Language of document : ECLI:EU:C:2021:90

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

3. Februar 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Zollkodex der Gemeinschaften – Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 – Art. 239 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich – Erstattung rechtmäßig erhobener Zölle – Besonderer Fall – Erteilung einer Bewilligung zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr – Ungültigerklärung der Bewilligung und Erteilung einer rückwirkenden Bewilligung für den aktiven Veredelungsverkehr – Wiederausfuhr der Waren aus dem Gebiet der Europäischen Union – Unterlassung der Gestellung der Waren“

In der Rechtssache C‑92/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Düsseldorf (Deutschland) mit Entscheidung vom 5. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Februar 2020, in dem Verfahren

Rottendorf Pharma GmbH

gegen

Hauptzollamt Bielefeld

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Kumin sowie der Richter T. von Danwitz und P. G. Xuereb (Berichterstatter),


Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Rottendorf Pharma GmbH, vertreten durch Steuerberater H.‑M. Wolffgang,

–        des Hauptzollamts Bielefeld, vertreten durch J. Rieke als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und F. Clotuche-Duvieusart als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 239 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1, im Folgenden: Zollkodex).

2        Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Rottendorf Pharma GmbH, einem Unternehmen mit Sitz in Deutschland, und dem Hauptzollamt Bielefeld (Deutschland, im Folgenden: Hauptzollamt) wegen eines Antrags auf Erstattung von Einfuhrzöllen.

 Rechtlicher Rahmen

 Zollkodex

3        Art. 85 des Zollkodex sieht vor, dass die Inanspruchnahme eines Zollverfahrens mit wirtschaftlicher Bedeutung, wozu nach dessen Art. 84 Abs. 1 Buchst. b auch das Zollverfahren der aktiven Veredelung gehört, einer Bewilligung durch die Zollbehörden bedarf. Nach Art. 87 Abs. 1 des Zollkodex werden in der Bewilligung die Voraussetzungen festgelegt, unter denen das betreffende Zollverfahren in Anspruch genommen werden kann.

4        Gemäß Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex entsteht eine Einfuhrzollschuld, wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.


5        Art. 239 Abs. 1 des Zollkodex lautet:

„Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben können in anderen als den in den Artikeln 236, 237 und 238 genannten Fällen erstattet oder erlassen werden; diese Fälle

–        werden nach dem Ausschussverfahren festgelegt;

–        ergeben sich aus Umständen, die nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind. Nach dem Ausschussverfahren wird festgelegt, in welchen Fällen diese Bestimmung angewandt werden kann und welche Verfahrensvorschriften dabei zu beachten sind. Die Erstattung oder der Erlass kann von besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht werden.“

 Verordnung Nr. 2454/93

6        In Art. 899 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung Nr. 2913/92 (ABl. 1993, L 253, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1335/2003 der Kommission vom 25. Juli 2003 (ABl. 2003, L 187, S. 16) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2454/93) heißt es:

„Stellt die Entscheidungsbehörde, bei der eine Erstattung oder ein Erlass nach Artikel 239 Absatz 2 Zollkodex beantragt worden ist, fest,

–        dass die für diesen Antrag vorgebrachten Gründe einen der in den Artikeln 900 bis 903 beschriebenen Tatbestände erfüllen und keine betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt, so erstattet oder erlässt sie die betreffenden Einfuhr‑ oder Ausfuhrabgaben;

…“

7        Art. 900 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2454/93 bestimmt:

„Die Einfuhrabgaben werden erstattet oder erlassen, wenn

e)      zum Zeitpunkt der Entscheidung über die nachträgliche buchmäßige Erfassung der Einfuhrabgaben von den Zollbehörden festgestellt wird, dass eine unter vollständiger Befreiung von diesen Abgaben in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführte Ware ohne zollamtliche Überwachung wiederausgeführt worden ist, sofern nachgewiesen wird, dass die nach dem Zollkodex vorgesehenen sachlichen Voraussetzungen für die Erstattung oder den Erlass der betreffenden Einfuhrabgaben zum Zeitpunkt der Wiederausfuhr erfüllt gewesen wären, wenn diese Einfuhrabgaben bei der Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr erhoben worden wären;

f)      der Vertrieb einer Ware, die vom Beteiligten ordnungsgemäß in ein Zollverfahren übergeführt worden war, das die Verpflichtung zur Entrichtung von Einfuhrabgaben beinhaltet, von einer gerichtlichen Instanz verboten wird und die Waren daraufhin aus dem Zollgebiet der [Union] wiederausgeführt oder unter zollamtlicher Überwachung vernichtet oder zerstört werden, sofern nachgewiesen wird, dass die betreffenden Waren nicht in der [Union] benutzt worden sind;

