Language of document : ECLI:EU:C:2020:201

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

12. März 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2013/48/EU – Art. 3 Abs. 2 – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – Umstände, unter denen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gewährleistet werden muss – Nichterscheinen vor Gericht – Abweichungen vom Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz“

In der Rechtssache C‑659/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de Instrucción n. 4 de Badalona (Untersuchungsgericht Nr. 4 von Badalona, Spanien) mit Entscheidung vom 19. Oktober 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Oktober 2018, in dem Strafverfahren gegen

VW

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev sowie der Richter P. G. Xuereb und T. von Danwitz (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der spanischen Regierung, vertreten durch M. J. Ruiz Sánchez und M. J. García-Valdecasas Dorrego als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Pardo Quintillán und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. November 2019

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1) sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen VW wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und Urkundenfälschung.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 4, 6, 19 und 30 bis 32 der Richtlinie 2013/48 heißt es:

„(4)      Die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen setzt gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege voraus. Das Maß der gegenseitigen Anerkennung hängt von einer Reihe von Parametern ab; dazu gehören Mechanismen für den Schutz der Rechte von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen sowie gemeinsame Mindestnormen, die erforderlich sind, um die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu erleichtern.

(6)      Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafverfahren kann nur in einem Klima des Vertrauens vollständig zum Tragen kommen, in dem nicht nur die Justizbehörden, sondern alle an Strafverfahren beteiligten Akteure Entscheidungen der Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten als denen ihrer eigenen Justizbehörden gleichwertig ansehen; dies setzt nicht nur Vertrauen in die Angemessenheit der Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten voraus, sondern auch Vertrauen in die ordnungsgemäße Anwendung dieser Vorschriften. Zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens bedarf es detaillierter Bestimmungen zum Schutz der Verfahrensrechte und -garantien, die auf die Charta, die [am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)] und [den am 16. Dezember 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen und am 23. März 1976 in Kraft getretenen Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte] zurückgehen. Dies erfordert ferner eine Weiterentwicklung der in der Charta und der EMRK verankerten Mindeststandards innerhalb der [Europäischen] Union durch diese Richtlinie und andere Maßnahmen.

(19)      Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen das Recht haben, unverzüglich Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten zu können. Auf jeden Fall sollte Verdächtigen oder beschuldigten Personen der Zugang zu einem Rechtsbeistand während des Strafverfahrens vor Gericht gewährt werden, sofern sie nicht auf dieses Recht verzichtet haben.

(30)      In Fällen, in denen sich der Verdächtige oder die beschuldigte Person an einem weit entfernten Ort, wie etwa in Überseegebieten, befindet, oder wenn der Mitgliedstaat Militäroperationen außerhalb seines Gebiets durchführt oder an ihnen teilnimmt, ist es den Mitgliedstaaten gestattet, vorübergehend von dem Recht des Verdächtigen oder der beschuldigten Person, unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit Zugang zu einem Rechtsbeistand zu erhalten, abzuweichen. …

(31)      Den Mitgliedstaaten sollte es gestattet sein, vorübergehend von dem Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im vorgerichtlichen Stadium abzuweichen, wenn in dringenden Fällen schwerwiegende, nachteilige Auswirkungen auf das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person abgewehrt werden müssen. … Ein Missbrauch dieser Ausnahmeregelung würde die Verteidigungsrechte grundsätzlich irreparabel beeinträchtigen.

(32)      Den Mitgliedstaaten sollte es ferner gestattet sein, vorübergehend von dem Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im vorgerichtlichen Stadium abzuweichen, wenn ein umgehendes Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend erforderlich ist, um zu verhindern, dass das Strafverfahren erheblich gefährdet wird, insbesondere zur Verhinderung der Vernichtung oder Veränderung wesentlicher Beweismittel oder der Beeinflussung von Zeugen. … Ein Missbrauch dieser Ausnahmeregelung würde die Verteidigungsrechte grundsätzlich irreparabel beeinträchtigen.“

4        Art. 1 („Gegenstand“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften für die Rechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen in Strafverfahren und von Personen, die von einem Verfahren gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI [des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Stellungnahmen bestimmter Mitgliedstaaten zur Annahme des Rahmenbeschlusses (ABl. 2002, L 190, S. 1)] betroffen sind, auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, auf Benachrichtigung eines Dritten von dem Freiheitsentzug sowie auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs festgelegt.“

5        Art. 2 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie gilt für Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden, und unabhängig davon, ob ihnen die Freiheit entzogen wurde. Die Richtlinie gilt bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“

6        Art. 3 („Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Strafverfahren“) der Richtlinie lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können.

