Language of document : ECLI:EU:T:2011:285

Rechtssache T‑199/08

Ziegler SA

gegen

Europäische Kommission

„Wettbewerb – Kartelle – Markt für internationale Umzugsdienste in Belgien – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festgestellt wird – Preisfestsetzung – Marktaufteilung – Manipulation von Ausschreibungen – Spürbare Beeinträchtigung des Handels – Geldbußen – Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen von 2006“

Leitsätze des Urteils

1.      Wettbewerb – Kartelle – Abgrenzung des Marktes – Zweck

(Art. 81 EG; Mitteilung 2004/C 101/07 der Kommission)

2.      Handlungen der Organe – Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels – Verbindlicher Rechtsakt

(Mitteilung 2004/C 101/07 der Kommission)

3.      Wettbewerb – Geldbußen – Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden – Begründungspflicht – Umfang

(Art. 253 EG; Mitteilung 2006/C 210/02 der Kommission)

4.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Akteneinsicht –Umfang

5.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Beurteilung anhand der Art der Zuwiderhandlung

(Mitteilung 2006/C 210/02 der Kommission, Ziff. 19 und 21 bis 23)

6.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Mildernde Umstände – Abstellen der Zuwiderhandlung vor Tätigwerden der Kommission – Ausschluss

(Mitteilung 2006/C 210/02 der Kommission, Ziff. 29 erster Gedankenstrich)

7.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Mildernde Umstände – Genehmigung oder Ermutigung des wettbewerbswidrigen Verhaltens durch die Behörden

(Mitteilung 2006/C 210/02 der Kommission, Ziff. 29 letzter Gedankenstrich)

8.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Herabsetzung wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten – Voraussetzungen

(Mitteilung 2006/C 210/02 der Kommission, Ziff. 35)

1.      Art. 81 Abs. 1 EG ist nicht anwendbar, wenn die Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Handels oder des Wettbewerbs durch das Kartell nicht „spürbar“ ist. Eine Vereinbarung fällt nämlich nicht unter das Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG, wenn sie den Wettbewerb nur geringfügig einschränkt und den Handel zwischen den Mitgliedstaaten nur geringfügig beeinträchtigt. Folglich ist die Kommission verpflichtet, in einer Entscheidung nach Art. 81 EG eine Marktabgrenzung vorzunehmen, wenn ohne eine solche Abgrenzung nicht bestimmt werden kann, ob die Vereinbarung oder die abgestimmte Verhaltensweise, um die es geht, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet ist und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt.

Wäre nämlich jede grenzüberschreitende Transaktion automatisch geeignet, den Handel zwischen Mitgliedstaaten spürbar zu beeinträchtigen, würde der Begriff der Spürbarkeit seines Inhalts entleert, obwohl er ein Tatbestandsmerkmal des Art. 81 Abs. 1 EG ist. Selbst im Fall einer bezweckten Zuwiderhandlung ist es erforderlich, dass die Zuwiderhandlung den innergemeinschaftlichen Handel spürbar beeinträchtigen kann. Dies ergibt sich aus den Leitlinien über den in den Art. 81 EG und 82 EG angeführten Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels, da die positive Vermutung in Ziff. 53 dieser Leitlinien nur auf die Vereinbarungen oder Verhaltensweisen anwendbar ist, die ihrem Wesen nach geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Dass ein Unternehmen das Vorliegen des Kartells nicht bestritten hat, bedeutet nicht notwendig, dass es damit auch eine spürbare Beeinträchtigung des Handels durch dieses Kartell einräumt. Da die Kommission jedoch rechtlich hinreichend dargetan hat, dass die zweite alternative Voraussetzung für ein Eingreifen der Vermutung der Ziff. 53 der genannten Leitlinien erfüllt war, indem sie insbesondere den relevanten Sektor einschließlich des Angebots, der Nachfrage und der geografischen Reichweite hinreichend detailliert beschrieben hat, hat sie die betreffenden Dienste und den Markt präzise bestimmt. Eine solche Beschreibung des Sektors kann ausreichend sein, sofern sie so detailliert ist, dass das Gericht die Grundannahmen der Kommission überprüfen kann, und sofern der kumulierte Marktanteil auf dieser Grundlage den Schwellenwert von 5 % offensichtlich weit überschreitet. Unter diesen Umständen kann sich die Kommission ausnahmsweise auf die zweite alternative Voraussetzung der Ziff. 53 dieser Leitlinien stützen, ohne ausdrücklich eine Marktabgrenzung im Sinne der Ziff. 55 der Leitlinien vorzunehmen.