…“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

8        Rottendorf Pharma ist ein Unternehmen, das Arzneimittel herstellt und vertreibt. Im Oktober 2008 erteilte das Hauptzollamt ihr eine Bewilligung, als zugelassene Ausführerin Gemeinschaftswaren auszuführen.

9        Im Dezember 2014 meldete Rottendorf Pharma beim Hauptzollamt 12,5 kg Ertugliflozin, das aus den USA eingeführt und zur Herstellung eines Arzneimittels bestimmt war, zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr an. Das Hauptzollamt nahm die Anmeldung an und setzte gegen Rottendorf Pharma 181 491,82 Euro Einfuhrzoll fest, den diese entrichtete. Das Ertugliflozin wurde in das Datenverarbeitungssystem von Rottendorf Pharma als Gemeinschaftsware eingetragen.

10      In der Folgezeit entschloss sich Rottendorf Pharma, das eingeführte Ertugliflozin im Rahmen eines Verfahrens des aktiven Veredelungsverkehrs zu verarbeiten. Nach einem entsprechenden Antrag dieses Unternehmens erteilte das Hauptzollamt ihm rückwirkend ab dem 1. Dezember 2014 die Bewilligung einer aktiven Veredelung im Nichterhebungsverfahren für die Herstellung von Arzneimitteln aus dem eingeführten Ertugliflozin. In dieser Bewilligung wies das Hauptzollamt Rottendorf Pharma darauf hin, dass für die Beendigung der aktiven Veredelung die Veredelungserzeugnisse zum einen beim Zollamt Beckum (Deutschland) zu gestellen und zum anderen unter Angabe des Verfahrenscodes 3151 aus dem Zollgebiet der Union wieder auszuführen oder einer anderen zollrechtlichen Bestimmung zuzuführen seien.

11      Das Hauptzollamt erklärte gleichzeitig die bei ihm ursprünglich von Rottendorf Pharma für die Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr eingereichte Zollanmeldung für ungültig und erstattete ihr den infolge dieser Anmeldung festgesetzten Zoll.

12      Rottendorf Pharma versäumte es, die Daten in ihrem Datenverarbeitungssystem dahin gehend zu ändern, dass das eingeführte Ertugliflozin nach der oben genannten Änderung als Nichtgemeinschaftsware zu behandeln war.

13      Im März und April 2015 führte Rottendorf Pharma insgesamt 219,361 kg aus dem Ertugliflozin hergestellte Arzneimittel sowie 4,31 kg nicht verarbeitetes Ertugliflozin aus dem Zollgebiet der Union in die USA aus.

14      Rottendorf Pharma meldete diese Ausfuhren im Rahmen der ihr als zugelassene Ausführerin erteilten Bewilligung unter Verwendung der Verfahrenscodes 1000 und 1041 an, weil ihr für die Abwicklung der Ausfuhren zuständiger Angestellter auf der Grundlage der im Datenverarbeitungssystem dieses Unternehmens verfügbaren Informationen annahm, dass es sich um Gemeinschaftswaren handele. Die aus dem Ertugliflozin hergestellten Arzneimittel und das nicht verarbeitete Ertugliflozin wurden nicht vor ihrer Ausfuhr dem Zollamt Beckum gestellt.

15      Das Hauptzollamt setzte gegen Rottendorf Pharma 179 241,32 Euro Einfuhrzoll fest, weil sie das Ertugliflozin und die Veredelungserzeugnisse der zollamtlichen Überwachung entzogen habe. Ein Einspruch gegen diesen Bescheid wurde vom Hauptzollamt zurückgewiesen. Die von Rottendorf Pharma gegen diese Entscheidung erhobene Klage wurde mit Urteil des vorlegenden Gerichts, dem Finanzgericht Düsseldorf (Deutschland), abgewiesen, das rechtskräftig geworden ist.