(2)      Verdächtige oder beschuldigte Personen können unverzüglich Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten. In jedem Fall können Verdächtige oder beschuldigte Personen ab dem zuerst eintretenden der folgenden Zeitpunkte Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten:

a)      vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden;

b)      ab der Durchführung von Ermittlungs- oder anderen Beweiserhebungshandlungen durch Ermittlungs- oder andere zuständige Behörden gemäß Absatz 3 Buchstabe c;

c)      unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit;

d)      wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht geladen wurde, rechtzeitig bevor der Verdächtige oder die beschuldigte Person vor diesem Gericht erscheint.

(3)      Das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand umfasst Folgendes:

a)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen das Recht haben, mit dem Rechtsbeistand, der sie vertritt, unter vier Augen zusammenzutreffen und mit ihm zu kommunizieren, auch vor der Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden.

b)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen ein Recht darauf haben, dass ihr Rechtsbeistand bei der Befragung zugegen ist und wirksam daran teilnimmt. Diese Teilnahme erfolgt gemäß den Verfahren des nationalen Rechts, sofern diese Verfahren die wirksame Ausübung und den Wesensgehalt des betreffenden Rechts nicht beeinträchtigen. Nimmt ein Rechtsbeistand während der Befragung teil, wird die Tatsache, dass diese Teilnahme stattgefunden hat[,] unter Verwendung des Verfahrens für Aufzeichnungen nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats schriftlich festgehalten.

c)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen mindestens das Recht haben, dass ihr Rechtsbeistand den folgenden Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beiwohnt, falls diese in den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen sind und falls die Anwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Personen bei den betreffenden Handlungen vorgeschrieben oder zulässig ist:

i)      Identifizierungsgegenüberstellungen;

ii)      Vernehmungsgegenüberstellungen;

iii)      Tatortrekonstruktionen.

(4)      Die Mitgliedstaaten bemühen sich, allgemeine Informationen zur Verfügung zu stellen, um es Verdächtigen oder beschuldigten Personen zu erleichtern, einen Rechtsbeistand zu erhalten.

Unbeschadet der Bestimmungen des nationalen Rechts über die zwingend vorgeschriebene Anwesenheit eines Rechtsbeistands treffen die Mitgliedstaaten die notwendigen Vorkehrungen, um sicherzustellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, denen die Freiheit entzogen ist, in der Lage sind, ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wirksam auszuüben, es sei denn, sie haben gemäß Artikel 9 auf dieses Recht verzichtet.

(5)      Unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium können die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Anwendung des Absatzes 2 Buchstabe c abweichen, wenn es aufgrund der geografischen Entfernung des Verdächtigen oder [der] beschuldigten [Person] nicht möglich ist, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit zu gewährleisten.

(6)      Unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium können die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Anwendung der nach Absatz 3 gewährten Rechte abweichen, wenn dies angesichts der besonderen Umstände des Falles durch einen der nachstehenden zwingenden Gründe gerechtfertigt ist:

a)      wenn dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person dringend erforderlich ist;

b)      wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens abzuwenden.“

7        Art. 8 der Richtlinie 2013/48 sieht vor:

„(1)      Vorübergehende Abweichungen nach Artikel 3 Absatz 5 oder Absatz 6 oder nach Artikel 5 Absatz 3 sind nur unter folgenden Voraussetzungen zulässig:

a)      Sie sind verhältnismäßig und gehen nicht über das erforderliche Maß hinaus,

b)      sie sind zeitlich eng begrenzt,

c)      sie sind nicht ausschließlich durch die Art oder die Schwere der mutmaßlichen Straftat begründet, und

d)      sie beeinträchtigen ein insgesamt faires Verfahren nicht.

