Language of document : ECLI:EU:C:2013:474

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 11. Juli 2013(1)

Verbundene Rechtssachen C‑199/12 bis C‑201/12

X, Y und Z

gegen

Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel

„Richtlinie 2004/83/EG – Bedingungen, die Drittstaatsangehörige und Staatenlose erfüllen müssen, wenn sie einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft stellen – Bedeutung von ,Verfolgung‘ – Sexuelle Ausrichtung“





1.        Bei diesen Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State (Niederlande) geht es um drei Kläger, die als Drittstaatsangehörige die Flüchtlingseigenschaft beanspruchen. Jeder von ihnen beruft sich auf eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner sexuellen Ausrichtung.

2.        Das nationale Gericht stellt drei Fragen, die die Prüfung von Anträgen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach den Vorschriften von Kapitel III der Richtlinie 2004/83/EG des Rates (im Folgenden: die Richtlinie)(2) betreffen. Erstens: Gelten homosexuelle Drittstaatsangehörige als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie? Zweitens: Wie sollen nationale Behörden feststellen, was eine Verfolgungshandlung wegen homosexueller Handlungen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie ist? Drittens: Stellt die Tatsache, dass diese Handlungen im Herkunftsland des Klägers unter Strafe gestellt und im Falle einer Verurteilung mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden, eine Verfolgung im Sinne der Richtlinie dar?

 Rechtlicher Rahmen

 Das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge

3.        Nach Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge („Genfer Konvention“)(3) gilt als „Flüchtling“ jede Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will“.

 Recht der Europäischen Union

 Die Charta der Grundrechte

4.        Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)(4) lautet: „Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“ Art. 21 verbietet Diskriminierung u. a. wegen der sexuellen Ausrichtung. Art. 52 Abs. 3 der Charta sieht vor, dass diese Rechte im Sinne der entsprechenden Rechte auszulegen sind, die durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) garantiert sind(5).

 Die Richtlinie

5.        Die Richtlinie zielt als eine von mehreren diesbezüglichen Maßnahmen darauf ab, ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem zu schaffen(6). Dieses System beruht auf einer Umsetzung der Genfer Konvention, die einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt(7). Die Richtlinie zielt darauf ab, Mindestnormen und gemeinsame Kriterien für alle Mitgliedstaaten in Bezug auf die Zuerkennung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft festzulegen(8) und ein Mindestmaß an Schutz für Personen, die tatsächlich Schutz benötigen(9), sowie ein faires und effizientes Asylverfahren zu gewährleisten. Dabei achtet die Richtlinie die in der Charta anerkannten Rechte, Freiheiten und Grundsätze(10). Der 21. Erwägungsgrund der Richtlinie lautet: „Es ist ebenso notwendig, einen gemeinsamen Ansatz für den Verfolgungsgrund ‚Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppeʻ zu entwickeln.“

6.        Nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet“.

7.        Mitgliedstaaten können günstigere Vorschriften zur Entscheidung der Frage, wer als Flüchtling gilt, erlassen, sofern diese mit der Richtlinie vereinbar sind(11). Art. 4 legt die Regeln für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz fest(12). Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie besagt, dass die Anträge auf internationalen Schutz individuell zu prüfen sind. Art. 6 enthält eine Beispielliste von „Akteuren, von denen Verfolgung ausgehen kann“, in der u. a. der Staat und nichtstaatliche Akteure aufgeführt sind.

8.        Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Als Verfolgung im Sinne des Artikels 1A der Genfer Flüchtlingskonvention gelten Handlungen, die

a)      aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der [EMRK] keine Abweichung zulässig ist, oder

b)      in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchst. a) beschriebenen Weise betroffen ist.“(13)

9.        Art. 9 Abs. 2 bestimmt:

„Als Verfolgung im Sinne von Abs. 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

c)      unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,

…“

10.      Art. 9 Abs. 3 lautet: „Gemäß Artikel 2 Buchstabe c) muss eine Verknüpfung zwischen den in Artikel 10 genannten Gründen und den in Absatz 1 als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen.“

11.      Art. 10 hat die Überschrift „Verfolgungsgründe“. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d lautet:

„Eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn

–        die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und

–        die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Als sexuelle Ausrichtung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten; geschlechterbezogene Aspekte können berücksichtigt werden, rechtfertigen aber für sich allein genommen noch nicht die Annahme, dass dieser Artikel anwendbar ist.“

 Nationales Recht

12.      Die Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz, im Folgenden: Vw 2000) bestimmt, dass der zuständige Minister (im Folgenden: Minister)(14) dem Antrag auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis (Flüchtlingseigenschaft) stattgeben, ihn abweisen oder ihn nicht behandeln kann. Eine befristete Aufenthaltserlaubnis kann einem Ausländer, der Flüchtling ist, nach der Genfer Konvention erteilt werden.

13.      Das Vreemdelingencirculaire 2000 (Ausländerrunderlass von 2000, im Folgenden: Ausländerrunderlass) enthält vom Minister zur Durchführung des Vw 2000 festgelegte Verwaltungsvorschriften. Gemäß dem Ausländerrunderlass ist unter Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe im Sinne von Art. 1 Abschnitt A der Genfer Konvention nach geltender Politik und Rechtsprechung auch die Verfolgung aufgrund der sexuellen Ausrichtung zu verstehen. Bei einem Antrag auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft, der sich auf solche Gründe stützt, ist besondere Aufmerksamkeit auf die Gegebenheiten zu richten, in der sich der Antragsteller im Herkunftsland befindet. Wenn Homosexualität oder das Äußern der sexuellen Ausrichtung im Herkunftsland eines Antragstellers unter Strafe steht, muss es sich um eine Strafe von einigem Gewicht handeln. Eine bloße Geldstrafe wird meistens nicht ausreichen, um die Flüchtlingseigenschaft ohne Weiteres zu bejahen. Die Tatsache, dass Homosexualität oder homosexuelle Handlungen im Herkunftsland eines Antragstellers unter Strafe gestellt werden, reicht an sich noch nicht aus, dass die Flüchtlingseigenschaft ohne Weiteres anerkannt wird. Der Antragsteller muss glaubhaft machen, dass er persönlich einen triftigen Grund hat, eine Verfolgung zu befürchten. Von homosexuellen Antragstellern wird nicht erwartet, dass sie ihre sexuelle Ausrichtung bei ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland verbergen.

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

14.      Die Antragsteller in den Ausgangsverfahren wurden anonymisiert und werden hier mit X, Y und Z bezeichnet. X ist Staatsangehöriger von Sierra Leone, Y ist Ugander und Z ist Senegalese.

