Language of document : ECLI:EU:C:2023:1029

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

21. Dezember 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 4a Abs. 1 – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Vollstreckungsvoraussetzungen – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Ausnahmen – Pflicht zur Vollstreckung – In Abwesenheit verhängte Strafe – Wendung ‚Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat‘ – Verfahren, in dem zuvor verhängte Strafen abgeändert werden – Entscheidung, mit der eine Gesamtstrafe gebildet wird – Entscheidung, die ergangen ist, ohne dass der Betroffene persönlich erschienen wäre – Nationale Regelung, die ein absolutes Verbot der Übergabe des Betroffenen im Fall einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung vorsieht – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung“

In der Rechtssache C‑396/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Kammergericht (Berlin, Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Juni 2022, in dem Verfahren betreffend die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls

Generalstaatsanwaltschaft Berlin

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen (Berichterstatter) sowie des Richters N. Wahl und der Richterin M. L. Arastey Sahún,


Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, P. Busche, M. Hellmann und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und H. Leupold als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

2        Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Deutschland, der gegen einen polnischen Staatsangehörigen ausgestellt wurde, um eine Freiheitsstrafe in Polen zu vollstrecken.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“

4        In Art. 4a („Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist“) Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses heißt es:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls auch verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats

a)      rechtzeitig

i)      entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte,

und

ii)      davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

…“

 Deutsches Recht

5        § 83 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 23. Dezember 1982 (BGBl. 1982 I S. 2071) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juni 1994 (BGBl. 1994 I S. 1537) (im Folgenden: IRG) sieht vor:

„Die Auslieferung ist nicht zulässig, wenn

3.      bei Ersuchen zum Zweck der Strafvollstreckung die verurteilte Person zu der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung nicht persönlich erschienen ist …“

6        § 460 der Strafprozessordnung regelt die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe nach § 55 des Strafgesetzbuchs (StGB); gemäß § 462 Abs. 1 StPO wird die Entscheidung vom zuständigen Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss getroffen.

 Polnisches Recht

7        § 139 Abs. 1 des Kodeks postępowania karnego (Strafprozessordnung, im Folgenden: kpk) sieht im Wesentlichen die Möglichkeit vor, eine Zustellung an die bekannte Adresse einer Person zu bewirken, die ihre neue Adresse nicht angegeben hat.

8        Nach § 75 Abs. 1 kpk ist der Beschuldigte verpflichtet, im Rahmen eines Strafverfahrens bei einem Wohnortwechsel seine neue Adresse mitzuteilen.

9        Art. 86 des Kodeks karny (Strafgesetzbuch) bestimmt in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung im Wesentlichen, dass sich bei der Bildung einer Gesamtstrafe deren Minimum aus der höchsten Einzelstrafe und deren Maximum aus der Summe der Einzelstrafen ergibt, wobei gleichzeitig eine konkrete Obergrenze für eine solche Gesamtstrafe festgelegt wird.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

10      Die polnischen Behörden beantragten beim Kammergericht (Berlin, Deutschland), dem vorlegenden Gericht, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der am 5. Februar 2021 vom Sąd Okręgowy w Piotrkowie Trybunalskim (Regionalgericht Piotrków Trybunalski, Polen) gegen einen polnischen Staatsangehörigen ausgestellt wurde. Dieser Haftbefehl ist auf die Festnahme und Übergabe des Betroffenen an die polnischen Behörden zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von drei Jahren aus dem Urteil des Sąd Rejonowy w Piotrkowie Trybunalskim (Rayongericht Piotrków Trybunalski, Polen) vom 30. Oktober 2019 (im Folgenden: Gesamturteil vom 30. Oktober 2019) gerichtet, von der noch zwei Jahre, elf Monate und 27 Tage zu vollstrecken sind.

11      Das Gesamturteil vom 30. Oktober 2019 bezieht mehrere Verurteilungen durch den Sąd Rejonowy w Piotrkowie Trybunalskim (Rayongericht Piotrków Trybunalski) mit ein, und zwar ein Urteil vom 25. April 2019, mit dem aus mehreren zuvor gegen den Betroffenen verhängten Strafen eine Gesamtstrafe gebildet wurde, sowie ein Urteil vom 10. Juni 2019.

