Language of document : ECLI:EU:C:2022:298

Rechtssache C368/20

NW

gegen

Landespolizeidirektion Steiermark

(Vorabentscheidungsersuchen des Landesverwaltungsgerichts Steiermark)

 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 26. April 2022

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Freizügigkeit – Verordnung (EU) 2016/399 – Schengener Grenzkodex – Art. 25 Abs. 4 – Vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen für eine Gesamthöchstdauer von sechs Monaten – Nationale Regelung, die mehrere aufeinanderfolgende Kontrollzeiträume vorsieht, die zu einer Überschreitung dieser Dauer führen – Unvereinbarkeit einer solchen Regelung mit Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex, wenn die aufeinanderfolgenden Zeiträume auf dieselbe Bedrohung oder dieselben Bedrohungen gestützt werden – Nationale Regelung, die unter Androhung einer Sanktion das Vorzeigen eines Reisepasses oder Personalausweises bei der Kontrolle an der Binnengrenze vorschreibt – Unvereinbarkeit einer solchen Verpflichtung mit Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex, wenn die Kontrolle selbst gegen diese Bestimmung verstößt“

1.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen – Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen – Vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen im Fall einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit – Dauer dieser Wiedereinführung, die ohne Vorliegen einer neuen Bedrohung über die Gesamthöchstdauer von sechs Monaten hinausgeht – Unzulässigkeit

(Art. 72 AEUV; Verordnung 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 25, 27, 29 und 30)

(vgl. Rn. 66, 68, 70, 77-81, 89, 90, 94, Tenor 1)

2.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen – Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen – Vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen im Fall einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit – Diesem Kodex zuwiderlaufende Wiedereinführung, da sie über die Gesamthöchstdauer von sechs Monaten hinausgeht, ohne auf eine neue Bedrohung gestützt zu sein – Nationale Regelung, die eine Person unter Androhung einer Sanktion verpflichtet, bei der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats über eine Binnengrenze einen Reisepass oder einen Personalausweis vorzuzeigen – Unzulässigkeit

(Verordnung 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 25 Abs. 4)

(vgl. Rn. 97, 98, Tenor 2)


Zusammenfassung

Von September 2015 bis November 2021 führte die Republik Österreich mehrfach Kontrollen an ihren Grenzen zu Ungarn und Slowenien wieder ein. Zur Rechtfertigung der Wiedereinführung dieser Kontrollen stützte sich dieser Mitgliedstaat auf verschiedene Bestimmungen des Schengener Grenzkodex(1). Ab dem 11. November 2017 stützte er sich insbesondere auf Art. 25 („Allgemeiner Rahmen für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen“) des Schengener Grenzkodex, wonach ein Mitgliedstaat Kontrollen an seinen Binnengrenzen wiedereinführen kann, wenn die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in diesem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht ist, und in dem Höchstzeiten festgelegt werden, innerhalb deren solche Kontrollen wiedereingeführt werden können.

Im August 2019 wurde NW von Slowenien kommend am Grenzübergang Spielfeld (Österreich) einer Grenzkontrolle unterzogen. Da er sich weigerte, seinen Pass vorzuzeigen, wurde ihm zur Last gelegt, die österreichische Grenze ohne Reisedokument überschritten zu haben, und er wurde zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt. Im November 2019 wurde NW an demselben Grenzübergang einer weiteren Grenzkontrolle unterzogen. Vor dem vorlegenden Gericht stellte er die Rechtmäßigkeit dieser beiden Kontrollen in Frage.

Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die Kontrollen von NW und die gegen ihn verhängte Strafe mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Als diese Kontrollmaßnahmen erfolgten, hatte die von Österreich erfolgte Wiedereinführung von Kontrollen an der Grenze zu Slowenien nämlich die in Art. 25 des Schengener Grenzkodex vorgesehene Gesamthöchstdauer von sechs Monaten wegen der Kumulierung aufeinanderfolgender Kontrollzeiträume bereits überschritten.