15.      Homosexuelle Handlungen stehen in Sierra Leone nach Section 61 des Offences against the Person Act (Gesetz über Straftaten gegen die Person) von 1861 unter Strafe und sind mit Freiheitsstrafe von zehn Jahren bis lebenslänglich bedroht. In Uganda droht einer Person, die einer Straftat überführt wird, die mit „Geschlechtsverkehr wider die Natur“ bezeichnet wird, gemäß Section 145 des Penal Code Act (Strafgesetzbuch) 1950 eine Freiheitsstrafe. Die Höchststrafe ist lebenslängliche Haft. Die senegalesischen Behörden stellen homosexuelle Handlungen unter Strafe. Gemäß Art. 319 Abs. 3 des Code Pénale (Strafgesetzbuch) ist eine Person, die bestimmter homosexueller Handlungen überführt wurde, mit Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren und mit einer Geldstrafe von 100 000 XOF bis 1 500 000 XOF(15) (ungefähr 150 Euro bis 2 000 Euro) zu bestrafen.

16.      In allen drei Fällen wies der Minister die Erstanträge auf eine Aufenthaltsgenehmigung (Flüchtlingseigenschaft) gemäß Vw 2000 ab. Jeder Antragsteller legte gegen die Entscheidung einen Rechtsbehelf ein. X und Z erhoben Klage bei der Rechtbank, Y stellte einen Antrag auf einstweilige Anordnung. X und Y drangen mit ihrer Klage durch. Der Antrag von Z wurde von der Rechtbank zurückgewiesen.

17.      Der Minister legte in den Fällen X und Y beim Raad van State Rechtsmittel ein. Auch Z legte bei diesem Gericht Rechtsmittel ein.

18.      In allen drei Fällen wird die homosexuelle Ausrichtung der Antragsteller nicht in Frage gestellt(16).

19.      Der Raad van State hat dem Gerichtshof daher folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Bilden Ausländer mit einer homosexuellen Ausrichtung eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie?

2.      Falls Frage 1 zu bejahen ist: Welche homosexuellen Handlungen fallen in den Geltungsbereich der Richtlinie und kann dies, wenn wegen dieser Handlungen eine Verfolgung stattfindet und die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind, zur Zuerkennung des Flüchtlingsstatus führen? Diese Frage umfasst nachfolgende Teilfragen:

a)      Kann von homosexuellen Ausländern erwartet werden, dass sie ihre sexuelle Ausrichtung in ihrem Heimatland vor jedermann geheim halten, um eine Verfolgung zu vermeiden?

b)      Falls die Teilfrage 2 a zu verneinen ist: Kann von einem homosexuellen Ausländer erwartet werden, dass er sich beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung in seinem Heimatsland zurückhält, um eine Verfolgung zu vermeiden, und wenn ja, in welchem Maße? Kann insoweit von Homosexuellen mehr Zurückhaltung als von Heterosexuellen erwartet werden?

c)      Falls in diesem Zusammenhang zwischen Äußerungen, die den Kernbereich der sexuellen Ausrichtung betreffen, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, unterschieden werden kann: Was ist unter dem Kernbereich der sexuellen Ausrichtung zu verstehen und wie kann dieser bestimmt werden?

3.      Stellt allein schon die Tatsache, dass homosexuelle Handlungen nach dem Offences against the Person Act von 1861 von Sierra Leone, dem Penal Code von Uganda und dem Code Pénale von Senegal unter Strafe gestellt und mit einer Freiheitsstrafe bedroht sind, eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie dar? Falls nein: Unter welchen Umständen ist dies dann der Fall?

20.      X, Y und Z, der UNHCR, die deutsche, die griechische, die französische, die niederländische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht und waren alle (abgesehen vom Vereinigten Königreich) in der mündlichen Verhandlung vom 11. April 2013 vertreten.

 Würdigung

 Vorbemerkungen

21.      Die Fragen, die das nationale Gericht vorgelegt hat, überschneiden sich in gewisser Weise. Bei der Auslegung von Art. 9 und 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie sind folgende Grundsätze zu beachten.

22.      Erstens ist es ständige Rechtsprechung, dass die Bestimmungen der Richtlinie im Licht ihrer allgemeinen Systematik und ihres Zwecks in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention und einschlägigen anderen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt, auszulegen sind(17). Diese Auslegung muss zudem, wie dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie zu entnehmen ist, die Achtung der in der Charta anerkannten Rechte gewährleisten(18).

23.      Zweitens ergibt sich aus der Genfer Konvention der Zusammenhang und somit ein Anhaltspunkt zur Bestimmung des Zwecks und der allgemeinen Systematik der Richtlinie, die in vielen Fällen auf die Konvention Bezug nimmt. Wenn der Gerichtshof daher um eine Auslegung der Art. 9 und 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie ersucht wird, muss er dabei auf die Genfer Konvention Bedacht nehmen(19).

24.      Drittens nimmt weder die Genfer Konvention noch die EMRK ausdrücklich auf ein Recht auf Äußerung der sexuellen Ausrichtung Bezug. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betreffend die sexuelle Ausrichtung hat sich im Zusammenhang mit Verstößen gegen Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und das in Art. 14 EMRK festgeschriebene Diskriminierungsverbot weiterentwickelt(20). Daher ist es nötig, die Fragen, die das nationale Gericht aufgeworfen hat, im Licht der Grundsätze zu diskutieren, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entwickelt hat(21).

25.      Viertens ist die Genfer Konvention in dieser Hinsicht, ebenso wie die EMRK, nicht in Stein gemeißelt. Sie ist ein lebendiges Instrument, das im Licht der heutigen Bedingungen und im Einklang mit den Entwicklungen des Völkerrechts ausgelegt werden sollte(22). Die Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschenrechte in Bezug auf die unterschiedliche Behandlung von homosexuellen und heterosexuellen Beziehungen im Zusammenhang mit dem Alter der Mündigkeit zeigt die Entwicklung bei der Auslegung der EMRK. So war die Kommission vor 1997 der Ansicht, dass die Festsetzung eines höheren Alters der Mündigkeit für homosexuelle Beziehungen im Einklang mit der EMRK sei(23). In der Entscheidung Sutherland gegen das Vereinigte Königreich ist die Kommission von ihrer bisherigen Rechtsprechung abgewichen und hat entschieden, dass ein höheres Alter der Mündigkeit für homosexuelle Handlungen diskriminierend sei und einen Verstoß gegen das Recht des Klägers auf Privatleben im Licht moderner Entwicklungen darstelle(24).

