Rechtssache T‑610/19
Deutsche Telekom AG
gegen
Europäische Kommission
Urteil des Gerichts (Siebte erweiterte Kammer) vom 19. Januar 2022
„Nichtigkeits- und Schadensersatzklage – Wettbewerb – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Slowakischer Markt für Breitbandtelekommunikationsdienste – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV und Art. 54 des EWR-Abkommens festgestellt wird – Urteil, mit dem der Beschluss teilweise für nichtig erklärt und die verhängte Geldbuße herabgesetzt wird – Weigerung der Kommission, Verzugszinsen zu zahlen – Art. 266 AEUV – Art. 90 Abs. 4 Buchst. a der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 1268/2012 – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Vorenthaltung der Nutzung des rechtsgrundlos gezahlten Betrags der Geldbuße – Entgangener Gewinn – Verzugszinsen – Satz – Schaden“
1. Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Schaden – Kausalzusammenhang – Nichtvorliegen einer der Voraussetzungen – Abweisung der Schadensersatzklage in vollem Umfang
(Art. 340 Abs. 2 AEUV)
(vgl. Rn. 30-32)
2. Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Tatsächlicher und sicherer Schaden – Beweislast – Rückzahlung einer vom Unionsrichter für nichtig erklärten und herabgesetzten Geldbuße durch die Kommission – Dem betroffenen Unternehmen im Vergleich zum zurückgezahlten Betrag entgangener Gewinn – Keine Beweise für die Möglichkeit, Investitionen zu tätigen, mit denen sich eine Rendite hätte erzielen lassen, die der Rendite des eingesetzten Kapitals oder den gewichteten durchschnittlichen Kapitalkosten entsprochen hätte – Kein tatsächlicher und sicherer Schaden
(Art. 340 Abs. 2 AEUV)
(vgl. Rn. 39-48, 51, 52)
3. Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Verstoß der Kommission gegen ihre Pflicht, die auf den zurückgezahlten Betrag einer vom Unionsrichter für nichtig erklärten und herabgesetzten Geldbuße entfallenden Verzugszinsen zu zahlen – Verstoß gegen Art. 266 AEUV – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht
(Art. 261 und 263 sowie Art. 266 Abs. 1 und Art. 340 Abs. 2 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 31)
(vgl. Rn. 71-76, 95, 111-113)
4. Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Rückzahlung einer vom Unionsrichter für nichtig erklärten und herabgesetzten Geldbuße durch die Kommission – Weigerung der Kommission, Verzugszinsen auf den zurückgezahlten Betrag zu zahlen – Ex-tunc-Wirkung der vom Unionsrichter ausgesprochenen Nichtigerklärung und Herabsetzung – Verzugszinsen, die zum Zeitpunkt der vorläufigen Zahlung der Geldbuße bestimmt oder anhand feststehender objektiver Faktoren bestimmbar waren
(Art. 340 Abs. 2 AEUV; Verordnung Nr. 1268/2012 der Kommission, Art. 83 und 90; Beschluss C(2013) 2488 final der Kommission, Art. 24 Abs. 2)
(vgl. Rn. 78-87, 95)
5. Eigenmittel der Europäischen Union – Der Kommission obliegende Begleichung einer Forderung – Geschuldete Zinsen – Rückzahlung einer vom Unionsrichter für nichtig erklärten und herabgesetzten Geldbuße durch die Kommission – Pflicht zur Zahlung von Verzugszinsen auf den zurückgezahlten Betrag ab dem Tag der Zahlung der Geldbuße – Unvereinbarkeit mit der Abschreckungsfunktion von Geldbußen – Fehlen
(Art. 266 Abs. 1 AEUV)
(vgl. Rn. 91-94)
6. Eigenmittel der Europäischen Union – Der Kommission obliegende Begleichung einer Forderung – Geschuldete Zinsen – Teilrückzahlung einer vom Unionsrichter herabgesetzten Geldbuße durch die Kommission – Befugnis der Kommission, in einer Einzelfallentscheidung die Rückzahlungsbedingungen festzulegen – Fehlen