Mit seinem Urteil erkennt der Gerichtshof in der Zusammensetzung als Große Kammer für Recht, dass der Schengener Grenzkodex einer vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen durch einen Mitgliedstaat auf der Grundlage einer ernsthaften Bedrohung seiner öffentlichen Ordnung oder seiner inneren Sicherheit entgegensteht, wenn deren Dauer die Gesamthöchstdauer von sechs Monaten überschreitet und keine neue Bedrohung vorliegt, die eine erneute Anwendung der im Schengener Grenzkodex vorgesehenen Zeiträume rechtfertigen würde. Der Schengener Grenzkodex steht einer nationalen Regelung entgegen, mit der ein Mitgliedstaat eine Person unter Androhung einer Sanktion dazu verpflichtet, bei der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats über eine Binnengrenze einen Reisepass oder einen Personalausweis vorzuzeigen, wenn die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen, in deren Rahmen diese Verpflichtung auferlegt wird, selbst gegen diesen Kodex verstößt.

Würdigung durch den Gerichtshof

In Bezug auf die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen durch einen Mitgliedstaat aufgrund einer ernsthaften Bedrohung seiner öffentlichen Ordnung oder seiner inneren Sicherheit(2) weist der Gerichtshof vorab darauf hin, dass bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.

Was zunächst den Wortlaut von Art. 25 des Schengener Grenzkodex betrifft, stellt der Gerichtshof fest, dass die Wendung „beträgt höchstens sechs Monate“ darauf hindeutet, dass jede Möglichkeit, diese Dauer zu überschreiten, ausgeschlossen ist.

Was sodann den Kontext betrifft, in den sich Art. 25 des Schengener Grenzkodex einfügt, stellt der Gerichtshof erstens fest, dass diese Bestimmung die Höchstdauer sowohl für die ursprüngliche Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen als auch für jede Verlängerung dieser Kontrollen, einschließlich der für solche Kontrollen geltenden Gesamthöchstdauer, klar und präzise festlegt. Zweitens stellt diese Bestimmung eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, wonach die Binnengrenzen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden dürfen(3). Da Ausnahmen von der Freizügigkeit eng auszulegen sind, sollte die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen eine Ausnahme bleiben und nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Diese enge Auslegung spricht somit gegen eine Auslegung von Art. 25 des Schengener Grenzkodex, wonach das Anhalten der ursprünglich festgestellten Bedrohung(4) ausreicht, um die Wiedereinführung dieser Kontrollen über den Gesamtzeitraum von höchstens sechs Monaten hinaus zu rechtfertigen. Eine solche Auslegung liefe nämlich darauf hinaus, in der Praxis diese Wiedereinführung wegen derselben Bedrohung für unbestimmte Zeit zu erlauben und damit den Grundsatz der Abwesenheit von Kontrollen an den Binnengrenzen zu beeinträchtigen. Drittens würde eine Auslegung von Art. 25 des Schengener Grenzkodex dahin, dass ein Mitgliedstaat im Fall einer Bedrohung die für Kontrollen an den Binnengrenzen vorgesehene Gesamthöchstdauer von sechs Monaten überschreiten könnte, der vom Unionsgesetzgeber getroffenen Unterscheidung zwischen Kontrollen an den Binnengrenzen, die nach diesem Artikel wiedereingeführt werden, und solchen, die im Sinne von Art. 29 des Schengener Grenzkodex(5) wiedereingeführt werden, für die die Gesamthöchstdauer der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen zwei Jahre nicht überschreiten darf, den Sinn nehmen(6).