12      In den Verfahren, in denen die mit dem Urteil vom 25. April 2019 zu einer Gesamtstrafe zusammengefassten Strafen verhängt worden waren, war der Betroffene persönlich erschienen oder durch einen Pflichtverteidiger vertreten. Das Urteil vom 10. Juni 2019 und das Gesamturteil vom 30. Oktober 2019 ergingen hingegen in Abwesenheit. Die Ladungen zu den Verhandlungen, die diesen Urteilen vorausgegangen waren und die von den zuständigen polnischen Behörden durch Avis per polnischer Post an den Betroffenen unter der Anschrift versendet wurden, die er ihnen als seinen ständigen Wohnsitz angegeben hatte, gelten gemäß Art. 139 § 1 kpk als zugestellt.

13      Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Deutschland) hatte zunächst beantragt, gegen den Betroffenen Auslieferungshaft zur Übergabe an die polnischen Behörden anzuordnen. Später gelangte sie zu der Auffassung, dass § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG, mit dem Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in deutsches Recht umgesetzt worden sei, dieser Übergabe entgegenstehe. Eine Ladung, die nach Art. 139 § 1 kpk als zugestellt gelte, könne nicht garantieren, dass der Betroffene tatsächlich von dem Termin und dem Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt worden sei, wie es die Rechtsprechung des Gerichtshofs u. a. aus dem Urteil vom 24. Mai 2016, Dworzecki (C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346), verlange. Sie beantragt daher nunmehr, die Übergabe des Betroffenen für unzulässig zu erklären.

14      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit der Tat gegeben, unter der eine solche Übergabe stehe und die eine Prüfung zum Inhalt habe, ob die vorgeworfene Tat in beiden zur Zusammenarbeit aufgerufenen Mitgliedstaaten eine Straftat darstelle.

15      Das vorlegende Gericht möchte erstens wissen, ob die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass sie ein Verfahren, in dem ein Urteil ergangen ist, mit dem aus zuvor verhängten Strafen nachträglich eine Gesamtstrafe gebildet wurde, auch dann erfasst, wenn das Organ, das dieses Urteil erlassen hat, weder den Schuldspruch überprüfen noch die zuvor verhängten Strafen abändern kann.

16      Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629), entschieden habe, dass diese Wendung auch ein nachfolgendes Verfahren erfasse, das zu einem eine Gesamtstrafe bildenden Urteil geführt habe und nach dessen Abschluss die Entscheidung erlassen worden sei, durch die die ursprünglich verhängte Strafe endgültig neu bemessen worden sei, sofern das betreffende Organ beim Erlass dieser Entscheidung über ein Ermessen verfügt habe.

17      Im vorliegenden Fall lasse sich den Angaben der polnischen Gerichte entnehmen, dass diese nach den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften im Rahmen einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung über einen gewissen Spielraum verfügten, da sie nach eigenem Ermessen auf eine Strafe erkennen könnten, deren Untergrenze die höchste Einzelstrafe und deren Obergrenze die Summe aller ursprünglich verhängten Strafen bilde. Da mit dem Gesamturteil vom 30. Oktober 2019 weder der Schuldspruch überprüft worden sei noch die zuvor verhängten Strafen abgeändert worden seien, hat das vorlegende Gericht allerdings Zweifel, ob ein solches Urteil tatsächlich unter die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 gefasst werden kann.

18      Das vorlegende Gericht sieht sich dadurch in seinen Zweifeln bestärkt, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 seiner Ansicht nach nur dann zur Anwendung gelangt, wenn ein Verfahren zur nachträglichen Gesamtstrafenbildung zur Verkündung eines Urteils auf der Grundlage einer Verhandlung führe. Dies sei aber u. a. im deutschen Recht nicht der Fall. In Anbetracht der unterschiedlichen Ausgestaltung des Strafverfahrens in den verschiedenen Mitgliedstaaten bestehe daher die Gefahr, dass ein solches Verfahren je nach dem anwendbaren nationalen Recht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung falle oder nicht.

