Language of document : ECLI:EU:C:2022:39

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

20. Januar 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Einwanderungspolitik – Richtlinie 2003/109/EG – Art. 9 Abs. 1 Buchst. c – Verlust der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Abwesenheit vom Unionsgebiet während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten – Unterbrechung dieses Zeitraums der Abwesenheit – Unregelmäßige und kurze Aufenthalte im Unionsgebiet“

In der Rechtssache C‑432/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 28. August 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 14. September 2020, in dem Verfahren

ZK,

Beteiligter:

Landeshauptmann von Wien,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters N. Wahl,


Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Juli 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von ZK, vertreten durch Rechtsanwalt E. Drabek,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und C. Schweda als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und H. Leupold als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Oktober 2021

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen ZK und dem Landeshauptmann von Wien (Österreich) wegen dessen Weigerung, die langfristige Aufenthaltsberechtigung von ZK zu verlängern.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2003/109

3        In den Erwägungsgründen 2, 4, 6, 10 und 12 der Richtlinie 2003/109 heißt es:

„(2)      Der Europäische Rat hat auf seiner Sondertagung in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 erklärt, dass die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen an diejenige der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten angenähert werden sollte und einer Person, die sich während eines noch zu bestimmenden Zeitraums in einem Mitgliedstaat rechtmäßig aufgehalten hat und einen langfristigen Aufenthaltstitel besitzt, in diesem Mitgliedstaat eine Reihe einheitlicher Rechte gewährt werden sollte, die denjenigen der Unionsbürger so nah wie möglich sind.

(4)      Die Integration von Drittstaatsangehörigen, die in den Mitgliedstaaten langfristig ansässig sind, trägt entscheidend zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts bei, der als eines der Hauptziele der [Europäischen] Gemeinschaft im [EG‑]Vertrag angegeben ist.

(6)      Die Dauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sollte das Hauptkriterium für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sein. Der Aufenthalt sollte rechtmäßig und ununterbrochen sein, um die Verwurzlung der betreffenden Person im Land zu belegen. Eine gewisse Flexibilität sollte vorgesehen werden, damit Umstände berücksichtigt werden können, die eine Person veranlassen können, das Land zeitweilig zu verlassen.

(10)      Für die Prüfung des Antrags auf Gewährung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sollte ein System von Verfahrensregeln festgelegt werden. Diese Verfahren sollten effizient und angemessen sein, wobei die normale Arbeitsbelastung der mitgliedstaatlichen Verwaltungen zu berücksichtigen [ist]; sie sollten auch transparent und gerecht sein, um den betreffenden Personen angemessene Rechtssicherheit zu bieten. Sie sollten nicht dazu eingesetzt werden, um die betreffenden Personen in der Ausübung ihres Aufenthaltsrechts zu behindern.

(12)      Um ein echtes Instrument zur Integration von langfristig Aufenthaltsberechtigten in die Gesellschaft, in der sie leben, darzustellen, sollten langfristig Aufenthaltsberechtigte nach Maßgabe der entsprechenden, in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen, in vielen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen wie die Bürger des Mitgliedstaats behandelt werden.“

4        Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung

a)      der Bedingungen, unter denen ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhält, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilen oder entziehen kann, sowie der mit dieser Rechtsstellung verbundenen Rechte und

b)      der Bedingungen für den Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, der ihm diese Rechtsstellung zuerkannt hat.“

5        Art. 2 („Definitionen“) Buchst. b der Richtlinie lautet:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

b)      ,langfristig Aufenthaltsberechtigter‘ jeden Drittstaatsangehörigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne der Artikel 4 bis 7 besitzt;

…“

6        Art. 4 („Dauer des Aufenthalts“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten erteilen Drittstaatsangehörigen, die sich unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten.

(3)      Zeiten, in denen der Drittstaatsangehörige sich nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufgehalten hat, unterbrechen die Dauer des Zeitraums gemäß Absatz 1 nicht und fließen in die Berechnung dieses Aufenthalts ein, wenn sie sechs aufeinander folgende Monate nicht überschreiten und innerhalb des Zeitraums gemäß Absatz 1 insgesamt zehn Monate nicht überschreiten.