(2)      Vorübergehende Abweichungen nach Artikel 3 Absatz 5 oder Absatz 6 können nur im Wege einer ordnungsgemäß begründeten Einzelfallentscheidung entweder von einer Justizbehörde oder aber – unter der Bedingung, dass die Entscheidung einer richterlichen Kontrolle unterzogen werden kann – von einer anderen zuständigen Behörde genehmigt werden. Die ordnungsgemäß begründete Entscheidung wird unter Verwendung des Verfahrens für die Protokollierung nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats protokolliert.

(3)      Vorübergehende Abweichungen nach Artikel 5 Absatz 3 können nur im Wege einer ordnungsgemäß begründeten Einzelfallentscheidung entweder von einer Justizbehörde oder – unter der Bedingung, dass die Entscheidung einer richterlichen Kontrolle unterzogen werden kann – von einer anderen zuständigen Behörde genehmigt werden.“

 Spanisches Recht

8        Art. 24 der Constitución (Verfassung) bestimmt:

„1.      Jede Person hat bei der Ausübung ihrer legitimen Rechte und Interessen Anspruch auf wirksamen Schutz durch Richter und Gerichte. In keinem Fall darf es zu einer Rechtsschutzverweigerung kommen.

2.      Ebenso hat jedermann das Recht auf einen gesetzlichen Richter, auf Verteidigung und Vertretung durch einen Rechtsanwalt, auf Informationen über die gegen ihn vorliegende Anklage, auf einen öffentlichen Prozess ohne ungebührliche Verzögerungen und mit allen Garantien, auf den Einsatz der Beweismittel, die für seine Verteidigung zweckmäßig sind, darauf, nicht gegen sich selbst aussagen und sich nicht für schuldig erklären zu müssen, sowie auf die Unschuldsvermutung.

…“

9        Art. 118 der Ley de Enjuiciamiento Criminal (Strafprozessordnung) in der durch die Ley Orgánica 13/2015 de modificación de la Ley de Enjuiciamiento Criminal para el fortalecimiento de las garantías procesales y la regulación de las medidas de investigación tecnológica (Organgesetz 13/2015 zur Änderung der Strafprozessordnung zum Zweck der Stärkung der Verfahrensgarantien und der Regelung der technischen Ermittlungsmaßnahmen) vom 5. Oktober 2015 (BOE Nr. 239 vom 6. Oktober 2015, S. 90192) geänderten Fassung (im Folgenden: Strafprozessordnung) sieht vor:

„1.      Jeder, dem eine strafbare Handlung vorgeworfen wird, kann seine Verteidigungsrechte ausüben und sich am Verfahren beteiligen, sobald er über das Verfahren in Kenntnis gesetzt, in Haft genommen oder eine andere vorläufige Maßnahme gegen ihn getroffen oder Anklage gegen ihn erhoben wird. Hierzu wird er unverzüglich über folgende Rechte belehrt:

b)      das Recht, zur Wahrung der Verteidigungsrechte rechtzeitig, spätestens aber vor seiner Vernehmung, Akteneinsicht nehmen zu können;

d)      das Recht auf freie Wahl eines Rechtsanwalts, unbeschadet der Regelung in Art. 527 Abs. 1 Buchst. a;

2.      Die Wahrnehmung der Verteidigungsrechte unterliegt ab der Erhebung des Tatvorwurfs bis zur Straftilgung keinen anderen als den gesetzlich vorgesehenen Beschränkungen.