19      Zweitens wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts einer nationalen Regelung wie § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG entgegenstehe, die eine Verurteilung in Abwesenheit als „absolutes Übergabehindernis“ zugunsten der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen sei, statuiere, wohingegen Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584, der mit dieser Regelung in deutsches Recht umgesetzt worden sei, insoweit nur einen fakultativen Verweigerungsgrund vorsehe.

20      Die zuletzt genannte Bestimmung sei nicht vollständig in deutsches Recht umgesetzt worden, da § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG im Fall einer Verurteilung in Abwesenheit keine Möglichkeit zur Ermessensausübung durch die vollstreckende Justizbehörde vorsehe.

21      Im Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 69, 72, 73 und 76), habe der Gerichtshof entschieden, dass eine unmittelbare Anwendung des Rahmenbeschlusses 2002/584 zwar ausgeschlossen sei, da er keine unmittelbare Wirkung entfalte. Eine vollstreckende Justizbehörde sei jedoch verpflichtet, das nationale Recht rahmenbeschlusskonform auszulegen, um das in dem Rahmenbeschluss festgelegte Ziel zu erreichen, wobei aber eine Auslegung contra legem ausscheide.

22      Das vorlegende Gericht meint, § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG nicht dahin auslegen zu können, dass er ihm im Rahmen der Prüfung eines Hindernisses für die Übergabe des Betroffenen ein Ermessen zugestehe, das es ihm ermöglichen würde, die Übergabe trotz der in § 83 Abs. 2 bis 4 IRG vorgesehenen Ausnahmen für zulässig zu erklären. Bei Anwendung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sowie des Ermessens, über das es insoweit verfügen müsste, würde das vorlegende Gericht in Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falls davon ausgehen, dass dem Betroffenen rechtliches Gehör gewährt worden sei und seine Übergabe daher zulässig sei.

23      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts dürfte auf den ersten Blick nicht davon auszugehen sein, dass die Umstände, unter denen die Ladung des Betroffenen erfolgt sei, hinreichend gewährleisteten, dass diesem – wie von der Rechtsprechung des Gerichtshofs u. a. aus dem Urteil vom 24. Mai 2016, Dworzecki (C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346), verlangt – eine sichere Kenntnis von dem Termin vermittelt worden sei, in dem das Gesamturteil vom 30. Oktober 2019 ergangen sei. Damit seien die in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt. Den Rn. 50 und 51 des angeführten Urteils des Gerichtshofs lasse sich allerdings entnehmen, dass die betreffende vollstreckende Justizbehörde auch andere Umstände, die es ihr erlaubten, sich zu vergewissern, dass die Übergabe des Betroffenen keine Verletzung seiner Verteidigungsrechte impliziere, und hierbei namentlich sein Verhalten berücksichtigen könne, wobei besonderes Augenmerk auf einen etwaigen Mangel an Sorgfalt des Betroffenen im Umgang mit seinen Rechten gerichtet werden könne, insbesondere wenn sich zeige, dass er versucht habe, sich der an ihn gerichteten Zustellung zu entziehen. Im vorliegenden Fall stehe fest, dass der Betroffene dadurch, dass er den zuständigen polnischen Behörden seine tatsächliche Adresse nicht mitgeteilt habe, seine Ladung zu der Verhandlung vereitelt habe, in der das Gesamturteil vom 30. Oktober 2019 ergangen sei.

24      Unter diesen Umständen hat das Kammergericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist daran festzuhalten, dass auch ein Verfahren zur nachträglichen Gesamtstrafenbildung in den Anwendungsbereich des Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fällt, wenn die Entscheidung zwar durch Urteil aufgrund einer mündlichen Verhandlung getroffen wird, in diesem aber weder der Schuldspruch überprüft noch die für die einzelne Tat erkannte Strafe abgeändert werden kann?

2.      Ist es mit dem Vorrang des Unionsrechts vereinbar, dass der deutsche Gesetzgeber in § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG den Fall der Abwesenheitsverurteilung als absolutes Übergabehindernis ausgestaltet hat, obwohl Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 insoweit nur einen fakultativen Verweigerungsgrund vorsieht?