26.      Schließlich scheint mir, dass es bei den Fragen des nationalen Gerichts vor allem um die gemeinsamen Kriterien geht, anhand derer festgestellt werden soll, welche Personen, die gemäß der Richtlinie aufgrund ihrer Homosexualität als Flüchtling anerkannt werden wollen, tatsächlich internationalen Schutz benötigen. Die Probleme, die mit der Frage 2 aufgeworfen werden, sind eher rechtspolitischer Natur und nicht so sehr Auslegungsfragen. Daher möchte ich zuerst die Fragen 1 und 3 behandeln, die unmittelbarer auf die Auslegung der Formulierungen der Richtlinie abzielen, und mich sodann der Frage 2 zuwenden.

 Frage 1

27.      Mit seiner ersten Frage möchte das nationale Gericht wissen, ob Personen mit homosexueller Ausrichtung, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragen, eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie bilden können.

28.      Alle, die beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht haben (mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs, das hierzu nicht Stellung genommen hat), sind sich darin einig, dass diese Frage bejaht werden sollte.

29.      Auch ich teile diese Auffassung.

30.      Im Ausgangsverfahren betreffend Herrn Z haben die dem nationalen Gericht in erster Instanz (der Rechtbank) vorgelegten Beweise dieses offenbar nicht davon überzeugt, dass Homosexuelle in Senegal im Allgemeinen verfolgt bzw. diskriminiert werden. Die Rechtbank war daher der Ansicht, dass der Kläger nicht einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie angehöre(25).

31.      Art. 10 besteht aus zwei Absätzen. Im ersten Absatz werden die Mitgliedstaaten angewiesen, bei der Prüfung der Verfolgungsgründe bestimmte Merkmale zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang definiert Art. 10 Abs. 1 Buchst. d den Begriff der bestimmten sozialen Gruppe. Der zweite Absatz behandelt sodann die Frage, wie zu beurteilen ist, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist. Somit muss ein Antragsteller nicht nachweisen, dass er in seinem Herkunftsland verfolgt oder diskriminiert wird(26) (Tatbestandselemente von Art. 10 Abs. 2, um zu zeigen, dass der Antragsteller Teil einer bestimmten sozialen Gruppe ist, d. h. dass er in den Anwendungsbereich von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d fällt).

32.      Können männliche Homosexuelle „Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie sein?

33.      Anders als in der Genfer Konvention, die lediglich von einer „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ spricht, wird in der Richtlinie der Begriff „sexuelle Ausrichtung“ verwendet, jedoch nicht definiert. Es kann sein, dass der Unionsgesetzgeber in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie ausdrücklich auf die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe aufgrund der sexuellen Ausrichtung Bezug genommen hat, weil sich zu dem Zeitpunkt, als die Kommission ihren Vorschlag vorlegte, die Auffassung durchzusetzen begann, dass Personen möglicherweise aus diesem Grund vor Verfolgung flüchten und internationalen Schutz suchen müssen(27), obwohl dieser Grund in der Genfer Konvention nicht ausdrücklich erwähnt ist(28).

34.      Art. 10 Abs. 1 Buchst. d beginnt mit den Worten „eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn …“; darauf folgen unmittelbar zwei Gedankenstriche (der erste enthält drei Optionen, die mit dem Wort „oder“ voneinander getrennt sind). Die Gedankenstriche sind mit dem Wort „und“ verbunden, was heißt, dass die Bedingungen kumulativ erfüllt sein müssen. Sodann folgt im Text jedoch (ausdrücklich): „Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet.“

35.      Wenn man sich diesen Text ansieht und ihn den unmittelbar vorangehenden zwei Gedankenstrichen gegenüberstellt, scheint mir, dass der Unionsgesetzgeber einen Hinweis gegeben hat, der deutlicher nicht sein könnte, dass Personen, die die Merkmale der sexuellen Ausrichtung teilen, in der Tat Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d sein können. Sie erfüllen die Erfordernisse des ersten Gedankenstrichs (ich möchte sagen, in jedem Fall, weil sie unter die dritte Option fallen, da sie nämlich „Merkmale … teilen, die so bedeutsam für die Identität … sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“). Je nach den Umständen im Herkunftsland erfüllen sie möglicherweise auch die Erfordernisse des zweiten Gedankenstrichs (dass „die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“). Zur Beantwortung der Frage, ob die Erfordernisse des zweiten Gedankenstrichs erfüllt sind, ist eine Prüfung der Rechtsvorschriften und der sozialen und kulturellen Sitten im Herkunftsland des Antragstellers nötig. Das muss von den zuständigen nationalen Behörden anhand der Tatsachen beurteilt werden und vom nationalen Gericht überprüfbar sein.

36.      Daher meine ich, dass die erste Frage so beantwortet werden sollte, dass Personen mit homosexueller Ausrichtung, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragen, je nach den Gegebenheiten in ihren Herkunftsländern eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/38 bilden können. Es ist Aufgabe des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob eine solche Gruppe im jeweiligen Herkunftsland des Antragstellers eine „deutlich abgegrenzte Identität“ im Sinne des zweiten Gedankenstrichs dieser Vorschrift hat, „da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“.

 Frage 3

37.      Mit seiner dritten Frage möchte das nationale Gericht wissen, ob die Tatsache, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt und mit einer Freiheitsstrafe bedroht sind, eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 der Richtlinie darstellt.

38.      In den nationalen Verfahren wurden bestimmte Feststellungen in Bezug auf alle drei Antragsteller getroffen. Was X angeht, so wird Homosexualität an sich in Sierra Leone nicht unter Strafe gestellt, jedoch werden bestimmte homosexuelle Handlungen strafrechtlich geahndet. Was Y betrifft, so ist Homosexualität an sich in Uganda unter Strafe gestellt(29). Im Fall von Z scheint es, dass Homosexualität in Senegal an sich nicht unter Strafe gestellt ist, aber bestimmte homosexuelle Handlungen strafrechtlich geahndet werden(30).

39.      Da nicht bestritten wird, dass die drei Antragsteller homosexuell sind, habe ich in diesen Schlussanträgen keine Unterscheidung getroffen zwischen der Situation in Uganda (wo die Homosexualität an sich strafbar ist) und der in Sierra Leone oder Senegal (wo bestimmte homosexuelle Handlungen unter Strafe stehen)(31).

40.      X, Y und Z bringen vor, dass Art. 9 der Richtlinie dahin auszulegen sei, dass allein schon die Tatsache, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt seien, eine Verfolgungshandlung darstelle. Die Kommission und die Mitgliedstaaten, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, sowie der UNHCR sind im Großen und Ganzen gegenteiliger Ansicht.