Schließlich betont der Gerichtshof, dass das Ziel, das mit der Regel betreffend die Gesamthöchstdauer von sechs Monaten verfolgt wird, somit als Fortführung des allgemeinen Ziels anzusehen ist, das darin besteht, den Grundsatz des freien Personenverkehrs mit dem Interesse der Mitgliedstaaten an der Gewährleistung der Sicherheit ihres Hoheitsgebiets in Einklang zu bringen. Insoweit trifft es zwar zu, dass eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit eines Mitgliedstaats im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen nicht zwangsläufig zeitlich begrenzt ist, doch hat der Unionsgesetzgeber einen Zeitraum von sechs Monaten für ausreichend gehalten, damit der betreffende Mitgliedstaat Maßnahmen erlässt, mit denen einer solchen Bedrohung begegnet werden kann, und dabei nach Ablauf dieses Zeitraums von sechs Monaten der freie Personenverkehr gewahrt bleibt.

Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass dieser Gesamtzeitraum von höchstens sechs Monaten zwingend ist, so dass alle nach Ablauf dieses Zeitraums gemäß Art. 25 des Schengener Grenzkodex wiedereingeführten Kontrollen an den Binnengrenzen mit diesem Kodex unvereinbar sind. Ein solcher Zeitraum kann jedoch nur dann erneut angewandt werden, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass eine neue ernsthafte Bedrohung seiner öffentlichen Ordnung oder seiner inneren Sicherheit vorliegt. Um zu beurteilen, ob eine bestimmte Bedrohung im Vergleich zu der ursprünglich festgestellten neu ist, sind die Umstände heranzuziehen, welche die Wiedereinführung der Kontrollen an den Binnengrenzen erfordern, sowie die Umstände und Ereignisse, die eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats darstellen(7).

Außerdem stellt der Gerichtshof fest, dass Art. 72 AEUV(8) es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, für einen Zeitraum, der über die Gesamthöchstdauer von sechs Monaten hinausgeht, vorübergehende Kontrollen an den Binnengrenzen, die auf die Art. 25 und 27 des Schengener Grenzkodex gestützt sind, wiedereinzuführen, um einer solchen Bedrohung zu begegnen. In Anbetracht der grundlegenden Bedeutung, die dem freien Personenverkehr unter den Zielen der Union zukommt, und der detaillierten Art und Weise, in der der Unionsgesetzgeber die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, in diese Freiheit durch die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen einzugreifen, eingegrenzt hat, indem er diese Regel über die Gesamthöchstdauer von sechs Monaten vorgesehen hat, hat der Unionsgesetzgeber der Ausübung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten im Bereich der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit gebührend Rechnung getragen.


1      Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1, berichtigt in ABl. 2018, L 272, S. 69) in der durch die Verordnung (EU) 2016/1624 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. September 2016 (ABl. 2016, L 251, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Schengener Grenzkodex). Diese Verordnung ersetzte die Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1).


2      Der Gerichtshof prüft konkret die Art. 25 und 27 des Schengener Grenzkodex. Art. 27 des Schengener Grenzkodex legt das Verfahren für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex fest.


3      Vgl. in diesem Sinne Art. 22 des Schengener Grenzkodex sowie Art. 3 Abs. 2 EUV und Art. 67 Abs. 2 AEUV.


4      Selbst wenn sie anhand neuer Umstände beurteilt wird oder die Notwendigkeit und die Verhältnismäßigkeit der zur Bewältigung dieser Bedrohung eingerichteten Kontrollen neu bewertet werden.


5      Liegen außergewöhnliche Umstände vor, die das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt gefährden, eröffnet Art. 29 des Schengener Grenzkodex den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, auf der Grundlage einer Empfehlung des Rates Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereinzuführen.


6      Allerdings hindert die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen für eine Gesamthöchstdauer von zwei Jahren nach Art. 29 des Schengener Grenzkodex den betreffenden Mitgliedstaat nicht daran, im Fall einer neuen ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit unmittelbar nach Ablauf dieser zwei Jahre Kontrollen nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex für eine Gesamthöchstdauer von sechs Monaten wiedereinzuführen, sofern die in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind.


7      Art. 27 Abs. 1 Buchst. a des Schengener Grenzkodex.


8      Nach dieser Bestimmung berührt Titel V des EUV nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.