…“

10      In Art. 527 der Strafprozessordnung heißt es:

„1.      In den in Art. 509 geregelten Fällen können dem Festgenommenen oder Gefangenen folgende Rechte entzogen werden, wenn die Umstände des Falles es rechtfertigen:

a)      Benennung eines Rechtsanwalts seines Vertrauens;

d)      Zugang durch ihn oder seinen Rechtsanwalt zu den Akten mit Ausnahme der Bestandteile, die für die Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Verhaftung von wesentlicher Bedeutung sind.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

11      Am 20. April 2018 erstellte die Polizei von Badalona (Spanien) ein Ermittlungsprotokoll wegen des gegen VW bestehenden Verdachts des Fahrens ohne Fahrerlaubnis und der Urkundenfälschung, nachdem VW bei einer Straßenverkehrskontrolle einen albanischen Führerschein vorgelegt hatte.

12      Am 19. Mai 2018 wurde gutachterlich festgestellt, dass es sich bei diesem Dokument um eine Fälschung handelte.

13      Mit Verfügung vom 11. Juni 2018 entschied der Juzgado de Instrucción n. 4 de Badalona (Untersuchungsgericht Nr. 4 von Badalona, Spanien), der im Rahmen des Strafverfahrens gegen VW angerufen worden war, VW zu vernehmen. Im Hinblick darauf wurde ein Pflichtverteidiger bestellt. Nachdem mehrere Ladungen des Beschuldigten fehlgeschlagen waren, da sein Aufenthaltsort nicht ermittelt werden konnte, erging am 27. September 2018 ein Haft- und Vorführungsbefehl gegen ihn.

14      Am 16. Oktober 2018 übersandte eine Rechtsanwältin per Telefax ein Schreiben, mit dem sie sich für VW bestellte. Dem Schreiben waren eine unterschriebene Vollmacht sowie die vom Pflichtverteidiger des Beschuldigten erteilte Zustimmung zur Mandatsübernahme beigefügt. Die Rechtsanwältin beantragte, künftige Verfahrensschriftstücke an sie zu senden und den Haftbefehl gegen ihren Mandanten aufzuheben, da dieser ohnehin vor Gericht erscheinen wolle.

15      Angesichts dessen, dass VW auf die erste Ladung nicht erschienen ist und ein Haftbefehl gegen ihn besteht, fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Inanspruchnahme seines Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der nationalen Regelung der Verteidigungsrechte bis zum Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt werden kann.

16      Hierzu erläutert das vorlegende Gericht, diese Regelung sei auf Art. 24 der Verfassung gestützt, und in Strafsachen seien die Verteidigungsrechte des Beschuldigten in Art. 118 der Strafprozessordnung geregelt. Diese Bestimmungen würden vom Tribunal Constitucional (Verfassungsgerichtshof, Spanien) und vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) dahin ausgelegt, dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand an die Bedingung geknüpft werden könne, dass der Beschuldigte persönlich vor Gericht erscheine. Insbesondere könne nach ständiger Rechtsprechung des Tribunal Constitucional (Verfassungsgerichtshof) die Inanspruchnahme dieses Rechts verwehrt werden, wenn der Beschuldigte abwesend oder unbekannten Aufenthalts sei. Nach dieser Rechtsprechung gelte das persönliche Erscheinen des Beschuldigten als angemessene Anforderung, die die Verteidigungsrechte nicht erheblich beeinträchtige. Im Wesentlichen sei die Anwesenheit des Beschuldigten Pflicht. Sie könne sich zur Aufklärung des Sachverhalts als notwendig erweisen. Im Übrigen könne, wenn der Beschuldigte bei Abschluss der Voruntersuchung immer noch abwesend sei, keine Hauptverhandlung durchgeführt und kein Urteil erlassen werden, so dass das Verfahren stillstehe, was den betroffenen Privatpersonen ebenso wie den maßgeblichen öffentlichen Interessen zum Nachteil gereiche.

17      Diese Rechtsprechung sei trotz der Reform von 2015, die insbesondere erfolgt sei, um die Richtlinie 2013/48 in spanisches Recht umzusetzen, aufrechterhalten worden. Zu beachten sei auch, dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Art. 118 der Strafprozessordnung nur in den Fällen eingeschränkt sei, die in dem in dieser Vorschrift ausdrücklich angeführten Art. 527 der Strafprozessordung genannt würden.