41.      Innerhalb der Europäischen Union hat es insoweit einen Paradigmenwechsel gegeben, als Rechtsvorschriften, die homosexuelle Handlungen, die im Privatbereich zwischen Erwachsenen im gegenseitigen Einverständnis stattfinden, kriminalisieren und unter Strafe stellen, nun als Verstoß gegen die EMRK angesehen werden(32). Somit ist offenkundig, dass solche Maßnahmen heute in den Mitgliedstaaten einen Verstoß gegen die Grundrechte einer Person darstellen, egal ob sie tatsächlich angewendet werden oder nicht. Das Ziel der Richtlinie ist es aber nicht, immer dann Schutz zu gewähren, wenn eine Person die durch die Charta oder die EMRK garantierten Freiheiten in ihrem Herkunftsland nicht vollständig und wirksam ausüben kann. Oder, anders ausgedrückt: Das Ziel besteht nicht darin, diese Standards zu exportieren(33). Das Ziel besteht vielmehr darin, die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus auf solche Personen zu beschränken, die einer schwerwiegenden Verweigerung oder systematischen Verletzung ihrer Grundrechte ausgesetzt sein können und deren Leben in ihrem Herkunftsland unerträglich geworden ist.

42.      Stellt das, was innerhalb der Europäischen Union als Verstoß gegen ein Grundrecht gilt, notwendigerweise eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar?

43.      Art. 9 Abs. 1 sieht vor, dass „[a]ls Verfolgung im Sinne des Artikels 1A der Genfer Flüchtlingskonvention … Handlungen [gelten], die a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, … oder b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a) beschriebenen Weise betroffen ist“. Aus den Formulierungen „so gravierend“, „schwerwiegende Verletzung“ und „Kumulierung …, die so gravierend ist“ geht hervor, dass nicht jede Verletzung von Menschenrechten (so abscheulich sie auch sein mag) als „Verfolgungshandlung“ im Sinne von Art. 9 zu qualifizieren ist. Die Beispielliste der Verfolgungshandlungen in Art. 9 Abs. 2 bezieht sich nämlich insofern ausdrücklich auf den Maßstab, den Art. 9 Abs. 1 vorgibt, als es dort heißt, dass als „Verfolgung im Sinne von Abs. 1“ (34) u. a. die unter Buchst. a bis f angeführten Handlungen gelten können. Art. 9 Abs. 3 stellt sodann klar, dass eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen (Art. 10) und den in Art. 9 Abs. 1 als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.

44.      In begrifflicher Hinsicht ergibt sich insofern eine Schwierigkeit, als für die von der Charta geschützten Grundrechte gilt, dass jede Strafverfolgung oder Strafe einer Person, die diese Rechte ausübt, innerhalb der EU per definitionem „unverhältnismäßig“ wäre. Daher gehe ich hier davon aus, dass die Bezugnahme auf „unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung“ in Art. 9 Abs. 2 Buchst. c – die in der nicht erschöpfenden Liste angeführte Verfolgungshandlung, die für dieses Verfahren am wichtigsten ist – gleichzusetzen ist mit „gravierender oder diskriminierender Strafverfolgung oder Bestrafung“.

45.      Es scheint mir, das die nationalen Behörden bei der Feststellung, ob Handlungen, die – auf dieser Basis – den Ausdruck einer sexuellen Ausrichtung verbieten, „Verfolgungshandlungen“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 darstellen, insbesondere i) Beweise betreffend die Anwendung der Strafbestimmungen im Herkunftsland des Antragstellers, wie beispielsweise, ob die Behörden tatsächlich Anklage erheben und Personen einer Strafverfolgung aussetzen; ii) ob strafrechtliche Sanktionen durchgesetzt werden und, falls dies zutrifft, wie schwerwiegend diese Sanktionen in der Praxis sind; und iii) Informationen über die allgemeinen gesellschaftlichen Praktiken und Sitten im Herkunftsland berücksichtigen sollten(35).

46.      Maßgebliches Kriterium bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist, ob ein Ereignis oder eine Kumulierung von Ereignissen darauf hinweist, dass der Antragsteller die begründete Furcht haben muss, dass ihm seine grundlegenden Menschenrechte verweigert werden könnten, wenn er in sein Herkunftsland zurückkehrt(36).

47.      Strafrechtliche Sanktionen, die zu einem langen Freiheitsentzug wegen des Ausdrucks einer homosexuellen Ausrichtung führen, könnten einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) darstellen und wären somit hinreichend gravierend, um eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darzustellen.

48.      So betrachtet liegt es für mich (auch ohne genaue Informationen über die Tatbestandselemente der die Kläger im Ausgangsverfahren betreffenden Straftaten und die genauen Strafen, die für gewöhnlich wegen solcher Straftaten verhängt werden) auf der Hand, dass die in Sierra Leone, Uganda und Senegal verhängten Strafen ganz allgemein gesehen eine „unverhältnismäßige“ Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie darstellen können. Zwar sind die gesetzlichen Strafen für bestimmte homosexuelle Handlungen in Senegal nicht so drakonisch wie in Sierra Leone oder Uganda. Bevor das nationale Gericht aber zu dem Schluss kommt, dass aus diesem Grund die Schwelle für eine Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie nicht erreicht ist, sollte es auch das Risiko einmaliger oder wiederholter Strafverfolgung und die verhängte Strafe bedenken, wenn die Strafverfolgung erfolgreich ist.

49.      Allgemein ausgedrückt haben die nationalen Behörden, nachdem sie festgestellt haben, ob ein bestimmter Antragsteller wegen seiner homosexuellen Ausrichtung als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d gilt, in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob die Umstände in seinem Herkunftsland dergestalt sind, dass es zu Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 kommt. Zu diesem Zweck sollten sie prüfen, ob repressive Maßnahmen auf jene anwendbar sind, die Mitglieder dieser sozialen Gruppe sind oder als solche gelten könnten(37), ob diese Maßnahmen durchgesetzt werden, wie schwerwiegend die verhängten Sanktionen sind und ob die Furcht des Klägers vor Verfolgung – folglich – begründet ist. Die Entscheidung der nationalen Behörden über diese Fragen muss natürlich von den nationalen Gerichten überprüfbar sein, damit sichergestellt ist, dass die in der Richtlinie festgesetzten Kriterien richtig angewendet werden.

50.      Demnach bin ich der Auffassung, dass die dritte Vorlagefrage so zu beantworten ist, dass die Tatsache, dass eine Handlung unter Strafe gestellt ist, an sich noch keine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellt. Vielmehr haben die zuständigen nationalen Behörden im Licht der Gegebenheiten im Herkunftsland des Antragstellers, insbesondere hinsichtlich i) des Risikos und der Häufigkeit der Strafverfolgung, ii) der Schwere der normalerweise im Falle erfolgreicher Strafverfolgung verhängten Strafen und iii) anderer Maßnahmen und sozialer Praktiken, denen ausgesetzt zu sein der Antragsteller normalerweise befürchten muss, zu prüfen, ob es wahrscheinlich ist, dass ein bestimmter Antragsteller Handlungen ausgesetzt ist, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte darstellen oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist.

