Language of document : ECLI:EU:C:2008:739

Rechtssache C-16/06 P

Les Éditions Albert René Sàrl

gegen

Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM)

„Rechtsmittel – Gemeinschaftsmarke – Verordnung (EG) Nr. 40/94 – Art. 8 und 63 – Wortmarke MOBILIX – Widerspruch der Inhaberin der nationalen und Gemeinschaftswortmarke OBELIX – Teilweise Zurückweisung des Widerspruchs – Reformatio in peius – Sogenannte ‚Neutralisierungstheorie‘ – Änderung des Streitgegenstands – Schriftstücke, die der beim Gericht eingereichten Klageschrift beigefügt wurden, als neue Beweise“

Leitsätze des Urteils

1.        Gemeinschaftsmarke – Beschwerdeverfahren – Klage beim Gemeinschaftsrichter – Befugnisse des Gerichts – Rechtmäßigkeitskontrolle der Entscheidungen der Beschwerdekammern

(Verordnung Nr. 40/94 des Rates, Art. 63)

2.        Gemeinschaftsmarke – Definition und Erwerb der Gemeinschaftsmarke – Relative Eintragungshindernisse – Widerspruch des Inhabers einer für identische oder ähnliche Waren oder Dienstleistungen eingetragenen identischen oder ähnlichen älteren Marke – Gefahr der Verwechslung mit der älteren Marke

(Verordnung Nr. 40/94 des Rates, Art. 8 Abs. 1 Buchst. b)

3.        Rechtsmittel – Gründe – Fehlerhafte Tatsachen- und Beweiswürdigung – Unzulässigkeit – Überprüfung der Tatsachen- und Beweiswürdigung durch den Gerichtshof – Ausschluss außer bei Verfälschung

(Art. 225 Abs. 1 EG; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1)

4.        Gemeinschaftsmarke – Definition und Erwerb der Gemeinschaftsmarke – Relative Eintragungshindernisse – Widerspruch des Inhabers einer für identische oder ähnliche Waren oder Dienstleistungen eingetragenen identischen oder ähnlichen älteren Marke – Gefahr der Verwechslung mit der älteren Marke

(Verordnung Nr. 40/94 des Rates, Art. 8 Abs. 1 Buchst. b)

5.        Gemeinschaftsmarke – Definition und Erwerb der Gemeinschaftsmarke – Relative Eintragungshindernisse – Widerspruch des Inhabers einer für identische oder ähnliche Waren oder Dienstleistungen eingetragenen identischen oder ähnlichen älteren Marke – Gefahr der Verwechslung mit der älteren Marke

(Verordnung Nr. 40/94 des Rates, Art. 8 Abs. 1 Buchst. b)

6.        Rechtsmittel – Gründe – Bloße Wiederholung der vor dem Gericht vorgetragenen Gründe und Argumente – Keine Angabe des gerügten Rechtsfehlers – Unzulässigkeit

(Art. 225 EG; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 112 § 1 Abs. 1 Buchst.  c)

7.        Gemeinschaftsmarke – Beschwerdeverfahren – Klage beim Gemeinschaftsrichter – Befugnisse des Gerichts – Rechtmäßigkeitskontrolle der Entscheidungen der Beschwerdekammern

(Verordnung Nr. 40/94 des Rates, Art. 61 Abs. 2, 62 Abs. 2, 63, 74 Abs. 2 und 76)