 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

25      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ in dieser Bestimmung ein Verfahren, in dem ein Urteil ergangen ist, mit dem aus zuvor verhängten Strafen nachträglich eine Gesamtstrafe gebildet wurde, erfasst, wenn das Organ, das dieses Urteil erlassen hat, weder den gegen den Betroffenen ergangenen Schuldspruch überprüfen noch die zuvor verhängten Strafen abändern kann.

26      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs als autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen und – unabhängig von den Wertungen in den Mitgliedstaaten – im Gebiet der Union einheitlich auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 67, und vom 22. Dezember 2017, Ardic, C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 63).

27      Diese Wendung ist so zu verstehen, dass sie sich auf das Verfahren bezieht, das zu der justiziellen Entscheidung geführt hat, durch die die Person, um deren Übergabe im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ersucht wird, rechtskräftig verurteilt wurde (Urteile vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 74, und vom 23. März 2023, Minister for Justice and Equality [Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung], C‑514/21 und C‑515/21, EU:C:2023:235, Rn. 52).

28      Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Wendung bei einem Verfahren, das mehrere Instanzen umfasst hat, die zu aufeinanderfolgenden Entscheidungen geführt haben, von denen mindestens eine in Abwesenheit ergangen ist, dasjenige Verfahren erfasst, das zur letzten dieser Entscheidungen geführt hat, sofern das betreffende Gericht rechtskräftig über die Schuld des Betroffenen entschieden und ihn zu einer Strafe wie einer freiheitsentziehenden Maßregel verurteilt hat, nachdem es die belastenden und die entlastenden Umstände in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht geprüft und dabei gegebenenfalls seine persönliche Situation berücksichtigt hat (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 81).

29      Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass eine in einem späteren Stadium des Verfahrens ergangene Entscheidung – wie ein eine Gesamtstrafe bildendes Urteil –, durch die eine oder mehrere zuvor verhängte Freiheitsstrafen neu bemessen wurden, auch wenn sie ergangen ist, nachdem der Betroffene durch eine oder mehrere Entscheidungen zu einer oder mehreren Strafen verurteilt wurde, nichts an dem in diesen früheren Entscheidungen enthaltenen Schuldspruch ändert, so dass dieser endgültig ist (Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 84).

30      Zum einen enthält ein solches Urteil eine Neubemessung der verhängten Strafe oder Strafen und muss daher von Maßnahmen unterschieden werden, die sich auf die Modalitäten der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe beziehen. Zum anderen führt ein Verfahren, in dem eine Entscheidung – wie ein eine Gesamtstrafe bildendes Urteil – ergeht, durch die u. a. eine oder mehrere zuvor gegen den Betroffenen verhängte Strafen zu einer einzigen Gesamtstrafe zusammengefasst werden, notwendigerweise zu einem günstigeren Ergebnis für diesen. So können z. B. mehrere durch verschiedene Urteile verhängte Strafen zu einer Gesamtstrafe zusammengefasst werden, die niedriger ist als die Summe der jeweiligen, sich aus verschiedenen früheren Entscheidungen ergebenden Strafen (Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 85 und 86).

31      Ein faires Verfahren impliziert das Recht des Betroffenen, an den Diskussionen teilzunehmen, die bedeutende Konsequenzen für die Höhe der gegen ihn zu verhängenden Strafe haben können. Damit darf ein besonderes Verfahren der Gesamtstrafenbildung keine einfache arithmetische Rechnung darstellen, sondern muss dem Gericht ein Ermessen bei der Strafzumessung unter Berücksichtigung u. a. der Situation oder der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen oder mildernder oder erschwerender Umstände einräumen. Unerheblich ist insoweit, ob das betreffende Gericht befugt ist, die zuvor verhängte Strafe zu erhöhen (Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 87 bis 89).

32      Daher fällt ein Verfahren, das zu einem Urteil führt, durch das zuvor verhängte Freiheitsstrafen im Wege der Bildung einer Gesamtstrafe neu bemessen werden, in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584, wenn es dem zuständigen Organ insoweit ein Ermessen einräumt und wenn es zu einer Entscheidung führt, durch die die Strafe endgültig festgesetzt wird (Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 90).