 Frage 2

51.      Mit der zweiten Vorlagefrage ersucht das nationale Gericht um Hinweise für die Beantwortung der Frage, ob es, wenn ein homosexueller Antragsteller als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d gilt, bestimmte homosexuelle Handlungen gibt, die in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen und zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen.

52.      Das nationale Gericht stellt verschiedene Teilfragen(38) nach den allgemeinen Kriterien, die für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft relevant sein können. Erstens möchte es wissen, in welchem Ausmaß der öffentliche oder private Ausdruck einer homosexuellen Ausrichtung durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie geschützt ist. Zweitens stellt es die Frage, ob von einem Antragsteller erwartet werden kann, dass er seine sexuelle Ausrichtung in seinem Herkunftsland geheim hält, um eine Verfolgung zu vermeiden. Drittens, ob von ihm erwartet werden kann, dass er sich beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung zurückhält, und wenn ja, in welchem Maße? Viertens, was unter dem Kernbereich der sexuellen Ausrichtung zu verstehen ist. Und letztlich, ob das Unionsrecht im Allgemeinen oder die Richtlinie im Besonderen einer Unterscheidung zwischen dem Schutz von homosexuellen und heterosexuellen Ausländern entgegensteht.

53.      Bevor ich mich diesen Teilfragen zuwende, sind einige Vorbemerkungen nötig.

54.      Erstens ersucht das nationale Gericht im Wesentlichen um Hinweise in Bezug auf die detaillierte Prüfung, die nach Art. 9 und 10 der Richtlinie erforderlich ist. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d stellt eine ausdrückliche Grenze dafür auf, was als soziale Gruppe angesehen werden kann, die auf den gemeinsamen Merkmalen der sexuellen Ausrichtung basiert, indem er klar bestimmt, dass „[a]ls sexuelle Ausrichtung … keine Handlungen verstanden werden [dürfen], die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten“. So wäre beispielsweise eine sexuelle Ausrichtung, wonach der Antragsteller verpflichtet wäre, bei seiner Sexualpartnerin eine Genitalverstümmelung durchzuführen, damit sie es „wert“ ist, mit ihm eine sexuelle Beziehung einzugehen, nicht nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d schutzwürdig. Art. 9 enthält eine Definition (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b), gefolgt von einer nicht erschöpfenden Auflistung (Art. 9 Abs. 2), sowie das Erfordernis, dass eine Verknüpfung zwischen den Gründen und den Verfolgungshandlungen bestehen muss (Art. 9 Abs. 3), doch bleibt offen, was eine Verfolgungshandlung darstellen könnte.

55.      Zweitens ist es unklar, wie die Teilfragen zu den Problemen passen, die in den Ausgangsverfahren aufgeworfen wurden. Das nationale Gericht scheint eher Rat zu suchen, wie die Richtlinie im Allgemeinen anzuwenden ist. Das gehört nicht zu den Aufgaben des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren(39).

56.      Drittens erklärt das nationale Gericht auf einer pragmatischeren Ebene, dass die niederländischen Behörden der Ansicht seien, dass homosexuelle Handlungen denselben Schutz verdienten wie heterosexuelle Handlungen. Ich meine jedoch nicht, dass die Handlungen des Antragstellers im Zentrum der Prüfung stehen sollten. Art. 9 und 10 befassen sich im Wesentlichen nicht mit dem Verhalten der Person, die als Flüchtling anerkannt werden möchte. Vielmehr geht es dabei um mögliche Verfolgungshandlungen und deren Gründe, das heißt um das aktive Verhalten möglicher Akteure der Verfolgung und nicht um das alltägliche Verhalten des möglichen Opfers.

57.      Viertens sind bei dieser Prüfung natürlich auch die Restriktionen zu berücksichtigen, denen der Antragsteller vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland ausgesetzt war. Aber es ist genauso wichtig, die vorhandenen Beweise dahin gehend zu überprüfen, ob es wahrscheinlich ist, dass der Antragsteller Verfolgungshandlungen ausgesetzt ist, wenn er zurückkehrt. Die Frage lautet, ob der Antragsteller die begründete Furcht haben muss, dass er eine schwerwiegende Verletzung seiner grundlegenden Menschenrechte erleiden wird. Eine solche Frage kann nicht beantwortet werden, wenn man bloß auf Handlungen blickt, die geschehen sind, bevor der Antragsteller sein Herkunftsland verlassen hat.

58.      Fünftens scheinen die Fragen des nationalen Gerichts auf der Prämisse zu beruhen, dass homosexuelle Personen, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter Bezugnahme auf Art. 10 Abs. 1 Buchst. d beantragen, die Wahl (und vielleicht sogar die Pflicht) haben, sich in ihren jeweiligen Herkunftsländern in einer Weise zu verhalten, die das Risiko von Verfolgungshandlungen wegen ihrer sexuellen Ausrichtung verringert. Ich weise diese Prämisse zurück, weil dies ihrem Recht auf Achtung ihrer sexuellen Identität zuwider liefe.

59.      Vor diesem Hintergrund möchte ich nun die verschiedenen Teilfragen behandeln, die das nationale Gericht vorgelegt hat.

60.      Erste Teilfrage: Wird für die Zwecke der Richtlinie unterschieden, ob ein Antragsteller seine homosexuelle Ausrichtung im Privatleben oder in der Öffentlichkeit ausdrückt?

61.      Im Text der Richtlinie findet sich diesbezüglich keine Unterscheidung. Daher scheint mir, dass eine solche Unterscheidung nicht relevant ist, wenn es darum geht, eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie festzustellen. Entscheidend sind vielmehr die Fragen, ob der Antragsteller wegen seiner sexuellen Ausrichtung ein Mitglied einer sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d ist und ob es, wie in Art. 9 Abs. 3 vorgesehen, eine Verknüpfung zwischen dem „Verfolgungsgrund“ und einer Verfolgungshandlung oder Verfolgungshandlungen nach Art. 9 Abs. 1 gibt.

62.      Sodann fragt das nationale Gericht, ob man von Personen, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragen, erwarten sollte, dass sie ihre sexuelle Ausrichtung in ihrem Ursprungsland geheim halten oder Zurückhaltung üben. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht nicht hervor, ob diese Frage im Zusammenhang mit der Behandlung der jeweiligen Asylanträge durch die nationalen Behörden relevant war. Es kann sein, dass das nationale Gericht wissen möchte, ob der Ausländerrunderlass, soweit ihm zufolge die Geheimhaltung nicht als Kriterium in Betracht zu ziehen ist, bloß die Vorschriften der Richtlinie widerspiegelt oder ob darin die nach Art. 3 der Richtlinie zulässige Anwendung günstigerer Normen zu erblicken ist(40). Soweit diese Fragen abstrakt aufgeworfen werden, ist der Gerichtshof für ihre Beantwortung nicht zuständig. Der guten Ordnung halber gehe ich dennoch kurz darauf ein.