16      Das Hauptzollamt lehnte ferner eine Erstattung der betreffenden Zölle nach Art. 239 des Zollkodex ab.

17      Rottendorf Pharma erhob gegen diese Entscheidung Klage beim vorlegenden Gericht.

18      Das vorlegende Gericht führt aus, dass sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe, dass die in Art. 239 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Zollkodex genannten Umstände, die eine Erstattung der von einem Wirtschaftsteilnehmer entrichteten Zölle ermöglichten, im Allgemeinen vorlägen, wenn sich der Wirtschaftsteilnehmer im Verhältnis zu anderen Wirtschaftsteilnehmern in einer außergewöhnlichen Situation befunden habe oder wenn es angesichts des Verhältnisses zwischen dem Wirtschaftsteilnehmer und der Verwaltung unbillig gewesen wäre, den Wirtschaftsteilnehmer einen Schaden tragen zu lassen, den er bei rechtem Gang der Dinge nicht erlitten hätte.

19      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnten im vorliegenden Fall in Anbetracht des im Urteil des Gerichtshofs vom 12. Februar 2004, Hamann International (C‑337/01, EU:C:2004:90, Rn. 34 und 35), gewählten Ansatzes solche Umstände vorliegen. Denn angesichts des Ablaufs des Rottendorf Pharma rückwirkend bewilligten aktiven Veredelungsverkehrs habe es sich für dieses Unternehmen, dem zuvor lediglich eine Bewilligung, als zugelassene Ausführerin Gemeinschaftswaren auszuführen, erteilt worden sei, um einen „komplexen Sachverhalt“ gehandelt. Für eine solche Auslegung könnten auch die Regelungen in Art. 900 Abs. 1 Buchst. e und f der Verordnung Nr. 2454/93 sprechen.

20      Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass bei Rottendorf Pharma keine offensichtliche Fahrlässigkeit vorgelegen habe. Denn die Vorschriften, deren Nichterfüllung im Ausgangsverfahren die Zollschuld begründet habe, seien komplex, und aufgrund der rückwirkenden Bewilligung eines aktiven Veredelungsverkehrs sei Rottendorf Pharma mit einer komplexen zollrechtlichen Situation konfrontiert gewesen. Zudem sei dieses Unternehmen hinsichtlich des Verfahrens des aktiven Veredelungsverkehrs kein erfahrener Wirtschaftsteilnehmer gewesen.

21      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts erlaubt es auch das Vorbringen des Hauptzollamts, dass Rottendorf Pharma die Ausführungen in der ihr erteilten Bewilligung hätte zur Kenntnis nehmen müssen, nicht, eine offensichtliche Fahrlässigkeit ihrerseits zu bejahen. Denn die Anmeldung der betreffenden Waren unter einem unzutreffenden Verfahrenscode und das Unterbleiben der Gestellung der Waren vor ihrer Wiederausfuhr seien auf einen von einem Angestellten von Rottendorf Pharma in Ausübung seiner Aufgaben begangenen Fehler hinsichtlich der Daten in deren Datenverarbeitungssystem zurückgegangen. Dieser Fehler wäre jedoch selbst bei einer Lektüre der diesem Unternehmen erteilten Bewilligung nicht zu vermeiden gewesen.

22      Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Düsseldorf beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 239 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Zollkodex dahin auszulegen, dass danach in einem Fall wie dem Ausgangsrechtsstreit, in dem die von dem Beteiligten eingeführten Nichtgemeinschaftswaren aus dem Zollgebiet der Union wieder ausgeführt wurden und die Umstände, die zur Entstehung der Zollschuld geführt haben, nicht auf eine offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind, der Zoll erstattet werden kann?