1.        In den Grenzen des Art. 63 der Verordnung Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke in seiner Auslegung durch den Gerichtshof darf das Gericht die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der Beschwerdekammern des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) einer vollständigen Kontrolle unterwerfen und dabei erforderlichenfalls der Frage nachgehen, ob die Beschwerdekammern die in dem Rechtsstreit fraglichen Tatsachen rechtlich richtig eingeordnet haben oder ob die Beurteilung des den Beschwerdekammern unterbreiteten Sachverhalts nicht Fehler aufweist. Insoweit ist das Gericht, wenn ein Verfahrensbeteiligter die Beurteilung der Verwechslungsgefahr durch die Beschwerdekammer rügt, wegen des Grundsatzes der Wechselbeziehung zwischen den in Betracht kommenden Faktoren, insbesondere der Ähnlichkeit der Marken und der der erfassten Waren und Dienstleistungen, dazu befugt, die von der Beschwerdekammer vorgenommene Beurteilung der Zeichenähnlichkeit nachzuprüfen. Bei der ihm obliegenden Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung einer Beschwerdekammer des Amtes kann das Gericht nämlich nicht durch eine fehlerhafte Beurteilung des Sachverhalts durch die Beschwerdekammer gebunden sein, soweit diese Beurteilung Teil der Feststellungen ist, deren Rechtmäßigkeit vor dem Gericht bestritten wird.

(vgl. Randnrn. 39, 47-48)

2.        Die Kennzeichnungskraft der älteren Marke, insbesondere ihre Bekanntheit, ist bei der Beurteilung zu berücksichtigen, ob die Ähnlichkeit zwischen den Waren oder Dienstleistungen, die von der älteren Marke und der angemeldeten Marke erfasst werden, ausreichend ist, um eine Verwechslungsgefahr im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke herbeizuführen.

Um das Vorliegen der Identität oder Ähnlichkeit der Waren oder Dienstleistungen zu beurteilen, sind jedoch alle relevanten Faktoren zu beachten, die das Verhältnis zwischen den Waren oder Dienstleistungen kennzeichnen. Zu diesen Faktoren gehören insbesondere deren Art, Verwendungszweck und Nutzung sowie ihre Eigenschaft als miteinander konkurrierende oder einander ergänzende Waren oder Dienstleistungen.

Folglich stellt es keinen Rechtsfehler dar, wenn das Gericht die Waren und Dienstleistungen miteinander vergleicht, ohne diesem Vergleich die Annahme zugrunde zu legen, dass die einander gegenüberstehenden Marken identisch seien und dass die ältere Marke eine Kennzeichnungskraft besitze.

(vgl. Randnrn. 64-65, 67)

3.        Gemäß Art. 225 Abs. 1 EG und Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs ist das Rechtsmittel auf Rechtsfragen beschränkt. Denn für die Feststellung und Beurteilung der relevanten Tatsachen sowie die Beweiswürdigung ist allein das Gericht zuständig. Die Würdigung der Tatsachen und der Beweismittel ist somit, außer im Fall ihrer Verfälschung, keine Rechtsfrage, die als solche der Kontrolle des Gerichtshofs im Rahmen eines Rechtsmittels unterläge. Eine solche Verfälschung muss sich aus den Akten offensichtlich ergeben, ohne dass eine neue Tatsachen- und Beweiswürdigung vorgenommen werden muss.

(vgl. Randnrn. 68-69)

4.        Die umfassende Beurteilung der Verwechslungsgefahr im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke impliziert, dass die begrifflichen Unterschiede zwischen zwei Zeichen die zwischen ihnen bestehenden klanglichen und visuellen Ähnlichkeiten neutralisieren können, wenn zumindest eines der Zeichen aus der Sicht der maßgeblichen Verkehrskreise eine eindeutige und bestimmte Bedeutung hat, so dass diese Verkehrskreise sie ohne Weiteres erfassen können.

(vgl. Randnr. 98)

5.        Für die Beurteilung der Verwechslungsgefahr im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke ist in einem Fall, in dem der Widerspruch auf das Bestehen mehrerer Marken gestützt ist, die gemeinsame Merkmale aufweisen, infolge deren sie als Teil ein und derselben „Markenfamilie“ oder als „Serienmarken“ angesehen werden können, zu berücksichtigen, dass sich die Verwechslungsgefahr bei Vorliegen einer solchen Familie oder Serie daraus ergibt, dass sich der Verbraucher hinsichtlich der Herkunft oder des Ursprungs der von der Anmeldemarke erfassten Waren oder Dienstleistungen irren kann und zu Unrecht annimmt, dass die Anmeldemarke zu der Familie oder Serie von Marken gehört.