…“

7        In Art. 7 („Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten“) Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 heißt es:

„Um die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu erlangen, reicht der Drittstaatsangehörige bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhält, einen Antrag ein. …“

8        Art. 8 („Langfristige Aufenthaltsberechtigung – [EU]“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Vorbehaltlich des Artikels 9 ist die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten dauerhaft.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine ‚langfristige Aufenthaltsberechtigung – [EU]‘ aus. Dieser Aufenthaltstitel ist mindestens fünf Jahre gültig und wird – erforderlichenfalls auf Antrag – ohne weiteres verlängert.

…“

9        Art. 9 („Entzug oder Verlust der Rechtsstellung“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Ein Drittstaatsangehöriger ist nicht mehr berechtigt, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu behalten, wenn

c)      er sich während eines Zeitraums von 12 aufeinander folgenden Monaten nicht im Gebiet der [Union] aufgehalten hat.

(2)      Abweichend von Absatz 1 Buchstabe c) können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Abwesenheit von mehr als 12 aufeinander folgenden Monaten oder eine Abwesenheit aus spezifischen Gründen oder in Ausnahmesituationen nicht den Entzug oder den Verlust der Rechtsstellung bewirken.

(5)      Im Hinblick auf die Fälle des Absatzes 1 Buchstabe c) und des Absatzes 4 führen die Mitgliedstaaten, die die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt haben, ein vereinfachtes Verfahren für die Wiedererlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ein. …“

10      In Art. 11 („Gleichbehandlung“) der Richtlinie 2003/109 heißt es:

(1)      Langfristig Aufenthaltsberechtigte werden auf folgenden Gebieten wie eigene Staatsangehörige behandelt:

b)      allgemeine und berufliche Bildung, einschließlich Stipendien und Ausbildungsbeihilfen gemäß dem nationalen Recht;

d)      soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialschutz im Sinn des nationalen Rechts;

e)      steuerliche Vergünstigungen;

f)      Zugang zu Waren und Dienstleistungen sowie zur Lieferung von Waren und Erbringung von Dienstleistungen für die Öffentlichkeit und zu Verfahren für den Erhalt von Wohnraum;

g)      Vereinigungsfreiheit sowie Mitgliedschaft und Betätigung in einer Gewerkschaft, einem Arbeitgeberverband oder einer sonstigen Organisation, deren Mitglieder einer bestimmten Berufsgruppe angehören, sowie Inanspruchnahme der von solchen Organisationen angebotenen Leistungen, unbeschadet der nationalen Bestimmungen über die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit;

(2)      In Bezug auf Absatz 1 Buchstaben b), d), e), f) und g) kann der betreffende Mitgliedstaat die Gleichbehandlung auf die Fälle beschränken, in denen der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des langfristig Aufenthaltsberechtigten oder seiner Familienangehörigen, für die er Leistungen beansprucht, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats liegt.

…“

 Richtlinie 2004/38/EG

11      Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, Berichtigung in ABl. 2004, L 229, S. 35) sieht vor:

„Wenn das Recht auf Daueraufenthalt erworben wurde, führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander folgende Jahre überschreitet, zu seinem Verlust.“

 Österreichisches Recht

12      Die einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts sind im Bundesgesetz über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG) vom 16. August 2005 (BGBl. I 100/2005) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: NAG) enthalten.


13      § 2 Abs. 7 NAG bestimmt:

„Kurzfristige Inlands- und Auslandsaufenthalte, insbesondere zu Besuchszwecken, unterbrechen nicht die anspruchsbegründende oder anspruchsbeendende Dauer eines Aufenthalts oder einer Niederlassung. …“

14      § 20 („Gültigkeitsdauer von Aufenthaltstiteln“) Abs. 3 und 4 NAG sieht vor:

„(3)      Inhaber eines Aufenthaltstitels ‚Daueraufenthalt – EU‘ … sind in Österreich – unbeschadet der befristeten Gültigkeitsdauer des diesen Aufenthaltstiteln entsprechenden Dokuments – unbefristet niedergelassen. Dieses Dokument ist für einen Zeitraum von fünf Jahren auszustellen und … auch nach Ablauf auf Antrag zu verlängern.