18      Das vorlegende Gericht fragt sich daher, wie weit das in der Richtlinie 2013/48 vorgesehene Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand reicht. Insbesondere hegt es Zweifel daran, dass die oben dargelegte Rechtsprechung mit Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie und Art. 47 der Charta vereinbar ist.

19      Unter diesen Umständen hat der Juzgado de Instrucción n. 4 de Badalona (Untersuchungsgericht Nr. 4 von Badalona) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 47 der Charta und insbesondere Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen, dass es rechtmäßig ist, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand auszusetzen, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person auf die erste Ladung des Gerichts nicht erscheint und ein nationaler, europäischer oder internationaler Haftbefehl ergeht, und hierzu den Zugang zum Rechtsbeistand und seine Bestellung im Verfahren bis zum Vollzug des Haftbefehls und der polizeilichen Vorführung des Verdächtigen vor dem Gericht auszusetzen?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

20      In seinem Vorabentscheidungsersuchen hat das vorlegende Gericht die Anwendung des beschleunigten Verfahrens gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt. Dieser Antrag ist mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 18. Januar 2019, VW (Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bei Nichterscheinen vor Gericht) (C‑659/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:45), zurückgewiesen worden.

 Zur Vorlagefrage

21      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2013/48, insbesondere ihr Art. 3 Abs. 2, im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Inanspruchnahme des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in der vorgerichtlichen Phase des Strafverfahrens aufgrund des Nichterscheinens des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person auf eine Ladung vor einen Untersuchungsrichter ausgesetzt werden kann, bis der nationale Haftbefehl gegen den Betroffenen vollzogen ist.

 Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2013/48

22      Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst zu prüfen, ob die Richtlinie 2013/48 auf die Situation einer Person wie VW anwendbar ist, die mehrfach vor einen Untersuchungsrichter geladen wurde, um zum ersten Mal in Bezug auf Straftaten, deren Begehung sie verdächtigt wird, vernommen zu werden, und gegen die ein zu diesem Zweck erlassener nationaler Haftbefehl vorliegt.

23      Insoweit bezweifelt die spanische Regierung, dass eine solche Situation in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt. Sie macht geltend, da die Ladungen des Beschuldigten fehlgeschlagen seien, sei dieser nicht im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie davon in Kenntnis gesetzt worden, dass er der Begehung einer Straftat verdächtig sei.

24      Die Richtlinie 2013/48 hat ihrem Art. 1 zufolge zum Gegenstand, Mindestvorschriften für die Rechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen in Strafverfahren, darunter das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, festzulegen. Der Anwendungsbereich dieser Richtlinie wird in deren Art. 2 definiert, der in Abs. 1 bestimmt, dass diese Richtlinie für Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren ab dem Zeitpunkt gilt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden.

25      Zum einen fällt eine Person, die vor einen Untersuchungsrichter geladen wurde, der in einem Strafverfahren wegen mutmaßlich von ihr begangener Straftaten angerufen wurde, unter den Begriff „Verdächtiger“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48. Zum anderen zeigt der Wortlaut dieser Vorschrift, insbesondere die Wendung „von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise … in Kenntnis gesetzt“, dass für die Anwendbarkeit der Richtlinie 2013/48 eine Unterrichtung des Betroffenen durch die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats genügt, auf welche Weise auch immer sie erfolgt.

26      Folglich muss es, wie der Generalanwalt in Nr. 31 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, als ausreichend angesehen werden, dass diese Behörden eine amtliche Entscheidung erlassen oder einen sonstigen Verfahrensschritt vornehmen, um den Betroffenen davon in Kenntnis zu setzen, dass er nach nationalem Recht als Verdächtiger oder Beschuldigter angesehen wird. Nicht von Belang ist hingegen, auf welchem Wege eine solche Information dem Betroffenen zugeht.

27      Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten unmissverständlich nicht nur hervor, dass eine solche Entscheidung in Bezug auf VW erlassen wurde, sondern auch, dass sie ihm zugegangen ist, da er schließlich eine Rechtsanwältin mit seiner Vertretung im Strafverfahren gegen ihn beauftragt hat.