(Art. 266 Abs. 1 AEUV; Verordnung Nr. 1268/2012 der Kommission, Art. 90 Abs. 4)
(vgl. Rn. 96-105)
7. Eigenmittel der Europäischen Union – Der Kommission obliegende Begleichung einer Forderung – Geschuldete Zinsen – Ausgleichszinsen – Verzugszinsen – Unterscheidung – Maßnahme zur Durchführung eines unionsgerichtlichen Urteils, mit dem eine Geldbuße teilweise für nichtig erklärt und ihre Höhe herabgesetzt wurde
(Art. 266 Abs. 1 AEUV)
(vgl. Rn. 107-110)
8. Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Kausalzusammenhang – Rückzahlung einer vom Unionsrichter für nichtig erklärten und herabgesetzten Geldbuße durch die Kommission – Weigerung der Kommission, Verzugszinsen auf den zurückgezahlten Betrag zu zahlen – Aus dieser Weigerung resultierender Schaden – Bestehen eines Kausalzusammenhangs
(Art. 266 Abs. 1 und Art. 340 Abs. 2 AEUV)
(vgl. Rn. 116-118)
9. Eigenmittel der Europäischen Union – Der Kommission obliegende Begleichung einer Forderung – Geschuldete Zinsen – Rückzahlung einer vom Unionsrichter für nichtig erklärten und herabgesetzten Geldbuße durch die Kommission – Bestimmung des Satzes der geschuldeten Zinsen – Sofortige Zahlung der Geldbuße – Zahlungsaufschub in Verbindung mit der Stellung einer Bankgarantie – Unterscheidung
(Verordnung Nr. 1268/2012 der Kommission, Art. 83 und 111)
(vgl. Rn. 120-123, 127-137)
Zusammenfassung
Das Gericht hat der Deutschen Telekom eine Entschädigung in Höhe von ca. 1,8 Mio. Euro zugesprochen, um den Schaden auszugleichen, der ihr durch die Weigerung der Europäischen Kommission entstanden war, ihr Verzugszinsen auf den Betrag der Geldbuße zu zahlen, den sie im Zusammenhang mit einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln rechtsgrundlos gezahlt hatte.
Mit Beschluss vom 15. Oktober 2014(1) verhängte die Europäische Kommission gegen die Deutsche Telekom AG (im Folgenden: Deutsche Telekom) eine Geldbuße in Höhe von 31 070 000 Euro wegen eines gegen Art. 102 AEUV und Art. 54 des EWR-Abkommens verstoßenden Missbrauchs einer beherrschenden Stellung auf dem slowakischen Markt für Breitbandtelekommunikationsdienste.
Die Deutsche Telekom erhob eine Nichtigkeitsklage gegen diesen Beschluss, zahlte aber am 16. Januar 2015 die Geldbuße. Mit Urteil vom 13. Dezember 2018(2) gab das Gericht der Klage der Deutschen Telekom teilweise statt und setzte die Geldbuße in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung um 12 039 019 Euro herab. Am 19. Februar 2019 erstattete die Kommission der Deutschen Telekom diesen Betrag.
Mit Schreiben vom 28. Juni 2019 (im Folgenden: angefochtener Beschluss) lehnte es die Kommission hingegen ab, der Deutschen Telekom für den Zeitraum von der Zahlung der Geldbuße bis zur Rückzahlung des für rechtsgrundlos befundenen Teils der Geldbuße (im Folgenden: fraglicher Zeitraum) Verzugszinsen zu zahlen.
Daher erhob die Deutsche Telekom beim Gericht Klage auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses sowie auf Verurteilung der Kommission zur Zahlung einer Entschädigung für den entgangenen Gewinn infolge der Vorenthaltung der Nutzung des Hauptbetrags des rechtsgrundlos gezahlten Teils der Geldbuße im fraglichen Zeitraum oder, hilfsweise, auf Ersatz des Schadens, der ihr durch die Weigerung der Kommission, Verzugszinsen auf diesen Betrag zu zahlen, entstanden sei.