(4)      Ein Aufenthaltstitel nach Abs. 3 erlischt, wenn sich der Fremde länger als zwölf aufeinander folgende Monate außerhalb des … Gebietes [des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR)] aufhält. Aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen, wie einer schwerwiegenden Erkrankung, der Erfüllung einer sozialen Verpflichtung oder der Leistung eines der allgemeinen Wehrpflicht oder dem Zivildienst vergleichbaren Dienstes, kann sich der Fremde bis zu 24 Monate außerhalb des EWR-Gebietes aufhalten, wenn er dies der Behörde vorher mitgeteilt hat. Liegt ein berechtigtes Interesse des Fremden vor, hat die Behörde auf Antrag festzustellen, dass der Aufenthaltstitel nicht erloschen ist. Der Nachweis des Aufenthalts im EWR-Gebiet obliegt dem Fremden.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15      Am 6. September 2018 stellte ZK, ein kasachischer Staatsangehöriger, beim Landeshauptmann von Wien einen Antrag auf Verlängerung seiner langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU. Dieser wies den Antrag mit Bescheid vom 9. Juli 2019 ab.

16      Am 12. August 2019 erhob ZK gegen diesen Bescheid Beschwerde beim vorlegenden Gericht.

17      Das vorlegende Gericht führt aus, dass zwar unstreitig sei, dass sich der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens im Zeitraum von August 2013 bis August 2018 und danach nie zwölf aufeinanderfolgende Monate oder länger außerhalb des Unionsgebiets aufgehalten habe, dass aber ebenfalls unstreitig sei, dass er in diesem Zeitraum nur wenige Tage pro Jahr in diesem Gebiet anwesend gewesen sei. Der letztgenannte Umstand wurde vom Landeshauptmann von Wien als Rechtfertigung für die Ablehnung der beantragten Verlängerung der langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU des Beschwerdeführers angeführt.

18      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens dem vorlegenden Gericht eine rechtliche Analyse der Expertengruppe der Europäischen Kommission für legale Migration vorgelegt hat, wonach die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 vorgesehene Voraussetzung in Bezug auf die Abwesenheit vom Unionsgebiet eng und dahin gehend auszulegen sei, dass nur die physische Abwesenheit von diesem Gebiet während zwölf aufeinanderfolgender Monate den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Bestimmung nach sich ziehe und dass es insoweit unerheblich sei, ob der betreffende langfristig Aufenthaltsberechtigte im maßgeblichen Zeitraum außerdem materiell in diesem Gebiet niedergelassen war oder dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

19      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass diese Analyse, der es sich anzuschließen geneigt sei, das Vorbringen des Beschwerdeführers des Ausgangsverfahrens stütze. Folge man dieser Analyse, würden nämlich selbst kurze Aufenthalte oder gar, wie im vorliegenden Fall, Aufenthalte von nur wenigen Tagen im Jahr ausreichen, um die Anwendung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 auszuschließen, so dass der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens seine Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten behalte.

20      Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Wien (Österreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 dahingehend auszulegen, dass jeder physische Aufenthalt, mag dieser auch noch so kurz sein, eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen im Gebiet der Union während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen nach dieser Bestimmung ausschließt?

2.      Sollte der Gerichtshof die erste Frage verneinen: Welchen qualitativen und/oder quantitativen Anforderungen müssen Aufenthalte im Gebiet der Union während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten genügen, um den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen auszuschließen? Schließen Aufenthalte während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten im Gebiet der Union den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen nur dann aus, wenn die betroffenen Drittstaatsangehörigen während dieses Zeitraums ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihren Mittelpunkt der Lebensinteressen im Gebiet der Union hatten?

