Language of document : ECLI:EU:T:2018:643

Rechtssache T-128/14

Daimler AG

gegen

Europäische Kommission

„Zugang zu Dokumenten – Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – Dokumente betreffend ein Verfahren nach Art. 29 der Richtlinie 2007/46/EG, der es einem Mitgliedstaat erlaubt, die Zulassung von Fahrzeugen, die ein erhebliches Risiko für die Sicherheit im Straßenverkehr darstellen oder die Umwelt oder die öffentliche Gesundheit ernsthaft gefährden, zu untersagen – Verweigerung des Zugangs – Ausnahme zum Schutz von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Allgemeine Vermutung – Übereinkommen von Aarhus – Verweigerung der Akteneinsicht – Art. 41 der Charta der Grundrechte“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 4. Oktober 2018

1.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Begriff – Handlungen mit verbindlichen Rechtswirkungen – Vorbereitende Handlungen – Ausschluss – Beschluss der Kommission, mit dem ein Antrag auf Akteneinsicht, der im Rahmen eines auf der Grundlage der Richtlinie 2007/46 geführten Verfahrens gestellt wurde, abgelehnt wurde – Vorbereitende Maßnahme

(Art. 263 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41; Richtlinie 2007/46 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 29)

2.      Internationale Übereinkünfte – Abkommen der Union – Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Übereinkommen von Aarhus) – Wirkungen – Vorrang vor Rechtsakten des abgeleiteten Unionsrechts – Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts anhand dieses Übereinkommens – Voraussetzungen – Möglichkeit, sich auf Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 Buchst. c des Übereinkommens zu berufen – Fehlen

(Art. 216 Abs. 2 AEUV; Übereinkommen von Aarhus, Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 Buchst. c; Verordnung Nr. 1367/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates)

3.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Antrag auf Zugang zu Umweltinformationen – Anwendung der Verordnung Nr. 1367/2006 als Lex specialis im Verhältnis zur Verordnung Nr. 1049/2001– Auswirkung – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Umfang – Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Ausschluss

(Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates Nr. 1049/2001, Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich und Nr. 1367/2006, Art. 6 Abs. 1)

4.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Enge Auslegung und Anwendung – Verpflichtung des Organs zu einer konkreten und individuellen Prüfung der Dokumente – Umfang – Ausschluss der Verpflichtung – Möglichkeit, sich auf allgemeine Vermutungen zu stützen, die für bestimmte Kategorien von Dokumenten gelten – Grenzen

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2)

5.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Begriff der Untersuchung – Von der Kommission gemäß Art. 29 der Richtlinie 2007/46 geführtes Verfahren – Einbeziehung

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich; Richtlinie 2007/46 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 29)

6.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Verweigerung des Zugangs – Möglichkeit, sich auf allgemeine Vermutungen zu stützen, die für bestimmte Kategorien von Dokumenten gelten – Voraussetzungen

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4)

7.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Bedeutung – Anwendung auf die Verwaltungsakten zu von der Kommission auf der Grundlage von Art. 29 der Richtlinie 2007/46 geführten Verfahren – Allgemeine Vermutung, dass die Ausnahme vom Zugangsrecht für sämtliche Dokumente der Verwaltungsakte gilt – Rechtfertigung durch allgemeine Gründe – Unzulässigkeit

(Art. 11 EUV; Art. 15 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich; Richtlinie 2007/46 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 29)

8.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Allgemeine Vermutung, dass die Ausnahme auf die Dokumente zu einem EU-Pilotverfahren anwendbar ist – Anwendbarkeit der Vermutung auf Dokumente zu einem gemäß Art. 29 der Richtlinie 2007/46 eingeleiteten Verfahren – Ausschluss

(Art. 258 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich; Richtlinie 2007/46 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 29)

1.      Wenn ein Automobilhersteller im Rahmen einer von der Kommission auf der Grundlage von Art. 29 der Richtlinie 2007/46 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge durchgeführten Untersuchung ein Schreiben an die Kommission richtet, in dem er zum einen zur Untersagung der Zulassung bestimmter Fahrzeuge Stellung nimmt und zum anderen Zugang zur Verwaltungsakte des Untersuchungsverfahrens beantragt, ist die Verweigerung der Akteneinsicht der Kommission nicht geeignet, Rechtswirkungen zu erzeugen, die bereits jetzt vor dem eventuellen Ergehen des in Art. 29 Abs. 2 der Richtlinie 2007/46 vorgesehenen endgültigen Beschlusses der Kommission die Interessen dieses Automobilherstellers beeinträchtigen können.

