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Verbundene Rechtssachen T‑440/03, T‑121/04, T‑171/04, T‑208/04, T‑365/04 und T‑484/04

Jean Arizmendi u. a.

gegen

Rat der Europäischen Union und Europäische Kommission

„Außervertragliche Haftung – Zollunion – Vertragsverletzungsverfahren – Mit Gründen versehene Stellungnahme – Abschaffung des Monopols des Berufsstands der Makler, Übersetzer und Zollführer im Schiffsfrachtbereich im französischen Recht – Hinreichend qualifizierter Verstoß – Kausalzusammenhang“

Leitsätze des Urteils

1.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Nichteinleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission

(Art. 226 EG und 288 Abs. 2 EG)

2.      Schadensersatzklage – Selbständigkeit gegenüber der Nichtigkeitsklage – Gegenstand

(Art. 226 Abs. 1 EG und 288 Abs. 2 EG)

3.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht

(Art. 226 EG und 288 Abs. 2 EG)

4.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Kausalzusammenhang – Begriff

(Art. 226 EG und 288 Abs. 2 EG)

5.      Vertragsverletzungsklage – Vorverfahren – Gegenstand

(Art. 226 EG)

1.      Eine Schadensersatzklage, die sich darauf stützt, dass die Kommission von der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 EG abgesehen hat, ist unzulässig. Eine Entscheidung der Kommission, kein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EG einzuleiten, ist nämlich jedenfalls nicht rechtswidrig, da sie nicht verpflichtet ist, ein solches Verfahren einzuleiten, so dass die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft nicht ausgelöst wird. Mangels einer Verpflichtung der Kommission zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens kann somit dessen Nichteinleitung keine Haftung der Gemeinschaft auslösen.

(vgl. Randnr. 62)

2.      Die Schadensersatzklage ist ein selbständiger Rechtsbehelf mit eigener Funktion im System der Klagemöglichkeiten. Sie richtet sich auf Ersatz des Schadens, der sich aus einer rechtswidrigen Handlung oder Verhaltensweise ergibt, die einem Organ zuzurechnen ist.

Daher kann grundsätzlich jede Handlung eines Organs, unabhängig davon, ob sie mit einer Nichtigkeitsklage angefochten werden kann, auch dann Gegenstand einer Schadensersatzklage sein, wenn das Organ sie im Rahmen seines Ermessens vorgenommen hat. Dass ein Organ über Ermessen verfügt, entbindet es nämlich nicht von der Verpflichtung, in Übereinstimmung mit höherrangigen Rechtsvorschriften wie dem Vertrag und den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts sowie dem einschlägigen abgeleiteten Recht zu handeln. Wird die Frage der Rechtmäßigkeit der Handlung im Rahmen einer Schadensersatzklage aufgeworfen, so kann sie auf der Grundlage dieser Verpflichtungen des Organs gewürdigt werden. Der entgegengesetzte Ansatz liefe dem Grundsatz der Rechtsgemeinschaft zuwider und würde der Schadensersatzklage ihre praktische Wirksamkeit nehmen, da der Richter die Rechtmäßigkeit der Handlung eines Organs im Rahmen einer solchen Klage nicht prüfen könnte.

Auch wenn die Kommission im Rahmen ihrer Befugnisse aus Art. 226 EG frei entscheiden kann, ob sie die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage gegen einen Mitgliedstaat für zweckmäßig hält, ohne ihre Entscheidung rechtfertigen zu müssen, und auch wenn sie daher unter den gleichen Umständen im Rahmen der Ausübung ihrer Befugnisse eine mit Gründen versehene Stellungnahme an den Mitgliedstaat richten kann, so kann folglich nicht ausgeschlossen werden, dass ein Kläger unter ganz außerordentlichen Umständen nachweisen kann, dass eine solche mit Gründen versehene Stellungnahme rechtswidrig ist und einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift darstellt, der geeignet ist, dieser Person einen Schaden zuzufügen.