63.      Ich meine nicht, dass von einer Person, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt, erwartet werden sollte, ihre sexuelle Ausrichtung geheim zu halten, um eine Verfolgung in ihrem Herkunftsland zu vermeiden.

64.      Weder der Wortlaut noch der Aufbau der Richtlinie stützen diese Ansicht. In der Tat wäre es abwegig, die Richtlinie so auszulegen. Dies würde bedeuten, dass der Antragsteller (das Opfer), wenn er seine sexuelle Ausrichtung nicht geheim hält, gewissermaßen als Akteur der Verfolgung für seine eigene Lage verantwortlich wäre, was mit Art. 6 der Richtlinie, so wie er konzipiert ist, unvereinbar wäre. In der Tat könnte man in einem Erfordernis, dass der Antragsteller seine sexuelle Ausrichtung geheim hält, selbst eine Verfolgungshandlung erblicken.

65.      Sollte man von homosexuellen Personen, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragen, erwarten, dass sie in ihr Herkunftsland zurückkehren und dort Zurückhaltung üben?

66.      Ich meine nicht.

67.      Erstens ist mir nicht ganz klar, wie sich eine solche Bedingung von der Konzeption her in das System der Richtlinie (bzw. der Genfer Konvention) einfügen könnte. Die Richtlinie legt Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge fest (Art. 1). Im Rahmen der Prüfung, ob ein Antragsteller diese Mindesterfordernisse erfüllt, untersucht der Mitgliedstaat die Ereignisse und Umstände (Art. 4), um festzustellen, ob der Antragsteller aus bestimmten Verfolgungsgründen (die in Art. 10 festgelegt sind) verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte (wie in Art. 9 festgelegt). Wenn der Antragsteller die begründete Furcht haben muss, verfolgt zu werden, hat er ein Recht auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Nirgends in diesem System findet sich ein Anhaltspunkt für das Argument, dass die Notwendigkeit, einem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, entfiele, wenn er nur „damit aufhörte“, die Akteure der Verfolgung „zu provozieren“, indem er er selbst ist.

68.      Zweitens stimmt es, dass eine Person, die wegen ihrer homosexuellen Ausrichtung einen Asylantrag stellt, nicht erwarten kann, dass sie in ihrem Herkunftsland so leben darf wie beispielsweise in den Niederlanden(41). Abgesehen davon scheint mir die Feststellung, wie viel „Zurückhaltung“ a) erforderlich ist, damit der Antragsteller nach seiner Rückkehr in seinem Heimatland sicher ist, aber auch b) noch mit der Wahrung der Grundrechte vereinbar ist, deren Verweigerung dazu führt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, ein von Natur aus subjektiver Akt zu sein, der wahrscheinlich zu willkürlichen Ergebnissen und nicht zu Rechtssicherheit führen würde. Das nationale Gericht stellt selbst in seinem Vorabentscheidungsersuchen fest, dass der Minister nicht in der Lage sei, im Voraus zu bestimmen, welches Maß an Zurückhaltung erwartet werden dürfe. Aufgrund dieser Aussage scheint mir, dass ein solcher Ansatz in der Praxis nicht handhabbar wäre.

69.      Drittens wäre es völlig wirklichkeitsfremd, zu behaupten, dass alles gut wird, wenn sich der Antragsteller bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland diskret verhält. Diskretion ist kein sicherer Schutz vor Entdeckung und in der Folge vor Erpressung und Verfolgung.

70.      Wenn man diese Überlegungen zugrunde legt, ist es nicht nötig, die Teilfrage (was der „Kernbereich“ der sexuellen Ausrichtung ist) zu beantworten. Der guten Ordnung halber möchte ich jedoch noch Folgendes zu bedenken geben.

71.      Ich nehme an, dass der Begriff „Kernbereich“ dem Urteil Y und Z entnommen wurde, in dem der Gerichtshof geprüft hat, ob die Grundrechte des Klägers durch Beschränkungen der Freiheit der Religionsausübung verletzt wurden. Ich bin nicht davon überzeugt, dass dieser Begriff auf den Zusammenhang des Ausdrucks der sexuellen Ausrichtung übertragbar ist. Es scheint mir, dass jemand eine bestimmte sexuelle Ausrichtung hat oder nicht hat(42). Es gibt keinen „Kern“ und kein „Zentrum“, das man an sich in Betracht ziehen könnte. Für mich ist es daher schwierig, zu akzeptieren, dass es möglich sein soll, einen Kernbereich des Ausdrucks der sexuellen Ausrichtung auszumachen. Und ich glaube auch nicht, dass der Gerichtshof diesen Weg einschlagen sollte.

72.      Ich glaube aber, dass die Argumentation des Gerichtshofs im Urteil Y und Z in einem allgemeineren Sinn hier analog anwendbar ist(43). Der Wortlaut der Art. 9 und 10 der Richtlinie bietet keine Grundlage für die Annahme eines „Kernbereichs“. Art. 9 verweist auf die unabdingbaren Rechte der EMRK, und das sollte auch der Orientierungspunkt für die Prüfung von Verfolgungshandlungen sein. Nichts deutet darauf hin, dass zwischen verschiedenen Arten des Ausdrucks oder auch Formen des Ausdrucks zu unterscheiden ist, die keine sexuellen Handlungen oder affektiven Handlungen sind. Per definitionem führt ein Vorgehen, das auf dieser Annahme beruht, wahrscheinlich zu willkürlichen Ergebnissen.

73.      Die letzte Teilfrage lautet schließlich, ob das Unionsrecht im Allgemeinen oder die Richtlinie im Besonderen einer Unterscheidung zwischen dem Schutz homosexueller und heterosexueller Ausländer entgegensteht.

74.      Wie sollen Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geprüft werden, wenn von den behaupteten Verfolgungshandlungen sowohl Homosexuelle als auch Heterosexuelle betroffen sind?