28      Somit erscheinen die Zweifel der spanischen Regierung daran, dass die Richtlinie 2013/48 im Ausgangsverfahren anwendbar ist, unbegründet, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu überprüfen ist.

 Zum Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie 2013/48

29      Zu dem von der Richtlinie 2013/48 im Licht von Art. 47 der Charta vorgesehenen Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht laut den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen wissen möchte, ob die Inanspruchnahme dieses Rechts aufgrund des Nichterscheinens des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person ausgesetzt werden kann. Hingegen betrifft dieses Ersuchen nicht den nach dieser Richtlinie bestehenden Inhalt des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, darunter die in Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie genannten Elemente.

30      Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass sie ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können (Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 103).

31      Auch wenn in diesem Art. 3 Abs. 1 das Grundprinzip aufgestellt wird, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass sie ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können, wird dieser Grundsatz, wie der Generalanwalt in Nr. 40 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, in Abs. 2 dieses Artikels präzisiert, was den Zeitpunkt angeht, ab dem dieses Recht gewährt werden muss.

32      Nach Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie müssen Verdächtige und beschuldigte Personen den Zugang zu einem Rechtsbeistand unverzüglich erhalten können, in jedem Fall ab dem zuerst eintretenden der vier spezifischen Zeitpunkte, die in den Buchst. a bis d dieser Vorschrift aufgezählt werden.

33      Dieser Art. 3 Abs. 2 bestimmt, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen u. a. gemäß Buchst. a „vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden“ und gemäß Buchst. d „wenn [sie] vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht geladen wurde[n], rechtzeitig bevor [sie] vor diesem Gericht erschein[en]“, Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten können.

34      Im vorliegenden Fall wurde der Betroffene vor das in Strafsachen zuständige vorlegende Gericht geladen, um zu den Straftaten, deren Begehung er verdächtigt wird, vernommen zu werden. In einer solchen Situation muss das Recht des Verdächtigen auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Strafverfahren gegen ihn grundsätzlich gewährleistet werden.

35      Im Übrigen besagt der 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen sollten, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen das Recht haben, unverzüglich Zugang zu einem Rechtsbeistand zu erhalten, auf jeden Fall während des Strafverfahrens vor Gericht, sofern sie nicht auf dieses Recht verzichtet haben.

36      Nach dieser Feststellung ist ferner zu ermitteln, ob die Richtlinie 2013/48 im Licht von Art. 47 der Charta es den Mitgliedstaaten erlaubt, vom Recht auf Zugang auf einen Rechtsbeistand, das einem vor einen Untersuchungsrichter geladenen Verdächtigen also grundsätzlich garantiert werden muss, wegen des Nichterscheinens dieses Verdächtigen abzuweichen.

37      Insoweit sieht Art. 3 dieser Richtlinie vor, dass eine vorübergehende Abweichung von dem in der Richtlinie verankerten Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in drei Reihen von Umständen möglich ist, die in Art. 3 Abs. 5, Art. 3 Abs. 6 Buchst. a und Art. 3 Abs. 6 Buchst. b der Richtlinie genannt werden.

38      In den Abs. 5 und 6 dieses Art. 3 heißt es, dass unter „außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium … die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Anwendung [bestimmter Vorschriften dieses Artikels] abweichen [können]“.

39      Insbesondere können die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2013/48 vorübergehend von der Anwendung des Art. 3 Abs. 2 Buchst. c dieser Richtlinie abweichen, „wenn es aufgrund der geografischen Entfernung des Verdächtigen oder [der] beschuldigten [Person] nicht möglich ist, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit zu gewährleisten“.

40      Gemäß Art. 3 Abs. 6 der Richtlinie 2013/48 können die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Anwendung der nach Abs. 3 dieses Artikels gewährten Rechte abweichen, wenn dies angesichts der besonderen Umstände des Falles durch einen von zwei zwingenden Gründen gerechtfertigt ist. Diese zwingenden Gründe liegen nach Art. 3 Abs. 6 Buchst. a dieser Richtlinie vor, „wenn dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person dringend erforderlich ist“, oder nach Art. 3 Abs. 6 Buchst. b der Richtlinie, „wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens abzuwenden“.