3.      Sind Regelungen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen anordnen, wenn sich solche Drittstaatsangehörige während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten zwar im Gebiet der Union aufhielten, dort jedoch weder ihren gewöhnlichen Aufenthalt noch ihren Mittelpunkt der Lebensinteressen hatten, mit Art 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 vereinbar?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

21      Das vorlegende Gericht hat beantragt, die Vorlage zur Vorabentscheidung dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilverfahren zu unterwerfen, wobei es u. a. darauf hingewiesen hat, dass der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens sowie seine Ehefrau und ihre vier minderjährigen Kinder zuletzt auf Basis britischer Aufenthaltstitel mit mehrjähriger Gültigkeitsdauer im Vereinigten Königreich niedergelassen seien. Der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens wolle sich jedoch wieder in Österreich niederlassen und möchte, dass seine Familienangehörigen im Rahmen der Familienzusammenführung nachzögen, wobei ein solches Vorgehen nach der geltenden nationalen Regelung zunächst die Feststellung voraussetze, dass der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens noch die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten habe.

22      Am 28. September 2020 hat die Dritte Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag der Berichterstatterin und nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, die Vorlage nicht dem Eilverfahren zu unterwerfen, da das vorlegende Gericht die Umstände nicht hinreichend dargestellt habe, die es ermöglichten, die Dringlichkeit der Entscheidung über die vorliegende Rechtssache festzustellen. So habe dieses Gericht insbesondere weder darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens und seine Familienangehörigen im Vereinigten Königreich oder in Österreich Ausweisungsmaßnahmen unterworfen werden könnten, noch darauf, dass die Achtung ihrer Grundrechte wie des Rechts auf Familienleben bedroht sei.

 Zu den Vorlagefragen

23      Mit seinen drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass jede physische Anwesenheit eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Unionsgebiet während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten ausreicht, um zu verhindern, dass dieser Aufenthaltsberechtigte seine Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Bestimmung verliert, auch wenn eine solche Anwesenheit während dieses Zeitraums eine Gesamtdauer von nur wenigen Tagen nicht überschreitet, oder ob diese Bestimmung hingegen dahin auszulegen ist, dass sie es den Mitgliedstaaten erlaubt, zu verlangen, dass der betreffende langfristig Aufenthaltsberechtigte zur Vermeidung eines solchen Verlustes zusätzliche Voraussetzungen erfüllt, wie etwa die, dass er zumindest während eines Teils des betreffenden Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in diesem Gebiet hatte.

24      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen, die sich in den letzten fünf Jahren ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilen. Die Erlangung dieser Rechtsstellung vollzieht sich indes nicht automatisch. Gemäß Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie hat der betreffende Drittstaatsangehörige hierzu nämlich bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhält, einen Antrag einzureichen, dem Unterlagen beizufügen sind, aus denen hervorgeht, dass er die Voraussetzungen der Art. 4 und 5 dieser Richtlinie erfüllt. Insbesondere hat er gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie nachzuweisen, dass er über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen (Urteil vom 14. März 2019, Y. Z. u. a. [Täuschung bei der Familienzusammenführung], C‑557/17, EU:C:2019:203, Rn. 59).

25      Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens, dem nach Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in Österreich eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 ausgestellt wurde, im Zeitraum von August 2013 bis August 2018 nur wenige Tage pro Jahr im Unionsgebiet anwesend war. In Anbetracht dessen war der Landeshauptmann von Wien der Ansicht, dass davon auszugehen sei, dass sich der Aufenthaltsberechtigte während dieses Zeitraums im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie „nicht … aufgehalten“ habe, wobei eine solche Abwesenheit zum Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten führe, und lehnte daher die Verlängerung seiner Aufenthaltsberechtigung, mit der diese Rechtsstellung bescheinigt wird, ab.

26      Somit sind die Voraussetzungen für die Anwendung der letztgenannten Bestimmung und insbesondere diejenige in Bezug auf die Wendung „nicht … aufgehalten“ zu prüfen.

27      Ein langfristig Aufenthaltsberechtigter verliert nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten, wenn er sich während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten nicht im Gebiet der Union aufgehalten hat.

