Language of document : ECLI:EU:C:2014:350

Rechtssache C‑356/12

Wolfgang Glatzel

gegen

Freistaat Bayern

(Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs)

„Vorabentscheidungsersuchen – Verkehr – Richtlinie 2006/126/EG – Anhang III Nr. 6.4 – Gültigkeit – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 26 – Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – Führerschein – Körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs – Mindestanforderungen – Sehschärfe – Gleichbehandlung – Keine Möglichkeit einer Ausnahme – Verhältnismäßigkeit“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 22. Mai 2014

1.        Grundrechte – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Gleichbehandlung – Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung – Umfang

(Richtlinie 2000/78 des Rates; Beschluss 2010/48 des Rates)

2.        Verkehr – Straßenverkehr – Führerschein – Richtlinie 2006/126 – Gegenseitige Anerkennung der Führerscheine – Anforderungen an die Sehschärfe – Beurteilung der Gültigkeit im Hinblick auf das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung – Beschränkung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Gültigkeit – Beurteilung der Gültigkeit im Hinblick auf die Verpflichtung zur Integration von Menschen mit Behinderungen – Gültigkeit – Beurteilung der Gültigkeit im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung – Gültigkeit

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 26; Richtlinie 2006/126 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 und 7 und Anhang III)

1.        In Bezug auf die Frage der Diskriminierung wegen einer Behinderung verlangt Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom Unionsgesetzgeber insbesondere, dass er keine unterschiedliche Behandlung auf der Grundlage einer Einschränkung vornimmt, die u. a. auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Personen, hindern können, es sei denn, dass eine solche unterschiedliche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist.

(vgl. Rn. 46)

2.        Die Prüfung der Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126 über den Führerschein im Hinblick auf Art. 20, Art. 21 Abs. 1 oder Art. 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beeinträchtigen könnte.

Eine unterschiedliche Behandlung von Personen danach, ob sie über die erforderliche Sehschärfe zum Führen von Kraftfahrzeugen verfügen, verstößt nämlich grundsätzlich nicht gegen das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung im Sinne von Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, sofern diese Anforderung tatsächlich einem dem Gemeinwohl dienenden Ziel entspricht, erforderlich ist und nicht zu einer übermäßigen Belastung führt. Indem die Richtlinie 2006/126 in ihrem Anhang III für Fahrzeugführer der Gruppe 2 im Sinne dieses Anhangs eine Mindestsehschärfe auf dem schlechteren Auge festlegt, soll sie jedoch die Sicherheit im Straßenverkehr verbessern und entspricht damit dem dem Gemeinwohl dienenden Ziel der Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr. Zur Frage der Erforderlichkeit dieser Mindestanforderungen ist es zur Gewährleistung der Sicherheit im Straßenverkehr unabdingbar, dass die Personen, denen eine Fahrerlaubnis erteilt wird, über angemessene körperliche Fähigkeiten, insbesondere hinsichtlich ihres Sehvermögens, verfügen, da körperliche Schwächen erhebliche Folgen haben können. Schließlich hat der Unionsgesetzgeber die Erfordernisse der Sicherheit im Straßenverkehr gegen das Recht der von einer Sehbehinderung betroffenen Personen auf Nichtdiskriminierung in einer Weise abgewogen, bei der nicht angenommen werden kann, dass sie außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen steht.

Obwohl Art. 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union darüber hinaus verlangt, dass die Union den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Integration anerkennt und achtet, führt der in diesem Artikel niedergelegte Grundsatz jedoch nicht dazu, dass der Unionsgesetzgeber diese oder jene besondere Maßnahme erlassen müsste. Damit dieser Artikel seine volle Wirksamkeit entfaltet, muss er nämlich durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden. Er kann für sich allein dem Einzelnen kein subjektives Recht verleihen, das als solches geltend gemacht werden kann.

Schließlich stellt der Umstand, dass für Fahrzeugführer der Gruppe 1 im Sinne des Anhangs III der Richtlinie 2006/126, die die Anforderungen insbesondere an die Sehschärfe nicht erfüllen, gleichwohl „in Ausnahmefällen“ eine Erteilung der Fahrerlaubnis in Betracht gezogen werden darf, wenn der Fahrzeugführer sich einer Einzelprüfung seiner Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs unterzieht, während eine solche Möglichkeit für Fahrzeugführer der Gruppe 2 nicht besteht, keine Ungleichbehandlung dar, die nicht in Einklang mit Art. 20 der Charta der Grundrechte der Union steht. Der Unionsgesetzgeber war darauf bedacht, die Fahrzeugführer in Abhängigkeit von der Größe des Fahrzeugs, der Zahl der beförderten Personen und der Verantwortung, die sich damit aus dem Führen solcher Fahrzeuge ergibt, in zwei Kategorien einzuteilen. In der Tat rechtfertigen die Merkmale der betroffenen Fahrzeuge, wie die Größe, das Gewicht oder die Manövrierfähigkeit dieser Fahrzeuge, unterschiedliche Voraussetzungen für die Erteilung der Fahrerlaubnis, soweit sie das Führen dieser Fahrzeuge betreffen. Die Situationen der Führer solcher Fahrzeuge sind daher nicht miteinander vergleichbar. Soweit sich diese Situationen nicht miteinander vergleichen lassen, verstößt deren unterschiedliche Behandlung nicht gegen das Recht der Fahrzeugführer der jeweiligen Gruppe auf die in Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegte „Gleichheit vor dem Gesetz“.

(vgl. Rn. 50, 51, 54, 72, 78, 80, 83, 84, 86 und Tenor)