswirkungen entfaltet, solange sie nicht aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert worden ist, und den Erlass dieser Maßnahmen in Anwendung des von ihr definierten Verfahrens ermöglicht.

48      Daraus, dass Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 möglicherweise im Vergleich zu dem hierfür durch den AEU-Vertrag vorgesehenen Verfahren verschärfte oder erleichterte Modalitäten für den Erlass einer Maßnahme wie des angefochtenen Beschlusses vorsieht, folgt somit nicht, dass diese Bestimmung eine rechtswidrige abgeleitete Rechtsgrundlage darstellt, deren Anwendung im Wege der Einrede ausgeschlossen werden müsste.

49      Daher und unter diesen Umständen ist der zweite Teil des zweiten Klagegrundes, ohne dass über seine Zulässigkeit entschieden zu werden braucht, als unbegründet zurückzuweisen (vgl. entsprechend Urteile Frankreich/Kommission, C‑233/02, EU:C:2004:173, Rn. 26, und Komninou u. a./Kommission, C‑167/06 P, EU:C:2007:633, Rn. 32) und somit dieser Klagegrund vollumfänglich zurückzuweisen.

 Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen eine wesentliche Formvorschrift

 Vorbringen der Parteien

50      Das Parlament ist der Ansicht, dass es, falls die vor dem Vertrag von Lissabon geltende Regelung im vorliegenden Fall anwendbar bleibe, in Anwendung von Art. 39 Abs. 1 EU hätte angehört werden müssen.

51      Dagegen sieht nach Auffassung des Rates Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 keine Beteiligung des Parlaments am Erlass des angefochtenen Beschlusses vor. Nach der Aufhebung von Art. 39 EU durch den Vertrag von Lissabon sei das Parlament zum Erlass von Durchführungsmaßnahmen dieses Beschlusses nicht mehr anzuhören.

52      Art. 10 Abs. 1 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen bestätige diese Analyse, da er unter den Bestimmungen, deren Wirkungen nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon aufrechterhalten blieben, Art. 39 EU nicht aufführe. Die Aufnahme einer Verpflichtung zur Anhörung des Parlaments in das Erlassverfahren liefe im Übrigen darauf hinaus, dem in Art. 291 AEUV vorgesehenen Verfahren einen Bestandteil hinzuzufügen, der dort nicht vorgesehen sei, und würde so das durch den Vertrag von Lissabon geschaffene institutionelle Gleichgewicht in Frage stellen.

 Würdigung durch den Gerichtshof

53      Die ordnungsgemäße Anhörung des Parlaments in den durch die anwendbaren Regelungen des Unionsrechts vorgesehenen Fällen stellt ein wesentliches Formerfordernis dar, dessen Missachtung die Nichtigkeit der betroffenen Handlung zur Folge hat (vgl. in diesem Sinne Urteile Parlament/Rat, C‑65/93, EU:C:1995:91, Rn. 21, und Parlament/Rat, C‑417/93, EU:C:1995:127, Rn. 9).

54      Da sich aus der Würdigung des zweiten Klagegrundes ergibt, dass der Rat den angefochtenen Beschluss rechtswirksam auf Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 stützen konnte, ist daher zu untersuchen, ob das Parlament vor dem Erlass eines Rechtsakts auf der Grundlage dieser Bestimmung anzuhören ist.

55      In dieser Hinsicht ergibt sich aus den Erwägungen in den Rn. 40 bis 47 des vorliegenden Urteils, dass Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633, im Einklang mit Art. 39 Abs. 1 EU ausgelegt, weiterhin seine Rechtswirkungen entfaltet, solange er nicht aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert worden ist, und den Erlass einer Maßnahme wie des angefochtenen Beschlusses in Anwendung des von ihm definierten Verfahrens ermöglicht. Daher ist der Rat gehalten, das Parlament anzuhören, bevor er den Zeitpunkt festlegt, ab dem dieser Beschluss gilt.

56      Entgegen dem Vorbringen des Rates kann die Aufhebung von Art. 39 Abs. 1 EU durch den Vertrag von Lissabon diese Pflicht zur Anhörung des Parlaments nicht in Frage stellen.

57      In Anbetracht der Erwägungen in Rn. 39 des vorliegenden Urteils kann nämlich die Aufhebung von Art. 39 Abs. 1 EU nach Erlass von Art. 18 Abs. 2 des Beschlusses 2008/633 die Verpflichtung zur Auslegung dieser Bestimmung im Einklang mit Art. 39 Abs. 1 EU nicht beseitigen.

58      Ebenso wenig von Bedeutung ist der Umstand, dass Art. 291 AEUV keine Verpflichtung zur Anhörung des Parlaments vorsieht. Denn die Verpflichtung, das Parlament anzuhören, stellt eine der Rechtswirkungen des Beschlusses 2008/633 dar, die gemäß Art. 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen in seiner Auslegung in Rn. 47 des vorliegenden Urteils nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon fortbesteht.

59      Es ist jedoch unstreitig, dass der angefochtene Beschluss vom Rat ohne vorherige Anhörung des Parlaments erlassen wurde.

60      Daher ist der erste Klagegrund, mit dem der Verstoß gegen eine wesentliche Formvorschrift gerügt wird, begründet und der angefochtene Beschluss folglich für nichtig zu erklären.

 Zum Antrag auf Aufrechterhaltung der Wirkungen des angefochtenen Beschlusses

61      Sowohl das Parlament als auch der Rat beantragen für den Fall, dass der Gerichtshof den angefochtenen Beschluss für nichtig erklärt, seine Wirkungen aufrechtzuerhalten, bis er durch einen neuen Rechtsakt ersetzt wird.

62      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, wenn er eine Handlung für nichtig erklärt, nach Art. 264 Abs. 2 AEUV, falls er dies für notwendig hält, diejenigen ihrer Wirkungen bezeichnen kann, die als fortgeltend zu betrachten sind.

63      Würde man im vorliegenden Fall den angefochtenen Beschluss für nichtig erklären, ohne die Fortgeltung seiner Wirkungen vorzusehen, könnte dies den Zugang der nationalen Behörden und von Europol zum Visa-Informationssystem (VIS) zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung von Terrorismus und schwerer Kriminalität beeinträchtigen und somit die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung erschweren. Das Parlament beantragt zwar die Nichtigerklärung dieses Beschlusses wegen des Verstoßes gegen eine wesentliche Formvorschrift, wendet sich aber weder gegen dessen Ziel noch gegen dessen Inhalt.

64      Daher sind die Wirkungen des angefochtenen Beschlusses bis zum Inkrafttreten eines neuen Rechtsakts, der ihn ersetzen soll, aufrechtzuerhalten.

 Kosten

65      Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm entsprechend dem dahin gehenden Antrag des Parlaments die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Der Beschluss 2013/392/EU des Rates vom 22. Juli 2013 zur Festlegung des Zeitpunkts, ab dem der Beschluss 2008/633/JI über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem (VIS) für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten gilt, wird für nichtig erklärt.

2.      Die Wirkungen des Beschlusses 2013/392 werden bis zum Inkrafttreten eines neuen Rechtsakts, der ihn ersetzen soll, aufrechterhalten.

3.      Der Rat der Europäischen Union trägt die Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.