28      Da diese Bestimmung keinen Verweis auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten enthält, ist die in ihr enthaltene Wendung „nicht … aufgehalten“ als ein autonomer Begriff des Unionsrechts aufzufassen und – unabhängig von den Wertungen in den Mitgliedstaaten – im gesamten Gebiet der Union einheitlich auszulegen, wobei der Wortlaut dieser Bestimmung sowie der Zusammenhang, in dem diese Bestimmung steht, und die Ziele der Regelung, zu der sie gehört, zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2019, X [Langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige – Ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte], C‑302/18, EU:C:2019:830, Rn. 26).

29      Was als Erstes den Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 betrifft, ist festzustellen, dass in einer großen Zahl von Sprachfassungen dieser Richtlinie in dieser Bestimmung ein der Wendung „nicht … aufgehalten“ gleichbedeutender Begriff verwendet wird. Die Wendung „nicht … aufgehalten“ bedeutet, wie sie in dieser Bestimmung verwendet wird und entsprechend ihrer üblichen Bedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch, dass der betreffende langfristig Aufenthaltsberechtigte im Unionsgebiet physisch „nicht anwesend“ ist. Somit soll diese Wendung verdeutlichen, dass jede physische Anwesenheit des Betroffenen in diesem Gebiet eine solche Abwesenheit unterbrechen kann.

30      Zwar werden, wie die österreichische Regierung zur Stützung ihrer Auslegung dieser Bestimmung, wonach zu verlangen sei, dass der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen im Unionsgebiet habe, geltend macht, in der deutschen und in der niederländischen Fassung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 anstelle eines Ausdrucks unter Verwendung des Wortes „Abwesenheit“ die Verben „aufhalten“ bzw. „verblijven“ verwendet. Diese Fassungen stellen somit auf den Aufenthalt oder Verbleib im Unionsgebiet ab und könnten daher je nach Zusammenhang eine längerfristige Anwesenheit als nur eine physische Anwesenheit von beliebiger Dauer nahelegen.

31      Diese Nuance schließt jedoch zum einen nicht aus, dass sich diese Ausdrücke auch auf eine bloße physische Nicht-Anwesenheit beziehen können, und zum anderen muss sie jedenfalls relativiert werden, da diese Sprachfassungen von Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 im Übrigen auch die Worte „Abwesenheit“ bzw. „afwezigheid“ verwenden, was dem Begriff „nicht … aufgehalten“ entspricht.

32      Was als Zweites den Zusammenhang betrifft, in dem Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 steht, ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach Art. 8 der Richtlinie 2003/109 die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten „[v]orbehaltlich des Artikels 9“ dieser Richtlinie dauerhaft ist. Da der dauerhafte Charakter dieser Rechtsstellung die Grundregel bildet, ist Art. 9 daher als Ausnahme und demnach eng auszulegen (vgl. entsprechend in Bezug auf Art. 11 Abs. 4 dieser Richtlinie Urteil vom 10. Juni 2021, Land Oberösterreich [Wohnbeihilfe], C‑94/20, EU:C:2021:477, Rn. 37). Dieses Erfordernis spricht gegen eine weite Auslegung von Art. 9, nach der die bloße physische Anwesenheit des langfristig Aufenthaltsberechtigten im Unionsgebiet nicht ausreicht, um seine Abwesenheit von diesem Gebiet zu unterbrechen.

33      Zweitens ergibt sich insbesondere aus Art. 4 der Richtlinie 2003/109, dass in dieser Richtlinie, wenn in ihren in Rn. 29 des vorliegenden Urteils angesprochenen Sprachfassungen vom Betroffenen verlangt wird, dass seine Anwesenheit im betreffenden Gebiet über eine bloße physische Anwesenheit hinausgeht und eine gewisse Dauer oder eine gewisse Beständigkeit aufweist, dies ausdrücklich unter Heranziehung der einschlägigen Begriffe präzisiert wird. So verwendet Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie in den genannten Fassungen dem Verb „aufhalten“ entsprechende Ausdrücke und stellt klar, dass der Betroffene nach dieser Bestimmung vorbehaltlich der nach Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie zulässigen Abwesenheitszeiten sich unmittelbar vor der Stellung seines Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufgehalten haben muss.