 Zur Vorlagefrage

 Vorbemerkungen

23      Vorab ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach Art. 286 Abs. 2 und Art. 288 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1), der Zollkodex mit Wirkung zum 1. Mai 2016 durch den Zollkodex der Union ersetzt wurde. Da der Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits jedoch vor diesem Zeitpunkt stattgefunden hat, ist zur Beantwortung der Vorlagefrage, bei der es sich um eine Frage über das Vorliegen eines Anspruchs auf Erstattung der Einfuhrzölle handelt, Art. 239 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Zollkodex und nicht Art. 120 der Verordnung Nr. 952/2013 auszulegen.

24      Zweitens ist hinsichtlich des Vorbringens des Hauptzollamts in seinen beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen, wonach die beim vorlegenden Gericht anhängige Klage abzuweisen sei, weil Rottendorf Pharma ihren auf Art. 239 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Zollkodex gestützten Antrag auf Erstattung der betreffenden Einfuhrzölle nicht fristgemäß gestellt habe, festzustellen, dass dieses Vorbringen nicht die dem Gerichtshof gestellte Frage betrifft und es gegebenenfalls dem vorlegenden Gericht obliegt, die etwaige Relevanz dieses Vorbringens für den Ausgangsrechtsstreit zu prüfen.

25      Drittens ist insoweit, als bestimmte der von Rottendorf Pharma in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen vorgetragenen Argumente nahezulegen scheinen, dass dieses Unternehmen der Ansicht ist, dass ihm zu Unrecht Einfuhrzölle auferlegt worden seien, daran zu erinnern, dass aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, dass dessen Klage gegen die Entscheidung des Hauptzollamts, mit der diese Zölle festgesetzt worden waren, durch ein Urteil des vorlegenden Gerichts abgewiesen worden ist, das rechtskräftig geworden ist.

 Zur Vorlagefrage

26      Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 239 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass ein Wirtschaftsteilnehmer, der nach Einfuhr von Erzeugnissen aus einem Drittstaat in das Zollgebiet der Union unter Entrichtung von Einfuhrzöllen beantragt hat, diese Erzeugnisse im Rahmen eines aktiven Veredelungsverkehrs zu verarbeiten, was ihm rückwirkend bewilligt worden ist, wodurch ihm ein Anspruch auf Erstattung dieser Zölle entstanden ist, und der dann die aus diesen Erzeugnissen hergestellten Waren sowie einen nicht benutzten und nicht verarbeiteten Teil der Erzeugnisse in einen Drittstaat ausgeführt hat, wobei er – ohne offensichtlich fahrlässig zu handeln – die in der ihm erteilten Bewilligung festgelegten Voraussetzungen infolge eines Fehlers bei der Eintragung der Erzeugnisse in sein Datenverarbeitungssystem nicht eingehalten hat, die Erstattung der ihm anschließend von der Zollbehörde des betreffenden Mitgliedstaats auferlegten Zölle beantragen darf.

27      Art. 239 des Zollkodex stellt eine allgemeine Billigkeitsklausel dar, die zum Erlass von Einfuhrzöllen führt, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich wenn ein besonderer Fall gegeben ist und keine offensichtliche Fahrlässigkeit oder betrügerische Absicht seitens des Abgabenpflichtigen vorliegt (Urteil vom 29. Juli 2019, Prenatal, C‑589/17, EU:C:2019:631, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      In Bezug auf die Voraussetzung, dass keine offensichtliche Fahrlässigkeit oder betrügerische Absicht seitens des Abgabenpflichtigen vorliegt, und insbesondere unter Berücksichtigung der sowohl vom Hauptzollamt als auch von der Europäischen Kommission geäußerten Zweifel an der Beurteilung des vorlegenden Gerichts, wonach bei Rottendorf Pharma keine offensichtliche Fahrlässigkeit vorgelegen habe, ist festzustellen, dass es sich um eine Tatsachenfrage handelt, die das vorlegende Gericht zu beurteilen hat. Im Übrigen ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht um Auslegung des Begriffs der offensichtlichen Fahrlässigkeit. Unter diesen Umständen braucht der Gerichtshof diese Frage nicht zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2019, Planet49, C‑673/17, EU:C:2019:801, Rn. 64).