41      Im vorliegenden Fall lässt sich dem Vorabentscheidungsersuchen keiner der in Art. 3 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2013/48 genannten Umstände entnehmen.

42      Aus der Systematik und den Zielen der Richtlinie 2013/48 folgt aber, dass die vorübergehenden Abweichungen, die die Mitgliedstaaten bezüglich des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand vorsehen können, in diesem Art. 3 Abs. 5 und 6 abschließend aufgezählt werden.

43      Was die Systematik der Richtlinie 2013/48 anbelangt, sind die Abs. 5 und 6 von Art. 3 dieser Richtlinie als Vorschriften, die Abweichungen von den in Art. 3 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie niedergelegten Grundsätzen zulassen, eng auszulegen. Im Übrigen bezieht sich Art. 8 („Allgemeine Bedingungen für die Anwendung vorübergehender Abweichungen“) der Richtlinie hinsichtlich des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand allein auf die in Art. 3 Abs. 5 und 6 vorgesehenen Abweichungen. Auch die Erwägungsgründe 30 bis 32 der Richtlinie 2013/48 verweisen nur auf diese Abweichungen.

44      Hinsichtlich der Ziele der Richtlinie 2013/48 geht aus den Erwägungsgründen 4 und 6 dieser Richtlinie hervor, dass sie u. a. darauf abzielt, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen umzusetzen, der gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege voraussetzt. Die Richtlinie soll u. a. das in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerte Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, sowie die durch Art. 48 Abs. 2 der Charta gewährleisteten Verteidigungsrechte fördern (Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 104).

45      Legte man Art. 3 der Richtlinie 2013/48 dahin aus, dass er es den Mitgliedstaaten erlaubt, weitere Abweichungen vom Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand als die in diesem Artikel abschließend aufgezählten vorzusehen, liefe dies diesen Zielen sowie der Systematik dieser Richtlinie und dem Wortlaut der genannten Vorschrift zuwider und nähme diesem Recht, wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die praktische Wirksamkeit.

46      Unter diesen Umständen ist zum einen festzustellen, dass das in der Richtlinie 2013/48 verankerte Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, das ein Verdächtiger bzw. eine beschuldigte Person jedenfalls ab dem zuerst eintretenden der vier in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a bis d dieser Richtlinie genannten Zeitpunkte genießt, nicht vom Erscheinen des Betroffenen abhängt. Zum anderen gehört das Nichterscheinen des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person nicht zu den in dieser Richtlinie abschließend aufgezählten Gründen für eine Abweichung vom Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, so dass der Umstand, dass ein Verdächtiger trotz der Ladungen durch einen Untersuchungsrichter nicht erschienen ist, es nicht rechtfertigen kann, ihm dieses Recht zu versagen.

47      Zu ergänzen ist schließlich, dass die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48 in dem Sinne, dass die Inanspruchnahme des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nicht wegen des Nichterscheinens des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person auf eine Ladung ausgesetzt werden kann, im Einklang mit den Erfordernissen steht, die sich aus dem in Art. 47 der Charta verankerten Grundrecht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz ergeben.

48      Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2013/48, insbesondere ihr Art. 3 Abs. 2, im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Inanspruchnahme des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in der vorgerichtlichen Phase des Strafverfahrens aufgrund des Nichterscheinens des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person auf eine Ladung vor einen Untersuchungsrichter ausgesetzt werden kann, bis der nationale Haftbefehl gegen den Betroffenen vollzogen ist.

 Kosten

49      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, insbesondere ihr Art. 3 Abs. 2, ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Inanspruchnahme des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in der vorgerichtlichen Phase des Strafverfahrens aufgrund des Nichterscheinens des Verdächtigen bzw. der beschuldigten Person auf eine Ladung vor einen Untersuchungsrichter ausgesetzt werden kann, bis der nationale Haftbefehl gegen den Betroffenen vollzogen ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Spanisch.