34      Solche Angaben fehlen jedoch in Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109, der sich darauf beschränkt, den Zeitraum der Abwesenheit vom Unionsgebiet festzulegen, der zum Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten führt. Diese Bestimmung besagt entgegen dem Vorbringen der österreichischen Regierung insbesondere nicht, dass die Anwesenheit des Betroffenen in diesem Gebiet diese Abwesenheit nur dann unterbrechen kann, wenn sie von gewisser Dauer ist oder eine gewisse Stabilität aufweist, wie sie etwa dann gegeben wäre, wenn der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in diesem Gebiet hat. Außerdem schreibt diese Bestimmung entgegen dem Vorbringen der Kommission auch keine weiteren Voraussetzungen in Bezug auf die Dauer oder die Art dieser Anwesenheit vor, die u. a. das Bestehen einer „aufrechten und echten Verbindung“ mit diesem Gebiet betreffen, wie etwa die, dass der Betroffene im betreffenden Mitgliedstaat Familie oder Eigentum hat.

35      Die Prüfung des Zusammenhangs, in dem Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 steht, bestätigt somit die Auslegung, die sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt.

36      Was als Drittes und Letztes das mit der Richtlinie 2003/109 verfolgte Ziel betrifft, ergibt sich erstens aus ihren Erwägungsgründen 2, 4, 6 und 12, dass sie darauf abzielt, die Integration von Drittstaatsangehörigen sicherzustellen, die in den Mitgliedstaaten langfristig und rechtmäßig ansässig sind, und zu diesem Zweck die Rechte dieser Drittstaatsangehörigen an die Rechte anzugleichen, über die die Unionsbürger verfügen, u. a. dadurch, dass die Gleichbehandlung mit den Unionsbürgern in vielen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen herbeigeführt wird (Urteil vom 14. März 2019, Y. Z. u. a. [Täuschung bei der Familienzusammenführung], C‑557/17, EU:C:2019:203, Rn. 63). Diesen Drittstaatsangehörigen wird nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilt, damit sie die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte wahrnehmen können.

37      Dieses Ziel spricht für eine Auslegung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109, nach der diese Drittstaatsangehörigen, die bereits durch die Dauer ihres Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ihre Verwurzelung in diesem Mitgliedstaat belegt haben, grundsätzlich wie die Unionsbürger berechtigt sind, sich auch während längerer Zeiträume außerhalb des Unionsgebiets zu bewegen und aufzuhalten, ohne dass dies an sich schon zum Verlust ihrer Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten führt, sofern sie nicht während des gesamten in dieser Bestimmung angeführten Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten von diesem Gebiet abwesend sind.

38      Zweitens geht aus dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 hervor, dass der Unionsgesetzgeber das in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannte Ziel verfolgen wollte, indem er den betroffenen Personen im Rahmen der Verfahrensvorschriften über die Prüfung des Antrags auf Gewährung dieser Rechtsstellung angemessene Rechtssicherheit bietet. Die Bedeutung, die dem Grundsatz der Rechtssicherheit in Bezug auf die Erlangung dieser Rechtsstellung somit beigemessen wird, muss aber notwendigerweise auch für ihren Verlust gelten, da dieser Verlust die Erlangung dieser Rechtsstellung hinfällig macht; dies wird im Übrigen in den Vorarbeiten zur Richtlinie 2003/109 mit den Worten hervorgehoben, dass „[d]er Status eines langfristig Aufenthaltsberechtigten … dem Betreffenden maximale Rechtssicherheit bieten [muss]“ und „[d]ie Fälle, in denen dieser Status aberkannt werden kann, … genau geregelt [werden]“ (vgl. Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend den Status der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (KOM[2001] 127 endg.).

