Language of document : ECLI:EU:T:2013:445

Rechtssache T‑402/06

Königreich Spanien

gegen

Europäische Kommission

„Kohäsionsfonds – Verordnung (EG) Nr. 1164/94 – Im Gebiet von Katalonien (Spanien) durchgeführte Umweltinfrastrukturprojekte – Teilweise Streichung der finanziellen Beteiligung – Öffentliche Dienstleistungs- und Bauaufträge – Zuschlagskriterien – Wirtschaftlich günstigstes Angebot – Gleichbehandlung – Transparenz – Ungewöhnlich niedriges Angebot – Zuschussfähigkeit der Ausgaben – Festsetzung der Finanzkorrekturen – Anhang II Art. H Abs. 2 der Verordnung Nr. 1164/94 – Verhältnismäßigkeit“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 16. September 2013

1.      Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge – Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter – Verpflichtung zur Transparenz – Umfang

(Richtlinien des Rates 92/50, Art. 3 Abs. 2, 27 Abs. 4 und 37, und 93/37, Art. 22 Abs. 4, 30 Abs. 4 Unterabs. 4 und 31 Abs. 1)

2.      Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge – Erteilung des Zuschlags – Wirtschaftlich günstigstes Angebot – Zuschlagskriterien – Beachtung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Bieter und der Verpflichtung zur Transparenz – Spätere Spezifizierung eines Kriteriums für die Vergabe des Auftrags, das den Bietern im Voraus mitgeteilt worden ist, durch den Auftraggeber – Voraussetzungen – Anwendung des Systems der Durchschnittspreise – Unzulässigkeit

(Richtlinien des Rates 92/50, Art. 36 Abs. 2, und 93/37, Art. 30 Abs. 2)

3.      Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge – Erteilung des Zuschlags – Wirtschaftlich günstigstes Angebot – Begriff

(Richtlinien des Rates 92/50, Art. 36 Abs. 1 Buchst. a, und 93/37, Art. 30 Abs. 1 Buchst. b)

4.      Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge – Richtlinie 93/37 – Erteilung des Zuschlags – Ungewöhnlich niedrige Angebote – Automatischer Ausschluss – Unzulässigkeit – Verpflichtung zur Durchführung eines Verfahrens der kontradiktorischen Überprüfung

(Richtlinie 93/37 des Rates, Art. 30 Abs. 4)

5.      Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge – Erteilung des Zuschlags – Als Zuschlagskriterien berücksichtigte Kriterien zur qualitativen Auswahl der Bewerber – Unzulässigkeit

(Richtlinien 92/50 des Rates, Art. 31, 32 und 36 Abs. 1, und 93/37, Art. 26, 27 und 30 Abs. 1)

6.      Gerichtshof – Urteile – Auslegung von Rechtsvorschriften – Anwendung auf Rechtsverhältnisse, die vor der Verkündung entstanden oder begründet worden sind

7.      Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt – Strukturinterventionen – Finanzierung durch die Union – Kürzung des Zuschusses wegen Unregelmäßigkeiten – Beachtung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Konformität – Berechnung des Kürzungsbetrags – Berücksichtigung der unter Verstoß gegen die Unionsvorschriften erzielten Einsparungen – Unzulässigkeit

(Art. 5 EG; Verordnung Nr. 1164/94 des Rates, Art. 8 Abs. 1 und Anhang II Art. H Abs. 2; Verordnung Nr. 1386/2002 der Kommission, Art. 17 Abs. 1 und 2)

8.      Handlungen der Organe – Verhaltensnormen für die Verwaltung von allgemeiner Geltung – Handlung, die Außenwirkungen entfalten soll – Selbstbeschränkung der Ausübung des Ermessens durch das Organ, das die Handlung erlassen hat – Verpflichtung zur Beachtung der Grundsätze der Gleichbehandlung, des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit sowie der höherrangigen Vorschriften des Unionsrechts

9.      Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge – Richtlinie 92/50 – Öffentliche Auftraggeber – Einrichtung des öffentlichen Rechts – Begriff – Funktionale Auslegung

(Richtlinie 92/50 des Rates, Art. 1 Buchst. b)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 65-67)

2.      Die öffentlichen Auftraggeber unterliegen einer Verpflichtung zur Transparenz, die im Wesentlichen die Gefahr einer Günstlingswirtschaft oder willkürlicher Entscheidungen von ihrer Seite ausschließen soll. Insbesondere dann, wenn die Vergabe eines Auftrags von der Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebots im Sinne von Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 93/37 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge oder von Art. 36 Abs. 2 der Richtlinie 92/50 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge abhängt, muss der öffentliche Auftraggeber im Lastenheft die anwendbaren Zuschlagskriterien festlegen und präzisieren. Diese Vorschriften sollen daher die Beachtung der Gleichbehandlung und der Transparenz im Stadium der Bewertung der Angebote im Hinblick auf die Vergabe des Auftrags gewährleisten.