Mit ihrem Urteil hat die Siebte erweiterte Kammer des Gerichts der Nichtigkeits- und Schadensersatzklage der Deutschen Telekom teilweise stattgegeben. Hierbei hat sie sich zu der Frage geäußert, inwieweit die Kommission verpflichtet ist, Verzugszinsen auf den Teil der Geldbuße zu zahlen, der dem betroffenen Unternehmen im Anschluss an ein unionsgerichtliches Urteil zu erstatten ist.
Würdigung durch das Gericht
Als Erstes hat das Gericht den Antrag der Deutschen Telekom zurückgewiesen, sie im Rahmen der außervertraglichen Haftung der Union für den entgangenen Gewinn zu entschädigen, der ihr durch die Vorenthaltung der Nutzung des rechtsgrundlos gezahlten Teils der Geldbuße im fraglichen Zeitraum entstanden sei und der jährlichen Rendite ihres eingesetzten Kapitals oder ihren gewichteten durchschnittlichen Kapitalkosten entspreche.
Insoweit hat das Gericht darauf hingewiesen, dass die außervertragliche Haftung der Union davon abhängt, dass mehrere kumulative Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht (1), das tatsächliche Bestehen des Schadens (2) sowie ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß und dem entstandenen Schaden (3), wofür der Kläger beweispflichtig ist.
Im vorliegenden Fall hatte die Deutsche Telekom aber keine schlüssigen Beweise dafür vorgelegt, dass der geltend gemachte Schaden tatsächlich und sicher eingetreten war. Insbesondere hatte sie weder nachgewiesen, dass sie den rechtsgrundlos gezahlten Betrag der Geldbuße zwangsläufig in ihre Tätigkeiten investiert hätte, noch, dass die Vorenthaltung der Nutzung dieses Betrags sie dazu veranlasst hatte, auf bestimmte konkrete Projekte zu verzichten. In diesem Zusammenhang hatte die Deutsche Telekom auch nicht dargetan, dass sie nicht über die erforderlichen Mittel verfügte, um eine Investitionsmöglichkeit zu nutzen.
Als Zweites hat sich das Gericht mit dem von der Deutschen Telekom hilfsweise gestellten Schadensersatzantrag wegen Verstoßes gegen Art. 266 AEUV befasst, dessen Abs. 1 vorsieht, dass die Organe, deren Handeln durch ein unionsgerichtliches Urteil für nichtig erklärt wird, alle sich aus diesem Urteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen haben.
Das Gericht hat zum einen festgestellt, dass Art. 266 Abs. 1 AEUV dadurch, dass er den Organen die Verpflichtung auferlegt, alle sich aus unionsgerichtlichen Urteilen ergebenden Maßnahmen zu ergreifen, dem vor dem Unionsgericht erfolgreichen Einzelnen Rechte verleiht. Zum anderen hat das Gericht darauf hingewiesen, dass Verzugszinsen einen unerlässlichen Bestandteil der den Organen nach dieser Bestimmung obliegenden Verpflichtung zur Wiederherstellung des vorherigen Standes darstellen. Im Fall der Nichtigerklärung und Herabsetzung einer gegen ein Unternehmen wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln verhängten Geldbuße ergibt sich folglich aus dieser Bestimmung eine Verpflichtung der Kommission, den rechtsgrundlos gezahlten Betrag der Geldbuße zuzüglich Verzugszinsen zu erstatten.
Da zum einen das anwendbare Haushaltsrecht(3) eine Erstattungsforderung zugunsten des Unternehmens vorsieht, das eine später aufgehobene und herabgesetzte Geldbuße vorläufig gezahlt hat, und zum anderen die Aufhebung und Herabsetzung der Geldbuße durch den Unionsrichter rückwirkend gilt, bestand die Forderung der Deutschen Telekom und war hinsichtlich ihres Höchstbetrags bestimmt, als die Geldbuße vorläufig gezahlt wurde. Die Kommission war daher nach Art. 266 Abs. 1 AEUV verpflichtet, Verzugszinsen auf den vom Gericht für rechtsgrundlos befundenen Teil der Geldbuße zu zahlen, und zwar für den gesamten fraglichen Zeitraum. Sinn dieser Verpflichtung ist, die mit einer objektiven Verspätung zusammenhängende Vorenthaltung eines zu zahlenden Geldbetrags pauschal auszugleichen und die Kommission dazu zu veranlassen, beim Erlass eines Beschlusses, der zur Zahlung einer Geldbuße verpflichtet, besondere Vorsicht walten zu lassen.