Es reicht nämlich im Rahmen der positiven Vermutung der Ziff. 53 dieser Leitlinien für den Nachweis der Spürbarkeit der Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten aus, dass eine der beiden alternativen Voraussetzungen erfüllt ist.

(vgl. Randnrn. 44-45, 50, 53, 69-70, 72-73)

2.      Indem die Kommission die Verhaltensnormen in Form der Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag erlassen und durch ihre Veröffentlichung angekündigt hat, dass sie sie von nun an auf die von diesen Normen erfassten Fälle anwenden werde, hat sie die Ausübung ihres Ermessens beschränkt und kann nicht von diesen Normen abweichen, ohne dass dies gegebenenfalls als Verstoß gegen allgemeine Rechtsgrundsätze wie die der Gleichbehandlung oder des Vertrauensschutzes geahndet würde.

(vgl. Randnr. 67)

3.      Die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung Nr. 1/2003 haben zu einer grundlegenden Änderung der Berechnungsmethode für Geldbußen geführt. Insbesondere wurde die Einteilung der Zuwiderhandlungen in drei Kategorien („minder schwer“, „schwer“ und „sehr schwer“) aufgegeben und eine Bandbreite von 0 % bis 30 % eingeführt, um eine feinere Abstufung zu ermöglichen. Zudem wird zur Bestimmung des Grundbetrags der Geldbuße seitdem „ein bestimmter Anteil am Umsatz, der sich nach der Schwere des Verstoßes richtet, mit der Anzahl der Jahre der Zuwiderhandlung multipliziert“ (Ziff. 19 dieser Leitlinien). Grundsätzlich „kann ein Betrag von bis zu 30 % des Umsatzes festgesetzt werden“ (Ziff. 21). Für horizontale Vereinbarungen zur Festsetzung von Preisen, Aufteilung der Märkte oder Einschränkung der Erzeugung, die „ihrer Art nach zu den schwerwiegendsten Verstößen“ gehören, ist grundsätzlich „ein Betrag am oberen Ende dieser Bandbreite“ anzusetzen (Ziff. 23).

Unter diesen Umständen kann sich die Kommission grundsätzlich nicht mehr damit begnügen, nur die Einordnung einer Zuwiderhandlung als „sehr schwerwiegend“ und nicht die Wahl des zugrunde gelegten Umsatzanteils zu begründen. Die Pflicht zur Lieferung einer Begründung, die dem Betroffenen ermöglicht, ihr die Gründe für den Erlass der Maßnahme zu entnehmen, und dem Gericht, seine Kontrollaufgabe wahrzunehmen, ist nämlich die logische Konsequenz des der Kommission im Geldbußenbereich eingeräumten Ermessens.

Da die Kommission den Anteil auf kaum mehr als die Hälfte dieser Bandbreite, nämlich auf 17 %, festgesetzt und dies nur mit dem „sehr schwerwiegenden“ Charakter der Zuwiderhandlung begründet, aber nicht näher erläutert hat, wie sie die Einordnung der Zuwiderhandlung als „sehr schwerwiegend“ dazu veranlasst hat, den Satz auf 17 % festzusetzen und nicht deutlich mehr „am oberen Ende [der] Bandbreite“, kann diese Begründung kann nur dann genügen, wenn die Kommission einen Satz wählt, der sich nahe an der unteren Grenze der für die schwerwiegendsten Verstöße vorgesehenen Marge bewegt und der darüber hinaus für das Unternehmen sehr günstig ausfällt. In diesem Fall nämlich ist eine zusätzliche Begründung, die über die schon in den Leitlinien enthaltene Begründung hinausgeht, nicht erforderlich. Hätte die Kommission einen höheren Satz anwenden wollen, hätte sie dagegen eine ausführlichere Begründung liefern müssen.