39      Insoweit gebietet der Grundsatz der Rechtssicherheit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, insbesondere, dass Rechtsvorschriften klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen vorhersehbar sind (Urteil vom 13. Februar 2019, Human Operator, C‑434/17, EU:C:2019:112, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen, dass jede physische Anwesenheit des Betroffenen im Unionsgebiet geeignet ist, dessen Abwesenheit zu unterbrechen und folglich den Verlust seiner Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Bestimmung zu vermeiden, macht die Aufrechterhaltung dieser Rechtsstellung von einem klaren, bestimmten und vorhersehbaren Kriterium abhängig, das sich auf ein rein objektives Ereignis bezieht, so dass eine solche Auslegung am ehesten geeignet ist, den Betroffenen angemessene Rechtssicherheit zu garantieren.

41      Was drittens ganz speziell die Zweckbestimmung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie anbelangt, ist davon auszugehen, dass mit dieser Bestimmung vermieden werden soll, dass Drittstaatsangehörige, die sich in Situationen befinden, in denen die Aufrechterhaltung dieser Rechtsstellung für die Verwirklichung des in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten Ziels nicht mehr von Nutzen ist, weiterhin die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten und die damit verbundenen Rechte in Anspruch nehmen können.

42      Insoweit hat der Gerichtshof in Bezug auf Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38 entschieden, dass diese Bestimmung den Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Daueraufenthalt wegen Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat für eine längere Dauer als zwei aufeinanderfolgende Jahre betrifft und dass sich eine derartige Maßnahme damit rechtfertigt, dass nach einer solchen Abwesenheit die Verbindung zum Aufnahmemitgliedstaat gelockert ist (Urteil vom 21. Juli 2011, Dias, C‑325/09, EU:C:2011:498, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Auch wenn sich die Richtlinien 2003/109 und 2004/38 durch ihren Gegenstand und ihre Ziele voneinander unterscheiden, können die Bestimmungen dieser Richtlinien, wie auch der Generalanwalt in den Nrn. 40 bis 43 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, dennoch einer vergleichenden Prüfung zugänglich sein und gegebenenfalls analog ausgelegt werden, was insbesondere im Fall von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 und von Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38, denen dieselbe Logik zugrunde liegt, gerechtfertigt ist.

44      Daraus folgt, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 unbeschadet der in Art. 9 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit letztlich den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in Situationen betrifft, in denen die Verbindung, die der Inhaber dieses Rechts zuvor zum Unionsgebiet unterhielt, gelockert ist. Dies ist gemäß dieser Bestimmung allerdings erst nach einer Abwesenheit von diesem Gebiet während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten der Fall.

45      Folglich bestätigt der konkrete Zweck von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 die Auslegung dieser Bestimmung, nach der es für die Verhinderung des Verlusts der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ausreicht, dass der betreffende langfristig Aufenthaltsberechtigte während des Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten ab Beginn seiner Abwesenheit im Unionsgebiet anwesend ist, auch wenn eine solche Anwesenheit wenige Tage nicht überschreitet.

46      Allerdings ist die Situation eines langfristig Aufenthaltsberechtigten, der einige Tage im Jahr im Unionsgebiet verbracht und somit nicht während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten abwesend war, von der Situation zu unterscheiden, in der Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein solcher Aufenthaltsberechtigter einen Rechtsmissbrauch begangen hat. Im vorliegenden Fall bietet die dem Gerichtshof vorliegende Akte keinen Anhaltspunkt für das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs.

47      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass jede physische Anwesenheit eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Unionsgebiet während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten ausreicht, um zu verhindern, dass dieser Aufenthaltsberechtigte seine Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Bestimmung verliert, auch wenn eine solche Anwesenheit während dieses Zeitraums eine Gesamtdauer von nur wenigen Tagen nicht überschreitet.

 Kosten

48      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen ist dahin auszulegen, dass jede physische Anwesenheit eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Gebiet der Europäischen Union während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten ausreicht, um zu verhindern, dass dieser Aufenthaltsberechtigte seine Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Bestimmung verliert, auch wenn eine solche Anwesenheit während dieses Zeitraums eine Gesamtdauer von nur wenigen Tagen nicht überschreitet.

Prechal

Passer

Biltgen

Rossi

 

Wahl

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. Januar 2022.

Der Kanzler

 

Der Präsident

A. Calot Escobar

 

K. Lenaerts


*      Verfahrenssprache: Deutsch.