Darüber hinaus ist, auch wenn die Rechtsprechung ein totales und absolutes Verbot für den öffentlichen Auftraggeber, ein Kriterium für die Vergabe des Auftrags, das den Bietern im Voraus mitgeteilt worden ist, nach Ablauf der Frist für die Einreichung der Angebote weiter zu spezifizieren, nicht anerkannt hat, eine solche nachträgliche Festlegung nur möglich, wenn drei kumulative Voraussetzungen strikt eingehalten werden. Erstens darf diese nachträgliche Festlegung die in den Verdingungsunterlagen oder in der Vergabebekanntmachung bestimmten Zuschlagskriterien für den Auftrag nicht ändern; zweitens darf sie nichts enthalten, was, wenn es bei der Vorbereitung der Angebote bekannt gewesen wäre, diese Vorbereitung hätte beeinflussen können; und drittens darf sie nicht unter Berücksichtigung von Umständen gewählt worden sein, die einen der Bieter diskriminieren konnten.

Die Anwendung des Systems der Durchschnittspreise setzt zwangsläufig die nachträgliche Festlegung eines wesentlichen, ja sogar entscheidenden Umstands für die Entscheidung über die Vergabe der Aufträge, nämlich des Durchschnittspreises, mit dem alle Angebote nach ihrem Eingang beim öffentlichen Auftraggeber verglichen werden müssen, voraus. Ohne Kenntnis des genannten Durchschnittspreises wird den Bietern im Stadium der Einreichung ihrer Angebote demnach ein Umstand vorenthalten, der, hätten sie ihn im Voraus gekannt, diese Vorbereitung im Sinne der oben angeführten zweiten Voraussetzung besonders hätte beeinflussen können.

(vgl. Randnrn. 71-73)

3.      Art. 36 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/50 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge und entsprechend Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 93/37 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge überlassen dem öffentlichen Auftraggeber zwar die Wahl der Kriterien für die Zuschlagserteilung, doch kommen nur Kriterien in Betracht, die der Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebots dienen. Als wirtschaftlich günstigstes Angebot gilt unter den verschiedenen unterbreiteten Angeboten jedoch das Angebot mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis, das anhand von durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigten Kriterien ermittelt wird. Daher müssen die öffentlichen Auftraggeber, wenn sie beschließen, dem wirtschaftlich günstigsten Angebot den Zuschlag zu erteilen, die Angebote unter dem Gesichtspunkt des besten Preis-Leistungs-Verhältnisses bewerten.

Auch wenn das wirtschaftlich günstigste Angebot nicht immer das mit dem niedrigsten Preis ist, ist somit festzustellen, dass ein weniger kostspieliges Angebot bei im Hinblick auf alle anderen relevanten – auch technischen – Kriterien absolut identischen Angeboten aus wirtschaftlicher Sicht zwangsläufig als günstiger anzusehen ist als ein kostspieligeres Angebot.

(vgl. Randnrn. 76, 77)

4.      Art. 30 Abs. 4 der Richtlinie 93/37 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge setzt zwingend die Durchführung eines Verfahrens der kontradiktorischen Überprüfung der vom öffentlichen Auftraggeber als ungewöhnlich niedrig angesehenen Angebote voraus, indem er diesen verpflichtet, nach Kenntnisnahme von sämtlichen Angeboten vor Erteilung des Auftrags zunächst schriftlich Aufklärung über die Elemente des als ungewöhnlich eingestuften Angebots zu verlangen, die seine Zweifel konkret hervorgerufen haben, und anschließend dieses Angebot unter Berücksichtigung der Erläuterungen zu beurteilen, die der betreffende Bieter auf dieses Verlangen hin eingereicht hat. Es ist nämlich von entscheidender Bedeutung, dass jeder Bieter, dessen Angebot als ungewöhnlich niedrig beanstandet wird, die Möglichkeit hat, seinen Standpunkt dazu zweckgerichtet darzulegen, indem ihm Gelegenheit gegeben wird, alle Erläuterungen zu den verschiedenen Bestandteilen seines Angebots zu einem – zwingend nach der Öffnung sämtlicher Umschläge liegenden – Zeitpunkt einzureichen, zu dem er nicht nur von der bei dem fraglichen Auftrag anwendbaren Ungewöhnlichkeitsschwelle und der Tatsache, dass sein Angebot ungewöhnlich niedrig erschienen ist, Kenntnis hat, sondern auch von den konkreten Punkten, die den öffentlichen Auftraggeber zu Untersuchungen veranlasst haben.