75.      Nehmen wir einmal an, dass es in einem bestimmten Drittland verboten ist, Gefühle zwischen zwei Personen öffentlich zur Schau zu stellen (wie beispielsweise Händchen zu halten oder sich zu küssen), und dass nach dem Gesetz die Strafe, die hierfür bei einer Verurteilung droht, (je nach den Umständen) zwischen einer Geldstrafe und Auspeitschen liegen kann. Die gesetzgeberische Maßnahme, die dieses Verhalten unter Strafe stellt und ahndet, ist so ausgestaltet, dass Heterosexuelle und Homosexuelle gleichermaßen davon betroffen sind. Angenommen, eine Person mit homosexueller Ausrichtung flieht aus dem Land und kommt in einen Mitgliedstaat der EU, um Asyl zu beantragen. Hier wäre auf den ersten Blick nicht klar, dass solch ein Antragsteller bloß aufgrund seiner sexuellen Orientierung der Verfolgung ausgesetzt ist. Wenn er aber nachweisen könnte, dass die Maßnahme in der Praxis in der Regel nur gegenüber Homosexuellen durchgesetzt wird oder dass nur gegen sie die schwersten Strafen verhängt werden (und dass Heterosexuelle in der Praxis im Allgemeinen händchenhaltend auf der Straße gehen dürfen und einander in der Öffentlichkeit küssen dürfen, ohne bestraft zu werden oder dass gegen sie nur kleine Geldstrafen verhängt werden), könnte er eher begründen, dass er ein Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie ist. Dann müsste geprüft werden, ob die Strafverfolgung und die Strafen, die normalerweise gegen einen Homosexuellen im Fall einer Verurteilung verhängt werden, eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellen (in meinem Beispiel und nach meiner Einschätzung wäre die Frage zu bejahen).

76.      Wenn man meine Antworten auf die verschiedenen Teilfragen des nationalen Gerichts zusammenfasst, so meine ich, dass die zweite Vorlagefrage so beantwortet werden sollte, dass bei der Prüfung, ob die Strafbarkeit des Ausdrucks der Homosexualität als Ausdruck der sexuellen Ausrichtung eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellt, die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats berücksichtigen müssen, ob ein Antragsteller Handlungen oder einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen ausgesetzt ist, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen.

 Ergebnis

77.      Ich bin daher der Auffassung, dass der Gerichtshof die vom Raad van State vorgelegten Fragen folgendermaßen beantworten sollte:

1.      Personen mit homosexueller Ausrichtung, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragen, können je nach den Gegebenheiten in ihren Herkunftsländern eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes bilden. Es ist Aufgabe des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob eine solche Gruppe im jeweiligen Herkunftsland des Antragstellers eine „deutlich abgegrenzte Identität“ im Sinne des zweiten Gedankenstrichs dieser Vorschrift hat, „da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“.

2.      Die Tatsache, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, stellt an sich noch keine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar. Die zuständigen nationalen Behörden haben im Licht der Gegebenheiten im Herkunftsland des Antragstellers, insbesondere hinsichtlich

–      des Risikos und der Häufigkeit der Verfolgung,

–      der Schwere der normalerweise im Falle erfolgreicher Strafverfolgung auferlegten Strafe und

–      anderer Maßnahmen und sozialer Praktiken, denen ausgesetzt zu sein der Antragsteller normalerweise befürchten muss,

zu prüfen, ob es wahrscheinlich ist, dass ein bestimmter Antragsteller Handlungen ausgesetzt ist, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte darstellen oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist.

3.      Bei der Prüfung, ob die Strafbarkeit des Ausdrucks der Homosexualität als Ausdruck der sexuellen Ausrichtung eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellt, müssen die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats berücksichtigen, ob ein Antragsteller Handlungen oder einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen ausgesetzt ist, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12).


3 –      Unterzeichnet in Genf am 28. Juli 1951 (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), in Kraft getreten am 22. April 1954. Sie wurde durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 4. Oktober 1967 in Kraft getreten ist, geändert und ergänzt. Ich verwende für beide Rechtsinstrumente zusammenfassend den Begriff „Genfer Konvention“.


4 –      ABl. C 83, S. 389.


5 –      Entsprechende Rechte sind jeweils in Art. 8 und 14 EMRK verankert. Art. 8 schützt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Art. 14 garantiert, dass der Genuss der in der EMRK anerkannten Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten ist.


6 –      Siehe Erwägungsgründe 1 und 2 und Art. 1 der Richtlinie.


7 –      Siehe dritter Erwägungsgrund der Richtlinie. Siehe auch 15. Erwägungsgrund, wonach Konsultationen mit dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge den Mitgliedstaaten wertvolle Hilfe bei der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft nach Artikel 1 der Genfer Konvention bieten können.


8 –      Siehe vierter Erwägungsgrund der Richtlinie.


9 –      Siehe Erwägungsgründe 6, 16 und 17 der Richtlinie.


10 –      Siehe zehnter Erwägungsgrund der Richtlinie.


11 – Siehe Art. 3 der Richtlinie.


12 – Derzeit sind beim Gerichtshof drei Fälle anhängig (C‑148/13 bis C‑150/13, A, B und C), bei denen es um die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie und die gemeinsamen Kriterien für die Prüfung der Glaubwürdigkeit der Angaben eines Antragstellers zu seiner sexuellen Ausrichtung geht.


13 –      Die laut Art. 15 Abs. 2 EMRK unabdingbaren Rechte sind das Recht auf Leben (Art. 2), das Verbot der Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art. 3 und 4) und das Recht des Einzelnen, nicht ohne ordentliches Gerichtsverfahren bestraft zu werden (Art. 7).


14 –      Zum Zeitpunkt der Antragstellung war der Minister voor Immigratie en Asiel zuständig. Inzwischen hat sich seine Bezeichnung geändert und lautet nunmehr „Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel“.


15 –      Westafrikanische CFA Franc (BCEAO).


16 –      Der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge („UNHCR“) hat sich in seiner Stellungnahme auch auf weibliche und männliche Homosexuelle, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle bezogen und das Akronym „LGBTT“ verwendet, um den Ausdruck „sexuelle Ausrichtung“ weit auszulegen. Da es in den jeweiligen Ausgangsverfahren jedoch um drei männliche Homosexuelle geht, die die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt haben, habe ich in meinen Schlussanträgen diese Bezeichnung gewählt.


17 –      Siehe Urteil vom 5. September 2012, Y und Z (C‑71/11 und C‑99/11, Randnr. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).


18 – Siehe Urteil vom 19. Dezember 2012, El Karem El Kott u. a. (C‑364/11, Randnrn. 42 und 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19 –      Siehe Nr. 32 meiner Schlussanträge in der Rechtssache El Karem El Kott u. a., angeführt in Fn. 18.


20 – Urteil des EGMR vom 22. Oktober 1981, Dudgeon gegen das Vereinigte Königreich (Beschw.-Nr. 7525/76, Serie A, Nr. 45, Randnrn. 60 bis 62) betreffend das Recht auf Privatleben. Siehe Urteil des EGMR vom 19. Februar 2013, X u. a. gegen Österreich [GK] (Beschw.-Nr. 19010/07, Randnr. 95) betreffend das Recht auf Familienleben.