(vgl. Randnrn. 91-93)

4.      Allein durch die Mitteilung der Beschwerdepunkte hat ein einzelnes betroffenes Unternehmen kaum die Möglichkeit, zu überprüfen, ob die für den Nachweis der Spürbarkeit der Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten herangezogenen Umsätze und die konsolidierten Marktanteile aller Kartellteilnehmer die Schwellenwerte von 40 Millionen Euro oder 5 % überschreiten. Jedes einzelne Unternehmen kann mit Gewissheit nur seine eigenen Zahlen beanstanden. Um die Marktgröße und die Marktanteile der anderen betroffenen Unternehmen bestreiten und das eigene Vorbringen zu diesen Zahlen entwickeln zu können, ist es daher unerlässlich, die Aufschlüsselung der Umsätze der anderen Unternehmen zu kennen; ohne diese Kenntnis ist das betreffende Unternehmen nicht in der Lage, zum Vorliegen und zur Bedeutung der von der Kommission geltend gemachten Tatsachen, Beschwerdepunkte und Umstände angemessen Stellung zu nehmen.

(vgl. Randnr. 118)

5.      Bei der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung ist insbesondere die Art der Wettbewerbsbeschränkungen zu berücksichtigen. Die Schwere der Zuwiderhandlung kann anhand der Art und des Zwecks der missbräuchlichen Verhaltensweisen festgestellt werden. Gesichtspunkte, die den Gegenstand eines Verhaltens betreffen, können somit für die Festsetzung der Geldbuße größere Bedeutung haben als Gesichtspunkte, die die Wirkungen des Verhaltens betreffen.

Eine Zuwiderhandlung, die in einer Preisfestsetzung und einer Marktaufteilung besteht, wiegt ihrer Art nach besonders schwer.

Außerdem sieht Ziff. 20 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung Nr. 1/2003 ausdrücklich vor, dass die „Schwere der Zuwiderhandlung … in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände beurteilt [wird]“. Mit diesen Leitlinien wurde eine Bandbreite von 0 % bis 30 % eingeführt, um eine feinere Abstufung zu ermöglichen. So muss nach Ziff. 19 dieser Leitlinien der Grundbetrag der Geldbuße „ein bestimmter Anteil am Umsatz, der sich nach der Schwere des Verstoßes richtet“, sein. Nach Ziff. 21 der Leitlinien „kann [grundsätzlich] ein Betrag von bis zu 30 % des Umsatzes festgesetzt werden“.

Die Kommission kann daher von dem Wertungsspielraum, über den sie bei der Verhängung von Geldbußen verfügt, nicht Gebrauch machen und somit die genaue Höhe zwischen 0 % und 30 % nicht festsetzen, ohne die besonderen Umstände der Sache zu berücksichtigen. Ziff. 22 der genannten Leitlinien sieht vor, dass die Kommission „[b]ei der Bestimmung der genauen Höhe innerhalb dieser Bandbreite … mehrere Umstände [berücksichtigt], u. a. die Art der Zuwiderhandlung, den kumulierten Marktanteil sämtlicher beteiligten Unternehmen, den Umfang des von der Zuwiderhandlung betroffenen räumlichen Marktes und die etwaige Umsetzung der Zuwiderhandlung in der Praxis“.