33      Daraus ergibt sich, dass die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ein Urteil, mit dem eine Gesamtstrafe verhängt wird – wie das Gesamturteil vom 30. Oktober 2019 –, erfasst, da sich den Angaben des vorlegenden Gerichts entnehmen lässt, dass das Verfahren, in dem dieses Urteil ergangen ist, dem Gericht ein Ermessen bei der Festlegung der Höhe dieser Gesamtstrafe einräumt.

34      Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ in dieser Bestimmung ein Verfahren, in dem ein Urteil ergangen ist, mit dem aus zuvor verhängten Strafen nachträglich eine Gesamtstrafe gebildet wurde, erfasst, wenn das Organ, das dieses Urteil erlassen hat, in diesem Verfahren weder den gegen den Betroffenen ergangenen Schuldspruch überprüfen noch die zuvor verhängten Strafen abändern kann, ihm aber ein Ermessen bei der Festlegung der Höhe dieser Gesamtstrafe zusteht.

 Zur zweiten Frage

35      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts einer nationalen Regelung zur Umsetzung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die es einer vollstreckenden Justizbehörde generell verwehrt, einen zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, wenn der Betroffene in der Verhandlung, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist.

36      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 in seinem Art. 1 Abs. 2 die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses zu vollstrecken. Die vollstreckenden Justizbehörden können also die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls – abgesehen von außergewöhnlichen Umständen – nur in den in diesem Rahmenbeschluss abschließend aufgezählten Fällen ablehnen. Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls kann nur an eine der Bedingungen geknüpft werden, die dort erschöpfend aufgeführt sind. Folglich stellt die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung seiner Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 50).

37      So nennt der Rahmenbeschluss 2002/584 explizit einerseits die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist (Art. 3 des Rahmenbeschlusses), und andererseits die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann (Art. 4 und 4a des Rahmenbeschlusses). Insbesondere durch Art. 4a des Rahmenbeschlusses wird die Möglichkeit, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, eingeschränkt, indem darin genau und einheitlich die Bedingungen angegeben werden, unter denen Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der der Betroffene nicht persönlich erschienen ist, nicht verweigert werden dürfen (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 53).

38      Aus dem Wortlaut von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ergibt sich, dass diese Bestimmung einen Grund vorsieht, aus dem die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, wenn der Betroffene nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu seiner Verurteilung geführt hat. Von dieser Möglichkeit bestehen jedoch vier, in den Buchst. a bis d dieser Bestimmung aufgezählte Ausnahmen, bei denen die betreffende vollstreckende Justizbehörde nicht die Wahl hat, die Vollstreckung des ihr übermittelten Europäischen Haftbefehls abzulehnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 40).

39      Eine vollstreckende Justizbehörde kann somit die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn der Betroffene nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 54).

40      Folglich ist eine vollstreckende Justizbehörde verpflichtet, einen Europäischen Haftbefehl ungeachtet der Abwesenheit des Betroffenen in der Verhandlung, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, zu vollstrecken, wenn nachweislich einer der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d dieses Rahmenbeschlusses genannten Fälle vorliegt (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 55).

41      Der Gerichtshof hat bereits klargestellt, dass eine vollstreckende Justizbehörde, da Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 einen Fall der fakultativen Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vorsieht, auch dann, wenn sie feststellt, dass die Situation der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, unter keinen der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils angeführten Tatbestände fällt, jedenfalls andere Umstände berücksichtigen kann, die es ihr erlauben, sich zu vergewissern, dass die Übergabe des Betroffenen nicht zu einer Verletzung seiner Verteidigungsrechte führt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 107, und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Im Rahmen einer solchen Beurteilung kann eine vollstreckende Justizbehörde somit das Verhalten des Betroffenen berücksichtigen. In diesem Stadium des Übergabeverfahrens könnte nämlich besonderes Augenmerk u. a. darauf gerichtet werden, dass der Betroffene versucht hat, sich der Zustellung der an ihn gerichteten Informationen zu entziehen (Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Daraus ergibt sich, dass eine vollstreckende Justizbehörde bei der Prüfung, ob eine der in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt ist, nicht daran gehindert werden kann, sich der Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person zu vergewissern und dabei alle Umstände des Falles, mit dem sie befasst ist, einschließlich der Informationen, über die sie möglicherweise selbst verfügt, gebührend zu berücksichtigen.