Entgegen dem Vorbringen der Kommission steht die Verpflichtung zur Zahlung von Verzugszinsen nicht im Widerspruch zur Abschreckungsfunktion von Geldbußen in Wettbewerbssachen, da der Unionsrichter diese Abschreckungsfunktion notwendigerweise berücksichtigt, wenn er von seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung Gebrauch macht, um die Höhe einer Geldbuße rückwirkend herabzusetzen. Im Übrigen muss die Abschreckungsfunktion von Geldbußen mit dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in Einklang gebracht werden, dessen Beachtung durch die Rechtmäßigkeitskontrolle nach Art. 263 AEUV gewährleistet wird, ergänzt um die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung hinsichtlich der Höhe der Geldbuße.
Das Gericht hat auch die weiteren Argumente der Kommission zurückgewiesen.
Zum einen war die Kommission, auch wenn der Betrag der von der Klägerin gezahlten Geldbuße keine Zinsen eingebracht hatte, während er im Besitz der Kommission war, im Anschluss an das Urteil des Gerichts vom 13. Dezember 2018 verpflichtet, der Klägerin den für rechtsgrundlos befundenen Teil der Geldbuße zuzüglich Verzugszinsen zurückzuzahlen, ohne dass Art. 90 der Delegierten Verordnung Nr. 1268/2012, der die Einziehung von Geldbußen betrifft, dem entgegenstünde. Überdies ergibt sich die Pflicht zur Zahlung von Verzugszinsen unmittelbar aus Art. 266 Abs. 1 AEUV, und die Kommission ist nicht befugt, mit einer Einzelfallentscheidung die Voraussetzungen festzulegen, unter denen sie im Fall der Nichtigerklärung des Beschlusses, mit dem eine Geldbuße verhängt wurde, und im Fall der Herabsetzung der Geldbuße Verzugszinsen zahlen wird.
Zum anderen handelt es sich bei den im vorliegenden Fall geschuldeten Zinsen um Verzugszinsen und nicht um Ausgleichszinsen. Die Hauptforderung der Deutschen Telekom war nämlich eine Rückzahlungsforderung, die damit zusammenhing, dass die Zahlung einer Geldbuße vorläufig vorgenommen worden war. Diese Forderung bestand und war hinsichtlich ihres Höchstbetrags bestimmt oder zumindest anhand feststehender objektiver Faktoren bestimmbar, als die fragliche Zahlung erfolgte.
In Anbetracht der Tatsache, dass die Kommission der Deutschen Telekom den rechtsgrundlos gezahlten Teil der Geldbuße zuzüglich Verzugszinsen erstatten musste und insoweit über keinerlei Ermessen verfügte, ist das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Weigerung, diese Zinsen an die Deutsche Telekom zu zahlen, einen qualifizierten Verstoß gegen Art. 266 Abs. 1 AEUV darstellt, der die außervertragliche Haftung der Union auslöst. Angesichts des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen dem festgestellten Verstoß und dem Schaden, der im Verlust von Verzugszinsen auf den rechtsgrundlos gezahlten Teil der Geldbuße im fraglichen Zeitraum besteht, hat das Gericht der Deutschen Telekom eine Entschädigung in Höhe von 1 750 522,38 Euro zugesprochen, berechnet durch entsprechende Anwendung des in Art. 83 Abs. 2 Buchst. b der Delegierten Verordnung Nr. 1268/2012 vorgesehenen Zinssatzes, nämlich des von der Europäischen Zentralbank im Januar 2015 für ihre Hauptrefinanzierungsgeschäfte zugrunde gelegten Zinssatzes von 0,05 % zuzüglich dreieinhalb Prozentpunkten.