(vgl. Randnr. 101)

6.        Wenn ein Rechtsmittelführer die Auslegung oder Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch das Gericht beanstandet, können im ersten Rechtszug geprüfte Rechtsfragen im Rechtsmittelverfahren erneut aufgeworfen werden. Könnte nämlich ein Rechtsmittelführer sein Rechtsmittel nicht in dieser Weise auf bereits vor dem Gericht geltend gemachte Klagegründe und Argumente stützen, so würde dies dem Rechtsmittelverfahren einen Teil seiner Bedeutung nehmen.

Jedoch muss ein Rechtsmittel, wie aus Art. 225 EG, Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs und Art. 112 § 1 Abs. 1 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs hervorgeht, die beanstandeten Teile des Urteils, dessen Aufhebung beantragt wird, sowie die rechtlichen Argumente, die diesen Antrag speziell stützen, genau bezeichnen. Diesem Erfordernis entspricht ein Rechtsmittel nicht, das sich darauf beschränkt, die bereits vor dem Gericht dargelegten Klagegründe und Argumente zu wiederholen oder wörtlich wiederzugeben, aber überhaupt keine Ausführungen speziell zur Bezeichnung des Rechtsfehlers enthält, mit dem das angefochtene Urteil behaftet sein soll.

(vgl. Randnrn. 110-111)

7.        Eine Klage vor dem Gericht ist auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der von den Beschwerdekammern des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) erlassenen Entscheidungen im Sinne von Art. 63 der Verordnung Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke gerichtet. Aus dieser Bestimmung folgt, dass Tatsachen, die die Beteiligten nicht vor den Stellen des Amtes vorgetragen haben, auch im Stadium der Klage beim Gericht nicht mehr vorgetragen werden können.

Aus dieser Bestimmung folgt weiter, dass das Gericht den Sachverhalt nicht im Licht erstmals bei ihm vorgelegter Nachweise neu prüfen kann. Denn die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung einer Beschwerdekammer des Amtes ist anhand der Informationen zu beurteilen, die der Beschwerdekammer im Zeitpunkt des Erlasses dieser Entscheidung verfügbar sein konnten.

Insoweit ergibt sich aus den Art. 61 Abs. 2 und 76 der Verordnung Nr. 40/94, dass die Beschwerdekammer für die Begründetheitsprüfung der bei ihr anhängig gemachten Beschwerde die Beteiligten so oft wie erforderlich auffordert, eine Stellungnahme zu ihren Bescheiden einzureichen, und dass sie auch eine Beweisaufnahme anordnen kann, zu der die Erhebung von Tatsachen und die Vorlage von Beweismitteln gehören können. Art. 62 Abs. 2 der Verordnung Nr. 40/94 sieht weiter vor, dass in einem Fall, in dem die Beschwerdekammer die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Dienststelle zurückverweist, die die streitige Entscheidung erlassen hat, diese Dienststelle durch die Gründe und den Tenor der Entscheidung der Beschwerdekammer gebunden wird, „soweit der Tatbestand derselbe ist“. Diese Bestimmungen belegen ihrerseits die Möglichkeit, dass das Tatsachenmaterial in den verschiedenen Stadien des vor dem Amt geführten Verfahrens angereichert wird. Ein Rechtsmittelführer kann daher nicht geltend machen, dass vor dem Amt nur unzureichende Möglichkeiten der Beibringung von Beweisen bestünden.

Ferner sieht Art. 74 Abs. 2 der Verordnung Nr. 40/94 vor, dass das Amt Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten verspätet vorgebracht werden, nicht zu berücksichtigen braucht. Beweismittel, die beim Amt niemals eingereicht worden sind, sind aber jedenfalls nicht rechtzeitig vorgebracht worden und können deshalb kein Kriterium für die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Beschwerdekammer bilden.

(vgl. Randnrn. 136-141, 143)