Diese Schwierigkeit der Ermittlung eines genauen Satzes ist bis zu einem gewissen Grad geringer bei geheimen horizontalen Vereinbarungen zur Festsetzung von Preisen und zur Aufteilung der Märkte, für die nach Ziff. 23 der der genannten Leitlinien grundsätzlich ein Betrag „am oberen Ende der Bandbreite“ anzusetzen ist. Aus dieser Ziffer ergibt sich, dass der Satz für die schwerwiegendsten Verstöße mindestens oberhalb von 15 % liegen muss.

Die Entscheidung der Kommission, mit der diese den Satz von 17 % allein auf die wesensmäßige Schwere der Zuwiderhandlung gestützt hat, ist daher nicht für nichtig zu erklären. Begnügt sich die Kommission damit, einen Satz anzuwenden, der dem für die schwerwiegendsten Verstöße vorgesehenen Mindestsatz entspricht oder fast entspricht, erübrigt sich nämlich die Berücksichtigung zusätzlicher Gesichtspunkte oder Umstände. Dies wäre nur dann geboten, wenn ein höherer Satz festzulegen wäre.

(vgl. Randnrn. 136-137, 139-142)

6.      Die Beendigung der rechtswidrigen Verhaltensweisen ist dann kein mildernder Umstand, der eine Ermäßigung der Geldbuße rechtfertigen würde, wenn das betreffende Unternehmen seine Beteiligung an der Zuwiderhandlung erst einige Tage vor den Kontrollen der Kommission eingestellt hat.

Ziff. 29 erster Gedankenstrich der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung Nr. 1/2003 sieht vor, dass zwar der Grundbetrag der Geldbuße verringert werden kann, wenn das Unternehmen die Beendigung des Verstoßes nach dem ersten Eingreifen der Kommission nachweist, doch gilt dies nicht „im Falle geheimer Vereinbarungen oder Verhaltensweisen (insbesondere von Kartellen)“. Zudem wird dieser mildernde Umstand nur in den Fällen gewährt, in denen der Verstoß nach dem ersten Eingreifen der Kommission beendet wird.

(vgl. Randnrn. 151-152)

7.      Auch wenn Tatsachen, die einer Person bekannt sind, die für die Kommission arbeitet, dieser als Organ zugerechnet werden könnten, schließt die Kenntnis des wettbewerbswidrigen Verhaltens allein nicht die stillschweigende „Genehmigung oder Ermutigung“ dieses Verhaltens durch die Kommission im Sinne von Ziff. 29 letzter Gedankenstrich der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung Nr. 1/2003 ein. Ein mutmaßliches Unterlassen kann nämlich nicht mit einem positiven Tun wie einer Genehmigung oder Ermutigung gleichgesetzt werden. Auch kann sich ein sorgfältiger Wirtschaftsteilnehmer nicht auf guten Glauben an die Rechtmäßigkeit dieses Verhaltens berufen, wenn der Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln so offenkundig ist.

(vgl. Randnrn. 157-158)

8.      Für eine außerordentliche Ermäßigung der Geldbuße wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten nach Ziff. 35 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung Nr. 1/2003 müssen neben einem Antrag zwei kumulative Voraussetzungen vorliegen, nämlich erstens die unüberwindliche Schwierigkeit, die Geldbuße zu zahlen, und zweitens ein „[besonderes] soziales und ökonomisches Umfeld“.

Die Beurteilung der ersten Voraussetzung muss auf die Berücksichtigung der konkreten Situation des betreffenden Unternehmens abstellen. Eine bloße Berechnung, welchen Anteil die Geldbuße an dem weltweiten Umsatz des Unternehmens ausmacht, kann allein nicht den Schluss begründen, dass die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit dieses Unternehmens durch die Geldbuße nicht unwiderruflich gefährdet sei. Wäre dies der Fall, wäre es möglich, konkrete Schwellenwerte für die Anwendung der Ziff. 35 dieser Leitlinien festzulegen.

(vgl. Randnrn. 165, 167)