Diese Auslegung ist die einzige, die sowohl dem Wortlaut als auch dem Zweck von Art. 30 Abs. 4 der genannten Richtlinie entspricht. Zum einen ergibt sich schon aus dem zwingenden Wortlaut dieser Vorschrift, dass der öffentliche Auftraggeber verpflichtet ist, erstens die zweifelhaften Angebote zu ermitteln, zweitens es den betroffenen Unternehmen zu ermöglichen, ihre Seriosität darzutun, indem er von ihnen Aufklärung verlangt, wo er dies für angezeigt hält, drittens die Stichhaltigkeit der von den Betroffenen eingereichten Erklärungen zu beurteilen und viertens über die Zulassung oder die Ablehnung dieser Angebote zu entscheiden. Den Anforderungen, die dem kontradiktorischen Charakter des Verfahrens der Überprüfung ungewöhnlich niedriger Angebote im Sinne des Art. 30 Abs. 4 der Richtlinie 93/37 innewohnen, ist daher nur dann entsprochen, wenn alle so beschriebenen Schritte nacheinander unternommen worden sind. Zum anderen stellt das Stattfinden einer effektiven kontradiktorischen Erörterung zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und dem Bieter zu einem zweckmäßigen Zeitpunkt im Verfahren der Prüfung von Angeboten eine fundamentale Anforderung der Richtlinie dafür dar, dass Willkür des öffentlichen Auftraggebers verhindert und ein gesunder Wettbewerb zwischen den Unternehmen gewährleistet wird.

(vgl. Randnrn. 90, 91)

5.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 100-103)

6.      Die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts durch den Gerichtshof beschränkt sich darauf, zu erläutern und zu verdeutlichen, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite sie seit ihrem Inkrafttreten hätte verstanden und angewandt werden müssen. Daraus folgt, dass die Vorschrift in dieser Auslegung selbst auf Rechtsverhältnisse angewandt werden kann und muss, die vor dem betreffenden Urteil entstanden oder begründet worden sind; nur ausnahmsweise kann sich der Gerichtshof aufgrund des der Unionsrechtsordnung innewohnenden allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit dazu veranlasst sehen, für alle Betroffenen die Möglichkeit einzuschränken, sich auf eine von ihm vorgenommene Auslegung einer Vorschrift zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen.

(vgl. Randnr. 104)

7.      Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann ein Verstoß gegen die Verpflichtungen, deren Einhaltung für das ordnungsgemäße Funktionieren eines Unionssystems von grundlegender Bedeutung ist, mit dem Verlust eines durch die Unionsregelung verliehenen Anspruchs, etwa eines Anspruchs auf einen Zuschuss, geahndet werden. Im Rahmen der Berechnung von Finanzkorrekturen ist es jedoch nicht möglich, angebliche Einsparungen, die unter Verstoß gegen die einschlägigen Unionsvorschriften im Bereich des öffentlichen Auftragswesens erzielt worden sind, zu berücksichtigen. Ein Mitgliedstaat, dessen Behörden ein irreguläres Vergabesystem eingeführt haben, kann sich jedoch nicht zu seinen Gunsten auf eine solche rechtswidrige Praxis berufen.

Insoweit soll durch die Finanzkorrekturen eine Situation wiederhergestellt werden, in der 100 % der zur Kofinanzierung aus dem Kohäsionsfonds gemeldeten Ausgaben mit den einschlägigen nationalen und unionsrechtlichen Vorschriften übereinstimmen. Nach dem Grundsatz der Konformität, der in Art. 8 Abs. 1 Verordnung Nr. 1164/94 zur Errichtung des Kohäsionsfonds verankert ist, werden nämlich nur Ausgaben, die im Einklang mit den einschlägigen Vorschriften getätigt worden sind, aus dem Unionshaushalt bestritten. Daher ist die Kommission, sobald sie bei den von einem Mitgliedstaat geleisteten Zahlungen das Vorliegen eines Verstoßes gegen die unionsrechtlichen Vorschriften feststellt, verpflichtet, eine Berichtigung der von diesem Mitgliedstaat vorgelegten Abrechnung vorzunehmen.

(vgl. Randnrn. 119, 124, 125)

8.      Das fragliche Organ hat dadurch, dass es Verhaltensnormen für die Verwaltung, die Außenwirkungen entfalten sollen, erlassen und durch ihre Veröffentlichung angekündigt hat, dass es sie von nun an auf die von diesen Normen erfassten Fälle anwenden werde, die Ausübung seines Ermessens beschränkt und kann nicht von diesen Normen abweichen, ohne dass dies gegebenenfalls wegen eines Verstoßes gegen allgemeine Rechtsgrundsätze wie die Grundsätze der Gleichbehandlung, der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes geahndet würde. Daher ist nicht auszuschließen, dass derartige Verhaltensnormen mit allgemeiner Geltung unter bestimmten Voraussetzungen und je nach ihrem Inhalt Rechtswirkungen entfalten können und insbesondere die Verwaltung von ihnen im Einzelfall nicht ohne Angabe von Gründen abweichen kann, die mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen wie der Gleichbehandlung oder dem Vertrauensschutz vereinbar sind, sofern ein solches Vorgehen nicht gegen andere höherrangige Vorschriften des Unionsrechts verstößt.

(vgl. Randnr. 130)

9.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnr. 155)