Im Fall von Handlungen oder Entscheidungen, die in einem mehrphasigen Verfahren ergehen, stellen nämlich grundsätzlich nur jene Maßnahmen Handlungen, die Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein können, dar, die den Standpunkt des betreffenden Organs zum Abschluss des Verfahrens endgültig festlegen; vorläufige Maßnahmen oder solche rein vorbereitender Natur können nicht Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein. Im Bereich des Wettbewerbs bringen Handlungen der Kommission, mit denen eine Akteneinsicht verweigert wird, auch wenn sie Anhörungsrechte verletzen können, insoweit im Grundsatz lediglich beschränkte Wirkungen hervor, wie sie für eine vorbereitende Maßnahme in einem Verwaltungsverfahren kennzeichnend sind. Nur gegen Handlungen, die die Rechtslage der betreffenden Unternehmen unmittelbar und irreversibel berühren, sind Nichtigkeitsklagen bereits vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens zulässig.

(vgl. Rn. 67, 68, 72, 74)

2.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 86-91, 93, 94)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 102, 104)

4.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 111-114, 117)

5.      Der Begriff „Untersuchung“ in Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission stellt einen eigenständigen Begriff des Unionsrechts dar, der insbesondere unter Berücksichtigung seines gewöhnlichen Sinnes und des Kontexts, in den er sich einfügt, auszulegen ist. Ein strukturiertes und formalisiertes Verfahren der Kommission, dessen Zweck darin besteht, Informationen zu sammeln und zu analysieren, damit sie im Rahmen der Ausübung ihrer Aufgaben nach dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag einen Standpunkt vertreten kann, stellt eine solche Tätigkeit dar. Ein solches Verfahren muss nicht zwingend auf die Aufdeckung oder Verfolgung einer Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit gerichtet sein. Der Begriff „Untersuchung“ kann auch eine Tätigkeit der Kommission erfassen, mit der Tatsachen festgestellt werden sollen, um eine bestimmte Situation zu bewerten.

Das in Art. 29 der Richtlinie 2007/46 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge vorgesehene Verfahren ist insoweit eine Untersuchungstätigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001. Das in diesem Art. 29 vorgesehene Verfahren ist nämlich ein strukturiertes und formalisiertes Verfahren, das die Sammlung und Analyse von Informationen zum Ziel hat und der Kommission ermöglichen soll, einen Standpunkt im Rahmen der Ausübung ihrer im EU-Vertrag und im AEU-Vertrag vorgesehenen Funktionen einzunehmen.

(vgl. Rn. 130-136)

6.      Einer Person, die auf der Grundlage der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission Zugang zu Dokumenten beantragt, kann eine allgemeine Vermutung nur dann wirksam entgegengehalten werden, wenn die beantragten Dokumente zu ein und derselben Dokumentenkategorie gehören oder gleichartig sind. Zudem ist die Anwendung allgemeiner Vermutungen wesentlich durch die zwingende Notwendigkeit bedingt, das ordnungsgemäße Funktionieren der fraglichen Verfahren sicherzustellen und zu gewährleisten, dass deren Zweck nicht beeinträchtigt wird. Somit kann die Anerkennung einer allgemeinen Vermutung darauf gestützt werden, dass der Zugang zu Dokumenten bestimmter Verfahren mit deren ordnungsgemäßem Ablauf unvereinbar ist und diese Verfahren zu beeinträchtigen droht, wobei davon auszugehen ist, dass die allgemeinen Vermutungen die Aufrechterhaltung des ordnungsgemäßen Ablaufs des Verfahrens ermöglichen, indem sie die Einflussnahme Dritter beschränken. Die Anwendung besonderer Regeln, die in einem Rechtsakt hinsichtlich eines Verfahrens vor einem Unionsorgan vorgesehen sind, für dessen Zwecke die angeforderten Dokumente vorgelegt wurden, ist eines der Kriterien, die die Anerkennung einer allgemeinen Vermutung rechtfertigen können.