29      Somit betrifft die Vorlagefrage nur die Auslegung der Voraussetzung, dass bei dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer ein „besonderer Fall“ vorliegt.

30      Nach ständiger Rechtsprechung setzt ein solcher „besonderer Fall“ voraus, dass sich der Abgabenpflichtige im Vergleich zu anderen Wirtschaftsteilnehmern, die die gleiche Tätigkeit ausüben, in einer außergewöhnlichen Lage befindet (Urteil vom 17. Februar 2011, Bolton Alimentari, C‑494/09, EU:C:2011:87, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Letztlich obliegt es dem für die Würdigung des Sachverhalts der bei ihm anhängigen Rechtssache allein zuständigen vorlegenden Gericht, zu ermitteln, ob bei dem betreffenden Unternehmen ein „besonderer Fall“ vorliegt. Jedoch ist es Aufgabe des Gerichtshofs, dem vorlegenden Gericht alle für die Entscheidung über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit sachdienlichen Hinweise zu geben (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 4. Juli 2019, Tronex, C–624/17, EU:C:2019:564, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Insoweit ist erstens festzustellen, dass die Tatsache, dass die Waren, die aus den aus einem Drittstaat eingeführten Erzeugnissen hergestellt worden waren, sowie ein nicht benutzter und nicht verarbeiteter Teil dieser Erzeugnisse tatsächlich in einen Drittstaat wieder ausgeführt wurden und nicht in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangten, keinen Umstand darstellt, mit dem sich nachweisen ließe, dass sich der betreffende Wirtschaftsteilnehmer im Vergleich zu anderen Wirtschaftsteilnehmern, die die gleiche Tätigkeit ausüben, in einer außergewöhnlichen Lage befand. Die Regelungen in Art. 900 Abs. 1 Buchst. e und f der Verordnung Nr. 2454/93 ändern an diesem Ergebnis nichts, da sie Situationen betreffen, die sich von der des Ausgangsrechtsstreits unterscheiden.

33      Zweitens ist selbst unter der Annahme, dass der komplexe Charakter der Zollvorschriften, die ein Wirtschaftsteilnehmer einzuhalten hat, für die Beantwortung der Frage erheblich sein kann, ob bei diesem Wirtschaftsteilnehmer ein „besonderer Fall“ im Sinne der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gegeben ist, festzustellen, dass weder Rottendorf Pharma noch das vorlegende Gericht konkrete Anhaltspunkte aufgezeigt haben, die belegen könnten, dass die anzuwendenden Vorschriften besonders komplex gewesen sind.

34      Zwar hat Rottendorf Pharma zunächst die aus einem Drittstaat stammenden Erzeugnisse in das Zollgebiet der Union zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr eingeführt, bevor dieses Zollverfahren durch ein Verfahren des aktiven Veredelungsverkehrs ersetzt worden ist. Es ist jedoch daran zu erinnern, dass zum einen diese Änderung des anwendbaren Zollverfahrens auf Antrag von Rottendorf Pharma vorgenommen worden ist und zum anderen – wie die Kommission anmerkt – infolge dieser Änderung nun ein einziges Zollverfahren, nämlich das des aktiven Veredelungsverkehrs, anwendbar war.

35      Hinsichtlich des Verweises des vorlegenden Gerichts auf das Urteil vom 12. Februar 2004, Hamann International (C‑337/01, EU:C:2004:90), genügt die Feststellung, dass abgesehen davon, dass der Gerichtshof in Rn. 35 dieses Urteils lediglich festgestellt hat, dass das vorlegende Gericht zu prüfen hat, ob die Voraussetzungen einer Erstattung der betreffenden Zölle gemäß Art. 239 des Zollkodex in jener Rechtssache erfüllt waren, das genannte Urteil eine Situation betraf, die sich nicht mit der des Ausgangsrechtsstreits vergleichen lässt. Wie die Kommission anmerkt, hatte der in jener Rechtssache betroffene Wirtschaftsteilnehmer nämlich eine Pflicht nicht eingehalten, die der Unionsgesetzgeber zu dem Zeitpunkt abzuschaffen beschlossen hatte, als der dem genannten Urteil zugrunde liegende Sachverhalt stattgefunden hat.