Dass eine mit Gründen versehene Stellungnahme, die die Kommission in Anwendung von Art. 226 Abs. 1 EG abgibt, keine Handlung darstellt, die darauf gerichtet ist, verbindliche Rechtswirkungen gegenüber Dritten zu erzeugen, und daher nicht Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein kann, steht dem nicht entgegen.

(vgl. Randnrn. 64-69)

3.      Steht die Rechtswidrigkeit eines Rechtsakts in Frage, so setzt die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft voraus, dass ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift, die Einzelnen Rechte verleiht, gegeben ist. Entscheidendes Kriterium für die Beurteilung der Frage, ob ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht als hinreichend qualifiziert anzusehen ist, ist, ob ein Organ die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat.

Im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens, wie es in Art. 226 EG vorgesehen ist, ist allein der Gerichtshof zu der Feststellung befugt, dass ein Mitgliedstaat gegen seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen hat. Somit kann die Kommission zwar frei beurteilen, ob sie die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage für zweckmäßig hält, doch kann sie die Vertragsverletzung nicht verbindlich feststellen. Soweit die Kommission sich in einer mit Gründen versehenen Stellungnahme darauf beschränkt, sich zum Vorliegen des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine gemeinschaftsrechtlichen Pflichten zu äußern, kann deren Annahme keinen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift, die Einzelnen Rechte verleiht, darstellen. Daher kann selbst eine rechtsfehlerhafte Auffassung, die die Kommission in einer mit Gründen versehenen Stellungnahme zur Tragweite des Gemeinschaftsrechts vertritt, keinen hinreichend qualifizierten Verstoß darstellen, der die Haftung der Gemeinschaft auslösen könnte.

Wenn hingegen die Beurteilungen in einer mit Gründen versehenen Stellungnahme über die Feststellung der Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats hinausgehen oder die Kommission durch andere Handlungen im Zusammenhang mit einem Vertragsverletzungsverfahren ihre Befugnisse überschreitet, z. B. durch die schuldhafte Weitergabe von Geschäftsgeheimnissen oder Informationen, die den Ruf einer Person schädigen, können diese Beurteilungen oder Handlungen einen Verstoß darstellen, der geeignet ist, die Haftung der Gemeinschaft auszulösen.

(vgl. Randnrn. 74-78)

4.      Im Zusammenhang mit einer Schadensersatzklage liegt ein Kausalzusammenhang vor, wenn ein hinreichend unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen dem beanstandeten Verhalten des Organs und dem geltend gemachten Schaden besteht; die Beweislast trägt der Kläger. Das beanstandete Verhalten muss somit die ausschlaggebende Ursache für den Schaden sein.

Dass die Kommission im Rahmen des von ihr gemäß Art. 226 EG eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme – möglicherweise zu Unrecht – die Auffassung vertritt, dass die nationalen Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar seien, ist in Wirklichkeit ohne Belang, da die mit Gründen versehene Stellungnahme den Mitgliedstaat nicht verpflichtet, seine Rechtsvorschriften zu ändern. Im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens könnte nämlich nur ein Urteil des Gerichtshofs eine solche verbindliche Wirkung entfalten.

Da die von der Kommission in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vertretene Auffassung, ein Mitgliedstaat habe gegen seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen, keine verbindliche Wirkung hat, kann sie nicht als ausschlaggebende Ursache für den Schaden angesehen werden, der durch die nach Maßgabe der mit Gründen versehenen Stellungnahme erfolgte Änderung der in Rede stehenden Rechtsvorschriften entstanden ist.

(vgl. Randnrn. 85, 90, 92-93)

5.      Das Vorverfahren nach Art. 226 EG soll dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit geben, seinen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen oder seine Verteidigungsmittel gegenüber den Rügen der Kommission wirkungsvoll geltend zu machen. Der Mitgliedstaat ist somit nicht verpflichtet, der mit Gründen versehenen Stellungnahme Folge zu leisten, wenn der von der Kommission erhobene Vorwurf einer Vertragsverletzung seines Erachtens unberechtigt ist.

(vgl. Randnr. 87)