(vgl. Rn. 138-140)

7.      Da die Möglichkeit, auf allgemeine Vermutungen zurückzugreifen, nicht nur eine Beschränkung des in Art. 11 EUV, Art. 15 AEUV und in der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission verankerten Grundprinzips der Transparenz bewirkt, sondern auch eine Begrenzung des Zugangs zu den in Rede stehenden Dokumenten in der Praxis, muss sich die Verwendung solcher Vermutungen auf stichhaltige und überzeugende Gründe stützen.

Somit muss die Kommission, um einem Antragsteller in Bezug auf einen Antrag auf Zugang zur Verwaltungsakte des von der Kommission auf der Grundlage von Art. 29 der Richtlinie 2007/46 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge durchgeführten Untersuchungsverfahrens eine allgemeine Vermutung der Nichtverbreitung der beantragten Dokumente entgegenhalten zu können, erklären, inwiefern diese Vermutung notwendig ist, um den ordnungsgemäßen Ablauf des in Rede stehenden Verfahrens sicherzustellen und um zu garantieren, dass die Ziele dieses Verfahrens nicht beeinträchtigt werden. Das Berufen auf Gründe wie die Notwendigkeit, ein Klima der Diskretion und Vertraulichkeit zwischen den Mitgliedstaaten zu garantieren und die Einflussnahme Dritter auf die laufende Untersuchung zu verhindern, ist insoweit nicht überzeugend, da diese Gründe für jedes beliebige gegen einen Mitgliedstaat laufende Untersuchungsverfahren gelten. Die Anerkennung der Möglichkeit, eine allgemeine Vermutung der Nichtverbreitung aus solchen Gründen anzuwenden, liefe der Rechtsprechung zuwider, wonach Vermutungen eng auszulegen und anzuwenden sind, da sie eine Ausnahme von der Verpflichtung des betreffenden Organs darstellen, jedes Dokument, auf das sich ein Antrag auf Zugang bezieht, konkret und individuell zu prüfen, und ganz allgemein von dem Grundsatz des größtmöglichen Zugangs der Öffentlichkeit zu Dokumenten, die sich im Besitz der Unionsorgane befinden.

(vgl. Rn. 155-159)

8.      In einem Verfahren, das von der Kommission nach Art. 29 der Richtlinie 2007/46 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge, der es einem Mitgliedstaat erlaubt, die Zulassung von Fahrzeugen zu untersagen, eingeleitet wurde, kann sich die Kommission nicht auf die allgemeine Vermutung der Nichtverbreitung von EU-Pilotverfahren betreffenden Dokumenten berufen, um den Zugang zur Verwaltungsakte des Untersuchungsverfahrens zu verweigern, da eine Untersagung der Zulassung mit anderen Gründen als dem gerechtfertigt werden kann, dass die auf dem Gebiet der Genehmigung von Kraftfahrzeugen zuständigen nationalen Behörden die anwendbaren Rechtsvorschriften nicht eingehalten hätten. Überdies stellt das aufgrund von Art. 29 Abs. 1 dieser Richtlinie eingeleitete Verfahren nicht die Vorstufe zu dem gegen einen Mitgliedstaat eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren dar.

Im Gegensatz zu einem EU-Pilotverfahren ist das Verfahren nach dieser Bestimmung kein zweiseitiges Verfahren zwischen der Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat. Art. 29 Abs. 2 der Richtlinie 2007/46 sieht nämlich vor, dass die Kommission die betreffenden Parteien so bald wie möglich anhört, um ihre Entscheidung vorzubereiten. Aus dieser Bestimmung geht hervor, dass der Hersteller als betreffende Partei das Recht hat, angehört zu werden, und dass er also – im Gegensatz zu einem möglichen Beschwerdeführer im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren – im Rahmen dieses Verfahrens beteiligt wird. Ebenso kann die Kommission sowohl andere Mitgliedstaaten als auch juristische Personen anhören, um Informationen zu erhalten, die sie für nützlich oder notwendig für ihre Untersuchung ansieht. Diese Anhörungselemente unterscheiden das von der Kommission gemäß Art. 29 der Richtlinie 2007/46 geführte Verfahren sehr deutlich von einem Vertragsverletzungsverfahren und einem EU-Pilotverfahren. Folglich ist die Rechtsprechung zu EU-Pilotverfahren und Vertragsverletzungsverfahren nicht analog anzuwenden.

(vgl. Rn. 166-171)