36      Drittens trifft es zwar zu, dass Rottendorf Pharma die Pflichten verletzt hat, die ihr aufgrund der Bewilligung oblagen, die ihr erteilt worden war, weil sie zum Zeitpunkt der Ausfuhr der Waren, die aus den Erzeugnissen hergestellt worden sind, die sie aus einem Drittstaat eingeführt hatte, und eines Teils dieser Erzeugnisse in einen Drittstaat sich auf die in ihrem Datenverarbeitungssystem verfügbaren Informationen gestützt hat, die die unzutreffende Angabe enthielten, dass es sich um Gemeinschaftsware handele, und dass der in diesem Stadium begangene Fehler wiederum auf einen vorangegangenen Fehler zurückging, der darin bestand, dass Rottendorf Pharma es versäumt hatte, die Daten in ihrem Datenverarbeitungssystem nach der Änderung des Zollverfahrens zu aktualisieren. Solche Umstände, die zum geschäftlichen Risiko gehören, das ein Wirtschaftsteilnehmer zu tragen hat, stellen jedoch keinen hinreichenden Grund für die Annahme dar, dass bei dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer ein „besonderer Fall“ im Sinne der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gegeben war.

37      Obwohl sich der bei der Ausfuhr der betreffenden Erzeugnisse begangene Fehler anhand der in ihrem eigenen Datenverarbeitungssystem verfügbaren Informationen nicht feststellen ließ, hätte es zur Vermeidung dieses Fehlers nämlich genügt, dass Rottendorf Pharma die in der ihr erteilten Bewilligung angeführten Voraussetzungen berücksichtigt hätte.

38      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 239 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass zum einen ein Wirtschaftsteilnehmer die Erstattung von ihm entrichteter Zölle nur dann beantragen kann, wenn bei ihm ein besonderer Fall gegeben ist und seinerseits keine offensichtliche Fahrlässigkeit oder betrügerische Absicht vorliegt, und zum anderen die Tatsache, dass die betreffenden Waren in einen Drittstaat wieder ausgeführt worden sind, ohne in den Wirtschaftskreislauf der Union zu gelangen, nicht genügt, um nachzuweisen, dass im Hinblick auf diesen Wirtschaftsteilnehmer einer solcher besonderer Fall vorlag. Gleiches gilt, wenn das der Erhebung der betreffenden Zölle zugrunde liegende Verhalten durch einen Fehler verursacht worden ist, der mit den im Datenverarbeitungssystem des Wirtschaftsteilnehmers verfügbaren Informationen zusammenhängt, sofern dieser Fehler hätte vermieden werden können, wenn der Wirtschaftsteilnehmer die in der ihm erteilten Bewilligung angeführten Voraussetzungen berücksichtigt hätte.

 Kosten

39      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 239 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften ist dahin auszulegen, dass zum einen ein Wirtschaftsteilnehmer die Erstattung von ihm entrichteter Zölle nur dann beantragen kann, wenn bei ihm ein besonderer Fall gegeben ist und seinerseits keine offensichtliche Fahrlässigkeit oder betrügerische Absicht vorliegt, und zum anderen die Tatsache, dass die betreffenden Waren in einen Drittstaat wieder ausgeführt worden sind, ohne in den Wirtschaftskreislauf der Union zu gelangen, nicht genügt, um nachzuweisen, dass bei diesem Wirtschaftsteilnehmer ein besonderer Fall vorlag. Gleiches gilt, wenn das der Erhebung der betreffenden Zölle zugrunde liegende Verhalten durch einen Fehler verursacht worden ist, der mit den im Datenverarbeitungssystem des Wirtschaftsteilnehmers verfügbaren Informationen zusammenhängt, sofern dieser Fehler hätte vermieden werden können, wenn der Wirtschaftsteilnehmer die in der ihm erteilten Bewilligung angeführten Voraussetzungen berücksichtigt hätte.

Kumin

von Danwitz

Xuereb

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 3. Februar 2021.

Der Kanzler

 

Der Präsident der Siebten Kammer

A. Calot Escobar

 

A. Kumin


*      Verfahrenssprache: Deutsch.