21 – Einige regionale Rechtstexte wie die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker gewährleisten das Recht auf Nichtdiskriminierung. Ebenso wie die Genfer Konvention und die EMRK enthalten sie aber keine ausdrückliche Garantie des Rechts auf Ausdruck der sexuellen Ausrichtung. Vgl. „Making Love a Crime – Criminalisation of Same-Sex Conduct in Sub-Saharan Africa“, ein Bericht von Amnesty International vom 25. Juni 2013: www.amnesty.org/en/library/into/AFRO1/001/2013/en.


22 –      Siehe Urteil des EGMR vom 4. Februar 2005, Mamatkulov und Askarov gegen Türkei [GK] (Beschw.-Nrn. 46827/99 und 46951/99, Randnr. 121) betreffend die EMRK im Allgemeinen. Siehe Randnrn. 5 bis 7 der Guidelines on International Protection No. 9 (Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 9) vom 23. Oktober 2012, abrufbar unter www.unhcr.org/509136ca9.html (im Folgenden: UNHCR-Richtlinien), in Bezug auf die Genfer Konvention.


23 –      Entscheidung der Kommission vom 30. September 1975, X gegen Bundesrepublik Deutschland (Beschw.-Nr. 5935/72, Randnr. 2) und Entscheidung der Kommission vom 17. Juli 1986, Johnson gegen das Vereinigte Königreich (Beschw.-Nr. 10389/83).


24 –      Entscheidung der Kommission vom 1. Juli 1997, Sutherland gegen das Vereinigte Königreich (Beschw.-Nr. 25186/94, Randnrn. 58 bis 66).


25 –      Diese Beurteilung der Rechtbank wird im Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State erwähnt. Das vorlegende Gericht hat jedoch nicht gesagt, ob es diese Beurteilung der Rechtbank teilt. Ich verstehe das so, dass der Raad van State die Beurteilung der Rechtbank angeführt hat, um zu erklären, warum er für die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie eine Hilfestellung benötigt. Ich habe die Beurteilung der Rechtbank daher in meine Überlegungen einbezogen.


26 –      Die Rechtbank wurde vielleicht dadurch irregeführt, dass sich der zweite Gedankenstrich von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d auf eine Gruppe bezieht, die eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie „von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“. „Als andersartig betrachtet“ zu werden ist jedoch ein neutraler Sachverhalt, was man dagegen von Verfolgung und Diskriminierung sicherlich nicht sagen kann.


27 –      Siehe KOM(2001) 510 endgültig, insbesondere Teil 3.


28 – Die UNHCR-Richtlinien nehmen nunmehr Bezug auf die im Jahr 2007 verabschiedeten Yogyakarta Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität. In Abs. 4 der Präambel der Yogyakarta Prinzipien wird „sexuelle Orientierung“ als „Fähigkeit eines Menschen, sich emotional und sexuell intensiv zu Personen desselben oder eines anderen Geschlechts oder mehr als eines Geschlechts hingezogen zu fühlen und vertraute und sexuelle Beziehungen mit ihnen zu führen“ definiert.


29 –      Im Fall von X und Y werden diese erstinstanzlichen Feststellungen (die jeweils von der Rechtbank und dem für den Antrag auf einstweilige Anordnung zuständigen Richter getroffen wurden) im Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State erwähnt. Das vorlegende Gericht hat jedoch nicht gesagt, ob es die Ansicht des Erstgerichts teilt. Ich verstehe das so, dass der Raad van State diese Feststellungen angeführt hat, um zu erklären, warum er für die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie eine Hilfestellung benötigt, und ich habe sie daher in meine Überlegungen einbezogen.


30 –      Siehe oben, Nr. 15.


31 – Meines Wissens vertreten die Behörden der Niederlande im Ausländerrunderlass eine ähnliche Position. Siehe oben, Nr. 13.


32 –      Abgesehen vom Urteil Dudgeon, das oben in Fn. 19 angeführt wurde, sind auch die bekannten Urteile des EGMR vom 26. Oktober 1988, Norris gegen Irland (Beschw.-Nr. 10581/83, Serie A, Nr. 142) und vom 22. April 1993, Modinos gegen Zypern (Beschw.-Nr. 15070/89, Serie A, Nr. 259) zu erwähnen. Die nationalen Rechtsvorschriften, um die es im Fall Modinos ging, wurden erst relativ spät (im Jahr 1997) aufgehoben. Siehe auch die Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschenrechte betreffend Diskriminierung und das Mündigkeitsalter für homosexuelle und heterosexuelle Handlungen, die oben unter Nr. 24 und in den Fn. 23 und 24 erwähnt wird.


33 –      Entscheidungen des EGMR vom 22. Juni 2004, F gegen das Vereinigte Königreich (Beschw.-Nr. 17341/03, Randnr. 3) und vom 9. Dezember 2004, I.I.N. gegen die Niederlande (Beschw.-Nr. 2035/04). Solch ein Export könnte als Form eines humanitären oder kulturellen Imperialismus angesehen werden.


34 – Hervorhebung nur hier.


35 – So wäre beispielsweise dann, wenn der Ausdruck sexueller Intimität zwischen heterosexuellen Erwachsenen in der Öffentlichkeit verboten und unter Strafe gestellt ist, die bloße Anwendung derselben Vorschriften auf homosexuelle Erwachsene keine Verfolgungshandlung. Anders wäre die Situation dann, wenn das Gesetz in Bezug auf Heterosexuelle nie durchgesetzt würde, sehr wohl aber in Bezug auf Homosexuelle. Siehe zudem Nr. 75.


36 –      Siehe Urteil Y und Z, in Fn. 16 angeführt, Randnrn. 53 und 54.


37 – Siehe Art. 9 Abs. 3 und 10 Abs. 2.


38 –      Ich habe diese Teilfragen in eine andere Reihenfolge gebracht, um die verschiedenen Probleme, die vom nationalen Gericht aufgeworfen werden, auseinanderzuhalten.


39 –      Urteil vom 16. Dezember 1981, Foglia (244/80, Slg. 1981, 3045, Randnrn. 18 bis 20).


40 – Siehe oben, Nr. 13.


41 – Siehe beispielsweise die Entscheidung F gegen das Vereinigte Königreich, angeführt in Fn. 33.


42 –      Jemand kann sich aus verschiedenen Gründen freiwillig für sexuelle Enthaltsamkeit entscheiden und so ganz bewusst seine sexuelle Ausrichtung (physisch) nicht ausleben. Aber dies kann von niemandem verlangt werden, ohne dass dadurch das Vorhandensein der sexuellen Persönlichkeit verleugnet wird.


43 – Siehe Nrn. 38 bis 52 und 62 bis 68 der Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Y und Z (angeführt in Fn. 17).