44      Im vorliegenden Fall lässt sich den Angaben des vorlegenden Gerichts entnehmen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende deutsche Regelung die betreffende vollstreckende Justizbehörde generell verpflichtet, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls im Fall einer Verurteilung in Abwesenheit abzulehnen. Diese Regelung lässt der vollstreckenden Justizbehörde bei der Prüfung auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls, ob eine der in Art. 4a Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses 2002/584 angeführten Tatbestände erfüllt ist, hinsichtlich der Frage, ob die Verteidigungsrechte des Betroffenen als gewahrt angesehen werden können, und folglich auch hinsichtlich der Entscheidung, den betreffenden Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, keinerlei Entscheidungsspielraum.

45      Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass eine solche nationale Regelung gegen Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verstößt.

46      Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er ein nationales Gericht nicht verpflichtet, eine Bestimmung des nationalen Rechts, die mit den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 unvereinbar ist, unangewendet zu lassen, da diese Bestimmungen keine unmittelbare Wirkung haben. Allerdings sind die Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich der Gerichte, verpflichtet, ihrem nationalen Recht so weit wie möglich eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung beizumessen, die es ihnen ermöglicht, ein Ergebnis zu gewährleisten, das mit dem Zweck vereinbar ist, der mit diesem Rahmenbeschluss verfolgt wird (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 109).

47      Die Rahmenbeschlüsse können zwar keine unmittelbare Wirkung haben, ihr zwingender Charakter hat für die nationalen Behörden aber gleichwohl eine Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung ihres innerstaatlichen Rechts ab dem Zeitpunkt des Ablaufs der Frist für die Umsetzung dieser Rahmenbeschlüsse zur Folge. Diese Behörden müssen ihr nationales Recht bei seiner Anwendung daher so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des betreffenden Rahmenbeschlusses auslegen, um das darin festgelegte Ziel zu erreichen, wobei eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem allerdings ausgeschlossen ist. Somit gebietet der Grundsatz der rahmenbeschlusskonformen Auslegung die Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und die Anwendung der nach diesem anerkannten Auslegungsmethoden, um die volle Wirksamkeit des Rahmenbeschlusses zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das im Einklang mit dem mit ihm verfolgten Zweck steht (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 72 bis 77).

48      Daraus folgt, dass es dem vorlegenden Gericht obliegt, unter Berücksichtigung seines gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der nach diesem anerkannten Auslegungsmethoden die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des Rahmenbeschlusses 2002/584 auszulegen.

49      Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Regelung zur Umsetzung dieser Bestimmung, die es einer vollstreckenden Justizbehörde generell verwehrt, einen zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, wenn der Betroffene in der Verhandlung, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, gegen die genannte Bestimmung verstößt. Ein nationales Gericht ist verpflichtet, diese nationale Regelung unter Berücksichtigung seines gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der nach diesem Recht anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks dieses Rahmenbeschlusses auszulegen.

 Kosten

50      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ in dieser Bestimmung ein Verfahren, in dem ein Urteil ergangen ist, mit dem aus zuvor verhängten Strafen nachträglich eine Gesamtstrafe gebildet wurde, erfasst, wenn das Organ, das dieses Urteil erlassen hat, in diesem Verfahren weder den gegen den Betroffenen ergangenen Schuldspruch überprüfen noch die zuvor verhängten Strafen abändern kann, ihm aber ein Ermessen bei der Festlegung der Höhe dieser Gesamtstrafe zusteht.

2.      Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung zur Umsetzung dieser Bestimmung, die es einer vollstreckenden Justizbehörde generell verwehrt, einen zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, wenn der Betroffene in der Verhandlung, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, gegen die genannte Bestimmung verstößt. Ein nationales Gericht ist verpflichtet, diese nationale Regelung unter Berücksichtigung seines gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der nach diesem Recht anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks dieses Rahmenbeschlusses auszulegen.

Biltgen

Wahl

Arastey Sahún

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 21. Dezember 2023.

Der Kanzler

 

Der Kammerpräsident

A. Calot Escobar

 

F. Biltgen


*      Verfahrenssprache: Deutsch.